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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 610 / 17.11.2015

Leidenschaft und Ideologie

Kultur Pier Paolo Pasolinis Vision eines franziskanischen Kommunismus

Von Klaus Ronneberger

Nicht zu Unrecht bezeichnet der italienische Politologe Giorgio Galli Pasolini als »dissidenten Kommunisten«. Der schwule Schriftsteller und Regisseur bleibt sein ganzes Leben in dem Zwiespalt zwischen der Sehnsucht nach einer neuen, vom Marxismus geprägten Realität und der Passion zum »ursprünglichen Volk« gefangen. Obwohl tief im bürgerlichen Bildungskanon verwurzelt, ist er stets auf der Suche nach dem »Authentischen« und »Andersartigen«.

Unmittelbar nach der Befreiung vom Faschismus entdeckt Pasolini die Schriften Antonio Gramscis für sich. Der marxistische Theoretiker und Mitbegründer des Partito Comunista Italiano (PCI), der 1937 an den Folgen einer langjährigen Gefängnishaft starb, deutete das Risorgimento (1) als eine »passive Revolution« von oben, da die Bauern nicht in die Kämpfe um die nationale Einheit einbezogen worden waren. Er forderte deshalb ein Bündnis des Industrieproletariats mit den Landarbeiter_innen, um ein Gegengewicht zum bürgerlich-faschistischen Italien zu schaffen. Pasolini stimmt nicht nur dieser Analyse zu, sondern versteht das Risorgimento auch als den Beginn eines Homogenisierungsprozesses, der die alten bäuerlichen Kulturen allmählich zerstört.

In der Nachkriegszeit kommt es in ganz Italien zu Landbesetzungen, Zusammenstöße zwischen armen Bauern und der bewaffneten Staatsmacht sind an der Tagesordnung. Unter dem Eindruck des Kampfes friaulischer Landarbeiter_innen gegen die Großgrundbesitzer tritt Pasolini 1947 in den PCI ein. Der Traum von einer revolutionären Erhebung des ländlichen Proletariats scheint für ihn in greifbare Nähe gerückt zu sein. »Der Kampf der Landarbeiter«, so Pasolini in einem späteren Interview, »weckte in mir eine umfassende Sehnsucht nach Gerechtigkeit, zur selben Zeit befriedigte er meine Neigung zur Dichtung.«

Als der Schriftsteller 1950 nach Rom zieht, lernt er bald die borgate, die Elendsviertel am Rand der Stadt kennen. Selbst in ärmlichen Verhältnissen lebend, schlägt er sich instinktiv auf die Seite der Marginalisierten. Es ist die »Primitivität« der Entrechteten, die Spannung zwischen Eros und Gewalt, welche Pasolini fasziniert, das Versprechen des »Lebendigen«, das quer zur Hegemonie der bürgerlichen Kultur steht. Für ihn hinken die »Subproletarier« der allgemeinen Entwicklung nicht hinterher, sondern in ihrem Leben artikuliert sich noch eine Form von »Ursprünglichkeit«, die der Kapitalismus auf anderen gesellschaftlichen Feldern längst beseitigt hat.

Die Protagonisten seiner beiden ersten Romane »Ragazzi di vita« (1955) und »Una vita violenta« (1958) sprechen den römischen Vorstadtdialekt und sind Kleinkriminelle. Sie leben in Barackensiedlungen, schlagen sich mit der Polizei herum und stehen der bürgerlichen Moral feindselig gegenüber. Vor allem in »Ragazzi di vita« haben die Akteure in ihrem Denken und Handeln keinen Platz für die Vergangenheit und die Zukunft, denn in dieser Machismo-Welt zählt nur der Augenblick. Pasolini nimmt die »Antihelden« aus der Historie heraus und versetzt sie gewissermaßen in den Zustand des »natürlichen Daseins«. Seine literarische Praxis, die mit der marxistischen Ideologie im Konlikt liegt, versucht Pasolini im Gedichtzyklus »Gramscis Asche« (1957) zu rechtfertigen. Einerseits werde er vom »hellen Licht« der Aufklärung angetrieben, andererseits fühle er sich dem ursprünglichen »proletarischen Leben« leidenschaftlich verbunden. »Für mich ist seine Fröhlichkeit Religion, nicht sein tausendjähriger Kampf; seine Natur, nicht sein Bewusstsein ...«

Die Ideologie des Konsums

Pasolini beschreibt die fordistische Vergesellschaftung als einen umfassenden Kolonialisierungsprozess. Kein faschistisches Programm habe es je vermocht, die italienische Gesellschaft derartig zu durchdringen wie der »Zentralismus der Konsumgesellschaft«. Zu Zeiten Mussolinis hätten die verschiedenen Volkskulturen (Bauern, Subproletarier und Arbeiter) weiterhin nach ihrer überlieferten Tradition gelebt, nun aber herrsche der Konsens einer konsumistischen Lebensweise. Vor allem mit Hilfe des Fernsehens sei es der Zentralmacht gelungen, das gesamte Land nach ihrem Bilde zu formen. Der Neokapitalismus gebe sich nicht damit zufrieden, die Menschen zu Konsumenten zu formen, sondern dulde keine andere Ideologie als die des Konsums. Jeder stehe unter dem Zwang, sich konform zu verhalten, wenn er nicht als Außenseiter gelten wolle.

Die gesellschaftlichen Folgen des Fordismus setzt Pasolini mit einer »anthropologischen Mutation« gleich: Zum einen beruhten die ideologischen Orientierungen der italienischen Mittelklassen nicht mehr auf »reaktionär-klerikalen« Werten, sondern sie seien von einem »hedonistischen Konsumismus« und einer »modernistischen Toleranz amerikanischer Machart« geprägt. Der Herrschaftsapparat habe durch Überflussproduktion und das Anheizen des Konsums traditionelle Institutionen wie Kirche und Familie zynisch über Bord geworfen. Zum anderen existiere das bäuerliche und frühindustrielle Italien nicht mehr. Damit bestehe ein ideologisches Vakuum, das möglicherweise durch eine konformistische Verbürgerlichung gefüllt werde. Auch wenn Pasolini die Beständigkeit von Institutionen unterschätzt, so antizipiert er doch zutreffend die spätere Berlusconi-Ära.

Seine Polemik gegen den Neokapitalismus spitzt Pasolini mit der Behauptung zu, dass durch die kulturelle »Gleichschaltung« ganze Bevölkerungsgruppen, die bislang außerhalb der Geschichte standen, einem - wenn auch unblutig verlaufenden - »Genozid« zum Opfer fallen würden. Diesen Vorgang macht er auch an dem Verlust der Dialekte fest. Früher hätten vor allem die mittel- und süditalienischen Regionen über lebendige Sprachtraditionen verfügt, die sich ständig erneuerten, heute dagegen seien »die Menschen mundtot gemacht.« Für den Schriftsteller ein substanzieller Verlust an »Wirklichkeit«, da »Italien stets partikularistisch dezentral und konkret - nie zentralistisch oder von oben bestimmt war.«

Kultur der Armut

Wiederholt wehrt sich Pasolini gegen den Vorwurf, eine Idealisierung des alten Italiens zu betreiben. Er sehne sich nicht nach der vergangenen Epoche des italienischen Bürgertums, sondern empfinde Schmerz über den Verlust prämoderner Kulturen. »Es ist diese grenzenlose, vornationale und vorindustrielle Welt, die bis vor wenigen Jahren überlebt hat, der ich nachtrauere (...). Die Menschen dieses Universums erlebten weder ein Goldenes Zeitalter noch hatten sie etwas mit dem guten alten Italien zu tun. Sie lebten das Zeitalter, das Chilanti (2) das Zeitalter des Brots genannt hat. Sie waren Konsumenten von unbedingt notwendigen Gütern. Das war es vielleicht, was ihr armes und prekäres Leben so notwendig machte. Es ist klar, dass überflüssige Güter das Leben überflüssig machen.«

Pasolini kritisiert in diesem Zusammenhang sowohl den kapitalistischen Begriff der »Entwicklung«, der lediglich für Wirtschaftswachstum und Profit stehe, als auch die Fortschrittsgläubigkeit der Marxist_innen. Den italienischen Kommunist_innen wirft er vor, dass sie sich der vorherrschenden Wachstumsideologie angepasst hätten. Am Beispiel des »roten Bologna«, eines Vorzeigemodells des PCI in den 1970er Jahren, artikuliert Pasolini sein Unbehagen: »In dem Moment, wo ich gleichzeitig konsumistische und kommunistische Stadt bin, werde ich zu einer Stadt, die nicht nur keine Alternativen, sondern keine Andersheit, keine Alterität mehr kennt. Ich nehme daher ein mögliches Italien der Zukunft, den Historischen Kompromiss, vorweg, in dem bestenfalls, also im Falle einer effizienten kommunistischen Verwaltungsmacht, die Bevölkerung nur aus Kleinbürgern bestehen würde ...«

Pasolini sieht mit der »konsumistischen Revolution« auch die normativen Grundlagen der christlichen Religion, die auf Werten wie Enthaltsamkeit und Selbstaufopferung beruht, in Auflösung begriffen. Der italienische Katholizismus habe in der Vergangenheit zum Kernbereich der ideologischen Staatsapparate gehört, doch nun verliere der Klerikalismus im Gefolge der neuen Konsumideologie seine vormaligen Kontrollfunktionen. Während der kapitalistische Hedonismus als neue Religion triumphiere, überlebe die Kirche lediglich als Folklore. Pasolini empfindet diese Entwicklung als eine Tragödie, da er im Grunde (Ur-)Christentum und Kommunismus als miteinander identisch auffasst. Sie stellen für ihn die einzigen oppositionellen Kräfte dar, die dem Konsumkapitalismus Widerstand leisten können.

Gegen den obszönen Reichtum des Neokapitalismus spricht sich der Schriftsteller für eine Politik der Agape (griechisch für »interesselose Liebe«) im Sinne einer »Politik der Armut« aus: Sie verteidigt die Rechte der Armen, aber nur, um die Armut als postchristlichen Wert neu zu begründen: »Lasst uns umkehren. Es lebe die Armut. Es lebe der kommunistische Kampf für die lebensnotwendigen Dinge!« Diese Aufforderung will Pasolini nicht als Plädoyer für die von der KP-Führung mitgetragene Austeritätspolitik der italienischen Regierung verstanden wissen. »Ich sage Armut, nicht Elend. Selbstverständlich bin ich selbst zu jedem Opfer bereit. Als Entschädigung würde mir genügen, auf den Gesichtern der Leute wieder das alte Lächeln zu sehen; den alten Respekt vor dem anderen, der auch Selbstrespekt war; den Stolz, das zu sein, was die eigene arme Kultur zu sein lehrte.«

Die Welt ändern!

Pasolini befürchtet zwar, dass mit der »anthropologischen Mutation« eine Unveränderbarkeit der gesellschaftlichen Strukturen droht, gleichwohl besteht für ihn die zentrale Aufgabe der Intellektuellen darin, gegen diese scheinbare Unveränderbarkeit anzukämpfen. Exemplarisch kann man dafür Pasolinis Film »Große Vögel - kleine Vögel« (1966) anführen. In einer Szene schickt der Heilige Franziskus die Brüder Ciccillo und Ninetto aus, um den Vögeln zu predigen. Nach großen Mühen gelingt es ihnen tatsächlich, zuerst den gewalttätigen Falken, dann den demütigen Spatzen, jeweils in ihrer Sprache, das Evangelium nahezubringen. Doch obwohl beide Vogelarten bekehrt sind, tötet der Falke weiterhin den Spatzen. Voller Verzweiflung wenden sich die Brüder an Franziskus. Ciccillo jammert vor sich hin: »Falken sind Falken und Spatzen sind Spatzen ... Nix zu machen, so ist die Welt.« Darauf antwortet Franziskus: »Müssen wir sie eben ändern, die Welt, Bruder Ciccillo: Das habt ihr noch nicht begriffen! Geht hin und fangt von vorne an, Lob sei Gott, dem Herrn!«.

Immer wieder von vorn anfangen, die Welt nie akzeptieren, wie sie ist, gehört zu den zentralen Botschaften Pasolinis. Seine Vision eines franziskanisch inspirierten Kommunismus muss man nicht teilen, aber an der Idee der Gerechtigkeit möchte auch der Autor dieser Zeilen festhalten.

Klaus Ronnebergers Artikel ist ein überarbeiteter Auszug aus seinem Buch »Peripherie und Ungleichzeitigkeit. Pier Paolo Pasolini; Henri Lefebvre und Jacques Tati als Kritiker des fordistischen Alltags«, adocs Verlag, Hamburg 2015, 132 Seiten, 15,80 EUR.

Anmerkungen:

1) Wörtlich »Wiedererstehung«: die Epoche der italienischen Nationenbildung im 19. Jahrhundert.

2) Felice Chilanti, italienischer Schriftsteller, lebte von 1914 bis 1982.