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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 611 / 15.12.2015

Aufgeblättert

Selbstbestimmung

Wenn sogenannte Lebensschützer jährlich Tausende zum »Marsch für das Leben« auf die Straße bringen, ist es notwendig, sich dem Thema Pränataldiagnostik (PND) aus linker feministischer Perspektive zuzuwenden. Kirsten Achtelik verweist in ihrem gründlich recherchierten Buch auf die gegenwärtig marginale linke Diskussion rund um PND, sie behandelt die Kämpfe um das Recht auf Abtreibung und die Anliegen der Behindertenbewegung. Damit trägt sie zur Belebung der von ihr geforderten Debatte ausführlich bei. Sichtbar werden die historischen Kämpfe von Frauen- und Behindertenbewegung, Aktionen gegen den §218, Kritik an diesem Paragrafen aus behindertenpolitischer Sicht, Proteste gegen Gen- und Reproduktionstechnik ab den 1980er Jahren bis heute. Dabei streift die Autorin theoretische Eckpunkte wie das eugenische Denken im 19. Jahrhundert und zur NS-Zeit, die Etablierung von PND und deren normativ aufgeladenen, behindertenfeindlichem Folgen für Schwangere sowie die Kritik an dem in den 1990ern populären Bioethiker Peter Singer. Ihr gelingt es, Auseinandersetzungen, Gemeinsamkeiten sowie Spannungen zwischen den Bewegungen verständlich aufzuzeigen und deren Verbindung rund um das Prinzip der Selbstbestimmung auszuloten. Im Schlusskapitel greift sie aktuelle bewegungspolitische Entwicklungen auf und formuliert daraus differenzierte Vorschläge eines Verständnisses von »Selbstbestimmung ohne Selektion« - der stärkste Teil ihres lesenswerten Buches.

Jessica Schülein

Kirsten Achtelik: Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung. Verbrecher Verlag Berlin, 2015. 224 Seiten, 18 EUR.

Kindliche Sexualität

Inwieweit können Kinder Liebe empfinden, und wie steht es mit der Entwicklung ihrer Sexualität? Diesen Fragen geht die Autorin Ulrike Heider mittels 13 Interviews mit Menschen im Alter zwischen 30 und 80 Jahren nach. Sie befragte sie zu ihren Erinnerungen an die ersten romantischen Gefühle, Fantasien und gelebte Sexualität vor ihrem 13. Lebensjahr. Die Erinnerungen zeigen, dass Sexualität Kindern nicht von außen und unter Zwang aufgedrängt wird, sondern sie vielmehr von sich aus schon sexuelle Wesen sind. Eingeleitet werden diese Erzählungen von einem Essay, in welchem die Autorin das Thema Liebe und Sexualität bei Kindern historisch nachzeichnet. Darin wird deutlich, dass der Umgang mit diesem Thema schon immer umkämpft war. Beispielsweise wurden Liberalisierungstendenzen, wie sie sich in den 1970er Jahren gesamtgesellschaftlich durchsetzen konnten, danach durch einen wachsenden Sexualkonservatismus wieder zurückgedrängt. Heute werden, angeheizt von Debatten um Kindesmissbrauch und Kinderpornografie, traditionelle Vorstellungen von einer ungesunden und schmutzigen Sexualität, vor der die reine und asexuelle Kinderwelt geschützt werden müsse, gesellschaftlich wieder zunehmend virulent. So lassen sich die zum Teil sehr bewegten Biografien der Interviewten auch als Plädoyer gegen diesen wachsenden Konservatismus lesen. Zugleich liefern sie spannende individuelle Einblicke in Erziehungs- und Moralvorstellungen verschiedener Generationen.

Moritz Strickert

Ulrike Heider: Die Leidenschaft der Unschuldigen. Liebe und Begehren in der Kindheit - Dreizehn Erinnerungen. Bertz + Fischer Verlag, Berlin 2015. 204 Seiten, 17,90 EUR.

Umweltaktivismus

Ausgehend von einer Kritik der imperialen Lebensweise zeichnet Christof Mackinger ein Kaleidoskop radikaler ökologischer Bewegungen der letzten 40 Jahre. Der Fokus seines schmalen Bändchens »Radikale Ökologie« liegt dabei auf Organisationsformen von unten und dem Prinzip der direkten Aktion. Der Autor gibt einen guten Überblick vor allem über die radikalökologischen Bewegungen und Aktionsformen im angloamerikanischen Raum - dort, wo auch ihre Geburtsstunde auszumachen ist und wo sie nach wie vor am stärksten sind. Aber auch Bewegungen in Deutschland kommen nicht zu kurz. Der Bogen der behandelten Themen reicht von Atomkraft über Gentechnologie bis hin zu aktuellen Widerständen gegen Fracking. Mackinger stellt dabei gut nachvollziehbar nicht nur die verschiedenen Akteur_innen vor, sondern auch deren unterschiedliche Methoden und Kampfformen, die auch schon mal zu Brüchen und Spaltungen führen können. Positiv ist anzumerken, dass Mackinger auch die Kritik an den »dunklen« Seiten mancher Organisationen des radikalen Ökoaktivismus (wie z.B. Rassismus oder Anti-Abtreibungs-Ideologien) nicht ausklammert. Etwas zu kurz kommt leider die Verknüpfung radikal ökologischer und anderer sozialer Bewegungen. Angesichts des geringen Umfanges der Unrast-transparent-Bände wäre dies aber wohl nur zu Lasten der Vorstellung unterschiedlicher Bewegungs- und Aktionsformen gelungen. Und um die soll es ja hauptsächlich gehen.

Martin Birkner

Christof Mackinger: Radikale Ökologie. Unrast Verlag, Münster 2015. 88 Seiten, 7,80 EUR.

Antiziganismus

Wolfgang Wippermanns Buch »Niemand ist ein Zigeuner. Zur Ächtung eines europäischen Vorurteils« erscheint zum richtigen Zeitpunkt. Im politischen und medialen Mainstream ist Antiziganismus, die Feindschaft gegen Sinti und Roma, fest verankert. Derzeit artikuliert er sich auch in der Agitation gegen die »Balkanflüchtlinge«, die keineswegs politisch verfolgt, sondern überwiegend »Sozialtouristen« seien. Nach Umfragen lehnt fast die Hälfte der Deutschen das Zusammenleben mit Sinti und Roma grundsätzlich ab. Wippermann, ausgewiesener Kenner der Materie, zeigt, wie diese Feindschaft über Jahrhunderte geschürt wurde. Den heutigen europäischen Antiziganismus bezeichnet er als eine »Ideologie, die aus sozialen, religiösen, romantisierenden und rassistischen Elementen besteht«. Er sieht aber auch Fortschritte, die allerdings hart erkämpft werden mussten. So setzt sich auch die Einsicht durch, dass Porrajmos, der nazistische Völkermord an den Sinti und Roma, mit der Shoah vergleichbar (wenn auch nicht gleichzusetzen) ist: Beide Völkermorde waren »intendiert und rassistisch motiviert«. Damit entfällt auch die Begründung dafür, dass den überlebenden Sinti und Roma jahrzehntelang Entschädigungen verweigert wurden. Die heute in mehreren europäischen Ländern - darunter Ungarn, Bulgarien, Rumänien, Tschechien und die Slowakei - besonders diskriminierten Roma, die nach Deutschland kommen, sollten nicht diffamiert, sondern willkommen geheißen werden.

Daniel Ernst

Wolfgang Wippermannn: Niemand ist ein Zigeuner. Zur Ächtung eines europäischen Vorurteils. edition Körber-Stiftung, Hamburg 2015. 251 Seiten, 17 EUR.