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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 611 / 15.12.2015

Die große Erfassung

Geschichte Die heute an Geflüchteten vorgenommenen Registrierungsprozeduren wurden einst an Bettler_innen ausgetestet

Von Anton Tantner

Werden heutzutage Flüchtlinge als bedrohliche Menschenmasse betrachtet, die mal als »Welle«, mal als »Strom«, mal gar als »Flut« Wohlstand und Sicherheit der EU-Bürger_innen gefährdet, so galten zu Beginn der Neuzeit ähnliche Ängste den Bettlerinnen und Bettlern, die enteignet von Grund und Boden vom Land in die Städte wanderten, auf Flucht vor Hungersnöten und Krieg.

Die Maßnahmen, die sich die Behörden der Städte und der entstehenden Staaten einfallen ließen, um die Armen zu verwalten und zu bekämpfen, entbehrten nicht des Einfallsreichtums: Als einheimisch klassifizierte Arme wurden mit einem Bettlerzeichen oder einem eigenen Kleidungsstück versehen und waren damit zum Betteln berechtigt, wer als arbeitsfähig galt, wurde zuweilen zur Zwangsarbeit in den neu geschaffenen Arbeitshäusern verpflichtet: Derlei Männer mussten im 1696 eröffneten Amsterdamer »Rasphuis« Farbholz raspeln, Frauen im entsprechenden »Spinhuis« Garn spinnen; das frühe Bürgertum war stolz auf diese Einrichtungen, wovon die prachtvollen Gruppenporträts deren Verwalter_innen - sogenannte Regentenstücke - in den Gemäldesammlungen ein Zeugnis ablegen.

Pech nur, dass solche Arbeitshäuser in der Regel ökonomisch gesehen ein Misserfolg waren, sie brachten zu wenig ein und kosteten mehr, als sie Einnahmen generierten. Die Grenzen zu Gefängnissen, Spitälern oder Irrenanstalten waren ohnehin fließend, in den spektakulärsten Bauten - in Paris das Hôpital général, in Wien das Große Armenhaus, in Neapel der Albergo dei Poveri - waren tausende infame Menschen interniert, neben Bettler_innen wurden dort Landstreicher_innen, Müßiggänger_innen, Prostituierte, Sieche und Kriminelle zu Opfern eines Prozesses, den Michel Foucault in seinem Werk »Wahnsinn und Gesellschaft« als »grand renfermement«, als »große Einsperrung« bezeichnete.

Die große Einsperrung der Infamen

Eine weitere Maßnahme waren Abschiebungen und Deportationen: Mittels eigens veranstalteter Streifen und Razzien wurden nichtsesshafte Personen aufgegriffen und entweder zwangsweise in ihre Herkunftsgemeinden zurückverfrachtet oder in neu zu bevölkernde Gebiete deportiert. So erlangte im 18. Jahrhundert in der Habsburgermonarchie der »Temesvarer Wasserschub« traurige Berühmtheit: Ein knappes Vierteljahrhundert lang wurden tausende unliebsame Personen, darunter auch Wilderer_innen, Schmuggler_innen, Roma und aufsässige Bauern und Bäuerinnen die Donau hinab nach Siebenbürgen verschickt, wo vielen von ihnen ein früher Tod beschieden war, während andere umgehend versuchten, wieder zurückzukehren und damit auch erfolgreich waren. Nach den Worten des Historikers Stephan Steiner handelte es sich dabei um »die längste institutionalisierte Deportationsmaßnahme (...), die jemals in Mitteleuropa stattgefunden hat«. Sie stieß ob ihrer Grausamkeit und Ineffizienz sowie wegen des enormen finanziellen Aufwands schon zeitgenössisch auf Kritik und wurde 1768 eingestellt.

Bis in die Gegenwart reichen die Nachwirkungen einer weiteren Maßnahme, die angesichts der Armen vonseiten der Behörden ergriffen wurde: Die Identitätsfeststellung in papiernen Registern. Die heute üblichen Identifizierungstechniken, seien sie staatlicher oder privater Art - erst vor Kurzem bot Facebook den US-Behörden an, ein digitales Identitätssystem zu schaffen (FAZ, 6.5.2014) - gehen auf ganz unterschiedliche Praktiken zurück, die nicht zuletzt in den Sphären von Kirche und Militär entwickelt wurden, doch ein Entwicklungsstrang verläuft auch über die Registrierung der Bettler_innen. Für deren Unterscheidung in heimische und fremde, falsche und wahre, würdige und unwürdige brauchte es Aufschreibesysteme, die die Identität der Person garantieren sollten, sei es, um sie dauerhaft abschieben zu können oder aber ihr Unterstützungen zukommen zu lassen.

Der Datenhunger der Sozialpolitik

So forderte kein anderer als Martin Luther im Jahr 1528 im Vorwort des von ihm herausgegebenen »Liber vagatorum«, einer Zusammenschau von Bettlertypen und ihren Praktiken, die Städte und Dörfer dazu auf, »register« der Armen zu führen, während zwei Jahre zuvor der in Brügge lebende Gelehrte Juan Luis Vives in seinem einflussreichen Werk »De subventione pauperum« ein ganzes Kapitel der »Sammlung und Registrierung der Armen« widmete: Bei Armen mit festem Wohnsitz sollten die Nachbar_innen nach deren Lebenswandel und Sitten befragt werden, bei denen ohne feste Bleibe sollten Namen, Gesundheitszustand und Grund ihrer Armut erfasst werden, aber bitte »unter freiem Himmel oder auf einem Platz, damit dieses Geschmeiß nicht in den Sitzungssaal hereinkommt« - Humanisten können ganz schön rabiat werden.

Es waren Vorschläge dieser Art, die zu einer Reihe von Bettlerzählungen führten, zu Hausbeschreibungen, zu oft vergeblichen Versuchen, Melderegister zu etablieren, alles Maßnahmen, die schleichend von der ursprünglich betroffenen Personengruppe auf die Gesamtbevölkerung ausgedehnt wurden und letzten Endes auch zur Entstehung heutiger Pässe und Personalausweise beitrugen.

Nicht nur der »War on Terror«, auch Sozialpolitik ist demnach gierig nach Daten und Dokumenten. Im britischen Fall zum Beispiel brachte schon die Schaffung des Wohlfahrtsstaats unter Labourregierungen eine bis dahin nicht gekannte Anhäufung von Informationen über die eigene Bevölkerung mit sich. In heutigen Kontrollgesellschaften radikalisiert sich diese Entwicklung noch; welche Daten von wem erhoben werden, wer in diese Einsicht hat, über ihre etwaige Löschung entscheidet und zu welchen Zwecken sie dienen, liegt auch an politischen Aushandlungsprozessen und Kämpfen.

Der Historiker Anton Tantner sprach in ak 586 über die Überwachung vor Internet und Glasfaserkabel.