Unerwünscht und geflüchtet
International Derzeit gibt es keine Perspektiven im Umgang mit syrischen Geflüchteten in den arabischen Nachbarstaaten
Von Katharina Lenner
Bei politischen Diskussionen um die gegenwärtigen Flucht- und Migrationsbewegungen kommt regelmäßig die Frage auf, aus was für Gründen derzeit immer mehr Menschen versuchen, aus Syrien und den Nachbarstaaten nach Europa zu gelangen. Um das zu kontextualisieren, lohnt es sich, die Dynamiken in den Nachbarstaaten Syriens genauer unter die Lupe zu nehmen. Dabei zeigen sich nicht nur Verbindungslinien zwischen der dortigen Situation und den Bewegungen Richtung Europa, sondern auch Parallelen in Bezug auf Umgangsformen und dominante Diskurse. Gleichzeitig wird klar, dass die Flüchtlingspolitik in Europa und im arabischen Maschrek (1) unterschiedlichen und eigenen Dynamiken folgt. Ich konzentriere mich in diesem Beitrag auf die Situation im Libanon und besonders in Jordanien.
Die meisten leben in den Nachbarstaaten
Der Großteil derer, die vor dem Konflikt in Syrien geflohen sind, ist nicht auf dem Weg nach Deutschland oder anderswo in Europa, sondern lebt weiterhin in den Nachbarstaaten - im Libanon, in Jordanien, der Türkei und dem (Nord-)Irak. Die Zahlen selbst sind ein Politikum; das Hohe Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) und die jeweiligen Regierungen ringen beständig darum, wer als Flüchtling gilt und als solches in die internationalen Hilfsaufrufe einbezogen wird. In Jordanien beispielsweise variieren die Zahlen zwischen 630.000 vom UNHCR registrierten syrischen Geflüchteten und der offiziell durch die Regierung vertretenen Zahl von 1,5 Millionen Syrer_innen im Land, mit oder ohne offiziellen Flüchtlingsstatus.
Unabhängig von der jeweiligen Politik, die derzeit vor allem auf Abschreckung zielt, ist das politische Anliegen von Regierungsbehörden, ständig wachsende Zahlen zu zeigen, um nicht im Vergleich mit den anderen Nachbarstaaten als »weniger von der Flüchtlingskrise betroffen« zu wirken. Die (durchaus berechtigte) Sorge ist, bei sinkenden Zahlen weniger internationale Hilfszahlungen zu bekommen. Aber politische Verhandlungen hin oder her - der Anteil der Geflüchteten an der Bevölkerung macht zwischen zehn und 25 Prozent der Bevölkerung in Jordanien und zwischen 25 und 33 Prozent im Libanon aus. Das lässt die Zahlen derer, die nach Deutschland kommen, nahezu lächerlich erscheinen, und die Argumente der Überforderung zynisch. Selbst wenn die Zahlen von Geflüchteten hierzulande in absoluter Hinsicht im letzten Jahr deutlich gestiegen sind, liegen sie weiterhin bei weit unter einem Prozent der Bevölkerung, und das in einem Land mit viel höherer Wirtschaftskraft und Ressourcen.
Schatten der Vergangenheit
Doch zurück zum Umgang mit Geflüchteten in den Nachbarstaaten Syriens. Aufgrund der zahlenmäßigen Dominanz der syrischen Geflüchteten im Verhältnis zur Gesamtzahl registrierter (wohlgemerkt: nicht-palästinensischer) Geflüchteter konzentriert sich die Diskussion dort nahezu ausschließlich auf sie. Frühere Erfahrungen mit Geflüchteten, vor allem mit Palästinenser_innen und Iraker_innen, stehen jedoch oft im Hintergrund von Entscheidungsprozessen. Das betrifft beispielsweise die Frage des Rechtsstatus. Sowohl Jordanien als auch Libanon haben weder die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 noch das Zusatzprotokoll von 1967 unterzeichnet, die festlegen, wer als Flüchtling gilt und welche politischen und sozialen Rechte die unterzeichnenden Staaten Flüchtlingen garantierten sollten. In Staaten, die diese Konvention nicht unterzeichnet haben, haben Geflüchtete oft keinen gesicherten Schutz und Rechtsstatus.
Offiziell wurde diese Nichtunterzeichnung damit begründet, dass durch die in diesem Zusammenhang vorgesehenen Optionen - »Integration in die Gastländer« oder »Resettlement« - permanente Lösungen etabliert werden könnten, die das Rückkehrrecht palästinensischer Geflüchteter und Vertriebener infrage stellen könnten. De facto hieß das jedoch auch, dass die Regierungen die Verantwortung für das Wohl dieser größten Gruppe von Geflüchteten in beiden Ländern immer wieder von sich weisen konnten.
Dieses Muster hat sich fortgesetzt und betrifft nun auch andere, in der Folgezeit ins Land gekommene Gruppen - derzeit vor allem Syrer_innen. Die libanesische Regierung weigert sich beispielsweise, die vom UNHCR registrierten Syrer_innen als Flüchtlinge anzuerkennen, und spricht von »De-facto-Flüchtlingen«, oder »displaced Syrians«, was Konsequenzen für deren Rechtssicherheit hat. Aber auch andere flüchtlingspolitische Entscheidungen werden durch die Vergangenheit stark beeinflusst. So weigern sich im Libanon bis heute staatliche Behörden, offizielle Flüchtlingslager einzurichten bzw. sie vom UNHCR errichten zu lassen - palästinensische Lager waren hier über Jahrzehnte hinweg stark politisierte Orte, deren Bevölkerung eine wichtige Rolle in den Bürgerkriegen im Land spielte. In Jordanien gab es in diesem Punkt anfangs ebenfalls große Zurückhaltung.
Auch nachdem diese aus anderen Gründen aufgegeben wurde, ist die Frage der Dauerhaftigkeit der in den Lagern errichteten Strukturen weiterhin ein großes Politikum. Zudem hat sich Jordanien weitestgehend geweigert, aus Syrien geflüchtete Palästinenser_innen ins Land zu lassen, um die demografische Balance - über 50 Prozent der jordanischen Bevölkerung sind geschätzt palästinensischen Ursprungs - nicht weiter zu verschieben.
Syrische Geflüchtete als Sündenböcke
Während syrische Geflüchtete anfangs in beiden Staaten relativ bereitwillig empfangen wurden und sich auf grenzüberschreitende familiäre und soziale Netzwerke stützen konnten, hat sich ihre Situation seit etwa einem Jahr immer mehr verschlechtert. Das ist in materieller, aber auch in sozialer Hinsicht der Fall.
Das wird beispielsweise deutlich in Bezug auf Arbeitsmöglichkeiten: In Jordanien und Libanon werden kaum Arbeitsgenehmigungen für syrische Geflüchtete erteilt; formell ist dies zwar möglich, aber die finanziellen und bürokratischen Hürden werden so hoch gezogen, dass es de facto nahezu unmöglich ist, eine Genehmigung zu bekommen. Um sich finanziell über Wasser zu halten - was mit humanitären Hilfszahlungen allein kaum möglich ist - arbeitet jedoch ein Großteil der arbeitsfähigen (männlichen) Syrer.
Die Jobs, die sie übernehmen - in Jordanien hauptsächlich auf dem Bau und im Verkauf von Nahrungsmitteln und einfachen Dienstleistungen - stehen kaum in Konkurrenz zu den Beschäftigungsfeldern jordanischer Arbeitskräfte, die selten in diesen Sektoren arbeiten. Wenn syrische Arbeiter_innen überhaupt in Konkurrenz zu anderen Arbeiter_innen im Land stehen, dann zu ägyptischen, die in ähnlichen Bereichen arbeiten. Dennoch wird in offiziellen Verlautbarungen und in den staatlich kontrollierten Medien beständig das Lied vom Arbeitsplatzklau gesungen.
Dazu kommt das Argument der Ressourcenüberbelastung (Wasser, Strom, Infrastruktur etc.). Dabei ist der Ressourcenverbrauch der oftmals verarmten Geflüchteten viel geringer als der der Restbevölkerung, und die Kosten für den Verbrauch der Ressourcen, zu denen sie angeblich kostenlosen Zugang haben, werden von diversen UN-Behörden getragen. An solchen Beispielen zeigt sich, dass syrische Geflüchtete bewusst zu Sündenböcken für Krisen und Missstände gemacht werden.
Es ist schwer zu sagen, wie viel Resonanz solche Diskurse tatsächlich haben. Ähnlich wie im deutschen Kontext scheint es oft so, dass das umso weniger der Fall ist, je näher die jeweiligen Bevölkerungsteile in Kontakt mit syrischen Geflüchteten stehen. Auch gibt es in beiden Ländern Akteure, die versuchen, diesen Diskursen gezielt entgegenzuarbeiten: Dazu zählen NGOs, unabhängige Medienportale, mehr oder weniger institutionalisierte Initiativen auf lokaler Ebene, die von Syrer_innen und Jordanier_innen gemeinsam getragen werden, und einige wenige Politiker_innen und unabhängige Expert_innen. (2) Diese haben aber nur begrenzte Möglichkeiten, die dominanten Narrative zu verändern.
Politische Verschärfungen
Diese Narrative machen es in jedem Fall leichter, restriktive und entsolidarisierende Politiken durchzusetzen. In Jordanien werden mittlerweile verschärft Regelungen durchgedrückt, beispielsweise in Bezug auf jordanische Sponsor_innen, die es den Geflüchteten formell ermöglichen, ein Camp zu verlassen. Die lang gängige und tolerierte Nichtbeachtung dieser Regelung dient nun dazu, Geflüchtete zu drangsalieren. Zudem wurde die Möglichkeit, so oder anders die Camps zu verlassen, seit Anfang des Jahres fast komplett ausgesetzt.
Parallel dazu wurde im zweiten Teil des Jahres 2014 der bis dahin kostenlose Zugang zu staatlicher Gesundheitsversorgung kostenpflichtig. Solche Maßnahmen zielen offenbar darauf ab, Syrer_innen, die weiterhin zu über 85 Prozent in den größeren Städten des Landes leben, von dort (zurück) in die Camps zu drängen. Dort aber ist es kaum möglich, einen Job zu finden. Hinzu kommt, dass die Hilfszahlungen internationaler humanitärer Akteure aufgrund von Finanzknappheit immer mehr eingeschränkt werden - allen voran die des UN-World-Food-Programme, von dessen Nahrungsmittelgutscheinen viele Geflüchtete stark abhängen.
Die Streichung finanzieller Hilfen trifft in erster Linie die bitterarmen Geflüchteten, die schlicht nicht die Ressourcen oder Netzwerke haben, um die teure Überfahrt nach Europa riskieren zu können. Hier findet eher eine Bewegung zurück nach Syrien statt, die gefährlich und besorgniserregend ist. Für diejenigen, die sich nach Europa aufmachen, ist es eher die Gesamtlage, die ihnen zeigt, dass sie in den Nachbarländern nicht erwünscht sind und es dort für sie kaum eine Perspektive gibt. Diejenigen, die es bis nach Europa und Deutschland schaffen, sind also meistens relativ gebildet und gut vernetzt.
Die wirklichen Fluchtursachen benennen
Die oft erwähnten Kürzungen von Hilfszahlungen selbst stellen also keine direkte Fluchtursache dar - zumindest nicht für die Flucht nach Europa. Der Syrienkonflikt selbst ist der zentrale Grund, der Menschen aus der Region dazu bringt, Syrien zu verlassen oder sie daran hindert, nach Syrien zurückzukehren. Das wird verstärkt durch die sich verschlechternde Gesamtsituation in den Nachbarstaaten. Es ist nicht so, als wäre der Umgang mit Geflüchteten in Jordanien und Libanon sehr viel freundlicher als hierzulande - einige der dominanten Argumente, zum Beispiel bezüglich Arbeitsplatzkonkurrenz, sind rassistischen Diskursen in Deutschland und anderswo unheimlich ähnlich. Diese Zustände können und sollten kritisiert werden. Dies aber zu tun, ohne die wirklichen Konfliktursachen zu thematisieren und politisch anzugehen, oder zugleich über die Belastung hiesiger Ressourcen durch die gestiegene Zahl von Geflüchteten aus der Region zu jammern, wäre blanker Zynismus.
Katharina Lenner wendete sich in ak 558 gegen die dominanten Islambilder und die Vorstellung eines »arabischen Raums«.
Anmerkungen:
1) Politisch ist der Maschrek nicht genau definiert, doch im Allgemeinen werden damit die Länder mit arabischsprachiger Mehrheit östlich von Libyen und nördlich von Saudi-Arabien bezeichnet, im Einzelnen die Staaten Ägypten, Palästina, Israel, Jordanien, Libanon, Syrien und Irak.
2) Einige solcher Stimmen werden in dem Buch »(Syrian) Refugees in Jordan - Alternative Voices« versammelt, das die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Ramallah im November 2015 veröffentlicht, online unter 146.185.164.77/rosaluxemburg.ps/public_html.