Solidarität zuerst für Deutsche
Diskussion In Krisenzeiten stehen liberal-konservative Historiker zur Nation
Von Thomas Land
Wenn sich Honoratioren der deutschen Geschichts- und Politikwissenschaft in letzter Zeit öffentlich zu Fragen der aktuellen Politik geäußert haben, kam dabei selten etwas Sinnvolles heraus. Man denke an Paul Noltes Beiträge zur Leistungsgesellschaft, Hans-Ulrich Wehlers Äußerungen zu Europa oder die jüngsten Ausführungen von Herfried Münkler über die neue Rolle Deutschlands in der Welt.
In diese Tradition reihen sich nun auch der Osteuropaexperte Jörg Baberowski und der Bürgertumsforscher Manfred Hettling ein. (Siehe Kasten) Im Zuge der Flüchtlingsdebatte verstehen sie sich selbst als die Stimme der Vernunft, die im »Tugendmodell Deutschland« (Baberowski) von einem weltfremden Idealismus unterdrückt werde. Aufgabe einer verantwortungsvollen Politik sei es, so die Historiker, sich am Machbaren und nicht am Wünschbaren zu orientieren.
In der aktuellen Situation bedeute realistisches und vernünftiges Handeln, sich demokratisch nach den in der Bevölkerung vertretenen Überzeugungen und Einstellungen zu richten - und diese seien in Fragen der Solidarität nun einmal national verfasst. Wer eine von staatlichen Grenzen und nationalen Bindungen losgelöste, humanitär begründete Solidarität einfordere, der überfordere das nationale Solidaritätsempfinden und gefährde den sozialen Zusammenhalt.
Die von Baberowksi und Hettling gemachte Beobachtung, dass im Zweifelsfall die Bereitschaft zur Solidarität gegenüber den Mitgliedern der eigenen Nation größer ist als gegenüber den Mitgliedern fremder Nationen, trifft tatsächlich zu. Wer wollte es bestreiten? Und dennoch oder vielleicht gerade deswegen gilt es, ihnen mit Hegel zu entgegnen: »Umso schlimmer für die Wirklichkeit!« Anstatt also die Realpolitik an die nationalen Ressentiments einer Bevölkerung anzupassen, die zwischen berechtigter (»wir«) und unberechtigter (»alle anderen«) Anteilnahme unterscheidet, sollte man im Gegenteil den in der Bevölkerung verbreiteten Nationalismus kritisieren.
Geistiger Überbau von PEGIDA, AfD & Co.
Was aber hat der unreflektierte und häufig latente Nationalismus der Mehrheit der Bevölkerung mit dem elaborierten Nationalismus der Herren Professoren zu tun? Letzterer ist die intellektuell anspruchsvolle, artikulierte Version des ersteren - und genau das macht ihn so gefährlich. Während »auf der Straße« vielfach diffuse Ängste oder platte Vorurteile regieren, liefert der professorale Nationalismus scheinbar kluge - weil historisch begründete - Argumente. Der neue Nationalismus, wie ihn Baberowski und Hettling vertreten, ist damit der geistige Überbau von PEGIDA, AfD & Co. und macht deren Positionen für die »bürgerliche Mitte« salonfähig.
Für Baberowski und Hettling ist die Nation ein Solidaritätsbündnis. Nationalbewusstsein dürfe man aktuell nicht mehr im Sinne einer völkisch-ethnischen Zugehörigkeit missverstehen, die auf realer oder imaginierter Abstammung beruht. Die nationale Identität - so locker kommt der neue Nationalismus daher - sei lediglich das Ergebnis gemeinsamer Erfahrungen (was sogar den Konflikt der Mitglieder untereinander einschließt). Das gemeinsam Erlebte innerhalb der »Schicksalsgemeinschaft« (Hettling) forme eine historisch gewachsene Handlungseinheit, aus der sich das nationale Solidaritätsempfinden speise.
Beim Übergang von der Volks- zur Erfahrungsgemeinschaft wird die alte Kategorie der biologischen Abstammung (»Blut«) lediglich durch eine andere, nicht minder fragwürdige Kategorie (gemeinsame Erfahrung) ersetzt. Dabei werden in modernen Gesellschaften auch gemeinsam gemachte Erfahrungen milieu- oder gruppenspezifisch sehr unterschiedlich verarbeitet. Baberowskis Befürchtung, dass mit der Integration von Flüchtlingen das gemeinsame kulturelle Fundament verloren gehe, das »uns zum Einverständnis über das Selbstverständliche ermächtigt«, ist keine Dystopie, sondern der Normalfall pluralistischer Gesellschaften. Der Zustand, in dem »uns mit vielen Menschen nichts mehr verbindet, wenn wir einander nichts mehr zu sagen haben, weil wir gar nicht verstehen, aus welcher Welt der andere kommt und worin dessen Sicht auf die Welt wurzelt« (Baberowksi), besteht schon längst.
Die ideologische Funktion nationalen Denkens
Die bloße Teilnahme an einem Ereignis macht noch lange keine Gemeinschaft. Wäre dem so, müsste spätestens die global geteilte Erfahrung von »9/11« eine solidarische Weltgemeinschaft hervorgebracht haben. Das Selbstverständnis, sich als Teil einer Nation zu betrachten, ergibt sich nicht einfach durch zum Beispiel die bloß zufällige Anwesenheit beim Public Viewing. Erst die nationale Interpretation macht aus einem an sich sinnlosen Geschehen ein nationales Ereignis. Nationalbewusstsein ist immer das Resultat einer aktiven, begründeten Zustimmung zur Nation (wie schlecht diese Gründe auch immer sein mögen).
Neben der illusorischen Begründungsstruktur hat das nationale Denken auch eine ideologische Funktion. Mit dem Konzept der Nation sollen sich die Staatsbürger_innen die existierende Konkurrenzgesellschaft als solidarische Gemeinschaft vorstellen. Dem nationalen Erfolg müssen sich alle unterordnen; schließlich sitzen »wir« alle im selben Boot. Dass die einen dabei erster Klasse reisen, während die anderen rudern, wird zur Nebensache, wenn es darum geht, nach außen als potente Einheit aufzutreten. Im globalen Maßstab streitet man schließlich mit anderen »Wirs« um Reichtum und Macht.
Der Erfolg der einen ist dabei das Elend und Leid der anderen. Die weltweiten Migrations- und Fluchtbewegungen sind der unmittelbare Ausdruck dieses Zusammenhangs. Diesen auszublenden, ist naiv. Zynisch ist es aber, wenn das Konzept der Nation, das die Menschheit in Form von Nationalstaaten gegeneinander antreten lässt, von den Gewinnernationen als Legitimation angeführt wird, um sich von genau den Verlierer_innen abzuschotten, die man selbst mitproduziert hat.
Thomas Land lebt in Leipzig und promoviert an der Uni Halle zur Geschichte des Konzepts der Zivilgesellschaft.
Die FAZ-Debatte
Jörg Baberowski, Professor für die Geschichte Osteuropas an der Berliner Humboldt-Universität und zurzeit wohl medienwirksamster Historiker in Deutschland, kritisierte in der FAZ vom 14. September die Flüchtlingspolitik Angela Merkels dafür, sich lediglich an Moral und Tugend zu orientieren. Wer eine ungesteuerte Einwanderung befürworte, setze den sozialen Frieden auf Spiel. In ihrer Replik vom 2. Oktober warfen die Migrationshistoriker Jannis Panagiotidis, Frank Wolff und Patrice Poutrus den Ausführungen Baberowskis eine ahistorische Betrachtungsweise vor: Wann genau soll dieser Zustand des sozialen Zusammenhalts existiert haben? Gegen Baberowski verwiesen sie auf das historische Vorbild der erfolgreichen Integrationserfahrungen der BRD in den 1950ern sowie Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre. Den Vergleich zwischen den aktuellen und den vergangenen Integrationserfahrungen wies der Historiker Manfred Hettling (Uni Halle) am 20. Oktober zurück: Die frühere Integration sei nur deshalb gelungen, weil die Migrant_innen von damals Mitglieder einer gemeinsamen Nation gewesen seien.