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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 610 / 17.11.2015

Meinung

Willkommensweltmeister dürfen das

Ob in Frankreich oder unter linken Aktivist_innen in Indien: Die Welt ist begeistert von Deutschland. Die Selbstprofilierung als »Willkommensweltmeister« und »Flüchtlingshelfer_in« hat vor allem einen Effekt: Sie übertönt die Gesetzesverschärfungen und die Repressionspolitik gegen Migrierende sowie die Hasstiraden und gewaltsamen Übergriffe »besorgter Bürger_innen«. Regierungspolitik und Rechte haben den öffentlichen Migrations- und Asyldiskurs nach rechts verschoben und dabei alles zertrampelt, was Geflüchteten- und Migrationsproteste in den letzten Jahren aufgebaut, umformuliert, neu gesetzt, erkämpft haben.

Ein Diskurs ist dann wirkmächtig, wenn Widersprüche so miteinander zu verknüpfen sind, dass sie nicht mehr als sich gegenseitig ausschließend erscheinen. Der aktuelle Mainstreamdiskurs ermöglicht die Legitimation verschärfter Asyl- und Migrationspolitik. Ein »Willkommensweltmeister« kann vermeintlich gerecht beurteilen, wer »gute Flüchtlinge« sind - und wer »Asylschmarotzer_in«. Flüchtlingsfreund_innen dürfen abschieben. Das Aufnahmeangebot für die einen wird zur Ausweisung der anderen genutzt - teile und herrsche. Eine altbekannte (koloniale) Herrschaftsstrategie. Genau an dieser Stelle muss linke Politik sich verhalten und darf sich nicht einschläfern lassen.

Natürlich gibt es in dem politisch zur Schau gestellten Willkommensszenario auch gute und ehrliche Momente. Wenn beispielsweise Björn (17) und Hildegard (57) aus Ebersreuterbachlingen Wasserflaschen an Geflüchtete verteilen, finden darin auch Begegnungen statt, die vieles in Bewegung setzen können. Einstellungen und Zugänge können sich ändern, schließlich muss man nicht alles nach dem linken Szenehandbuch angehen. Nur dürfen wir auf keinen Fall wieder zum altbekannten Hilfediskurs zurückkehren - und hier meine ich vor allem die deutsche, weiße Linke. Sie kann nicht ignorieren, wie die Kämpfe der Migration der letzten Jahre in Deutschland linke Praktiken in punkto Sprecherpositionen und Selbstermächtigung verändert, oder welche Veränderungen sie zumindest gefordert haben.

Betrachtet man die aktuellen Gesetzesbeschlüsse, erscheinen diese geradezu anachronistisch: Rückkehr zu Sachleistungen, Sammelunterkünfte statt dezentrales Wohnen, Schnellabschiebeverfahren, innereuropäische Grenzkontrollen und weitere Exterritorialisierung europäischer Grenzen statt Bewegungsfreiheit. Die meisten linken Gruppen haben in den letzten Jahren weder Anschluss an die Geflüchtetenproteste gefunden noch gesucht - und letzteres ist das Drama, das sich nun rächt: Es gibt keine starke Basis für Widerstand gegen die aktuellen Menschen zerwalzenden Gesetzeskatastrophen. Die linken »Großgruppen« haben die neuen Kämpfe der Migration seit 2012 nicht als Möglichkeit erkannt und angenommen, die eine Perspektive auf Gesellschaft und gesamtgesellschaftliche Transformation als solche bieten. Vielmehr hat man sie als partikulare, von der »eigentlichen« eigenen Politik abgetrennte Kämpfe verhandelt.

Gegenwärtige Aktionen linker Gruppen und ihre politischen Deutungen rechnen die Geflüchtetenproteste als Referenzpunkte heraus. Damit drohen sie zum Hilfediskurs zurückzukehren und andere Menschen zu Statist_innen ihrer eigenen Geschichten zu machen. (Siehe etwa den Artikel über die Fluchthilfekonvois in ak 609) Tatsächlich haben uns die Kämpfe der Geflüchteten in den letzten Jahren jedoch indirekt mit dem altbekannten Slogan »Alles für Alle« auf radikale Weise neu konfrontiert. Durch eine Politik der Selbstermächtigung, der Aneignung und permanenten Sichtbarkeit haben sie gezeigt, wie linke Politik zur radikalen Alltagspraxis werden kann - auch wenn nicht alles rund gelaufen ist. Sie haben eine Krise oder zumindest Irritation herrschender Politik provoziert und somit Risse produziert, die zu größeren Bruchstellen hätten ausgeweitet werden können.

Warum wollen sich so viele deutsche linke Gruppen nicht aus ihrem Rhythmus bringen lassen? Was bedeutet es für die politische Praxis, wenn Menschen, mit denen man gemeinsam kämpft, in fundamentaler Existenznot sind, wenn nicht alle einen Schlafplatz und Essen haben, nicht alle lernen und studieren dürfen, nicht alle bleiben dürfen? Was, wenn nicht alle im gleichen Land sozialisiert wurden, nicht alle aus einem ähnlichen politischen Umfeld kommen? Diesen Fragen darf die radikale Linke nicht ausweichen. Wir erleben gerade eine Transnationalisierung und Solidarisierung der Kämpfe gegen Ausbeutung und Rassismus. Wir können nicht in alten Politikmustern verharren. Eine selbstkritische Neubetrachtung der eigenen Politik ist nötig, um mit dem »Sommer der Migration« möglicherweise zu einem zweiten Frühling eines gemeinsamen Widerstands zu kommen.

Chandra-Milena Danielzik