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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 611 / 15.12.2015

Nous sommes Abendland

War on Terror Nach den Anschlägen von Paris läuft die Ideologieproduktion auf Hochtouren

Von Sara Madjlessi-Roudi

Seit den Anschlägen in Frankreich Anfang November ist ein Slogan überall zu hören: »Nous sommes Paris«, wir sind Paris. Während Merkel gleich nach den Anschlägen davon sprach, dass »wir« Europäer_innen »unsere Werte« im Kampf gegen den Islamismus bekräftigen und verteidigen müssen, rufen Politiker_innen, Journalist_innen und Prominente landesweit in Medien zur Solidarität mit Frankreich auf. Auch in den sozialen Netzwerken wird massenhaft Solidarität bekundet: Viele Nutzer_innen hinterlegen ihr Profilbild in den französischen Nationalfarben. Frank Lübbeding stellte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) fest, nicht nur Frankreich, sondern das gesamte Europa sei »ins Mark getroffen«. Die Idee einer geeinten und geschlossenen Staatengemeinschaft hat wieder Konjunktur.

Auffällig ist, dass diese Bezugnahme auf eine europäische Identität sowie die Idee eines europäischen Wertesystems in vorangegangenen politischen Debatten deutlich weniger hervorgehoben wurde. Werfen wir beispielsweise einen Blick auf die medialen Debatten nach den Al-Qaida-Attentaten in Madrid und London in den Jahren 2004 und 2005, bei denen ebenfalls zahlreiche Menschen ermordet wurden: Zwar waren auch in Folge dieser Attentate zahlreiche Beileidsbekundungen aus ganz Europa zu hören, der Verweis auf eine europäische Identität war jedoch bei weitem nicht so stark wie der nach den Anschlägen in Paris. Selbst nach den Attentaten gegen Charlie Hebdo im Januar diesen Jahres waren die Rufe nach einem europäischen »Wir« deutlich leiser. Was macht dieses europäische »Wir«, von dem in der Debatte so häufig die Rede ist, aus? Warum werden gerade jetzt die europäischen Werte und ein geeintes Europa heraufbeschworen?

Der kleinste gemeinsame Nenner in Zeiten der Krise

Wer die mediale Debatte nach den Anschlägen in Paris noch einmal Revue passieren lässt, wird schnell feststellen, welche Ideen mit Europa verknüpft werden. Im Leitartikel des Spiegels spricht der stellvertretende Chefredakteur Dirk Kurbjuweit von europäischer Freiheit, einem europäischen Lebensgefühl und europäischen Werten, die die einzelnen Staaten miteinander verbinde. Der Einheitsgedanke sei in den vergangenen Jahren in den Hintergrund getreten, er müsse wiederbelebt werden.

Dieses Europa, das bedeutet in der aktuellen Debatte: aufgeklärt, demokratisch, fortschrittlich, frei. So schreibt beispielsweise die FAZ-Autorin Schmidt in der Artikelreihe »In Zeiten des Terrors«: Die europäische Gesellschaft begegne »dem Terror zu Recht mit Trotz, mit der Demonstration christlicher und westlicher Werte, mit dem Hochhalten der Freiheit«. Hier scheint sie durch, die Vorstellung eines starken westlichen Selbst, eines Europa als zivilisatorischer Sperrspitze globaler Entwicklung. Auch in der aktuellen Debatte rund um die Themen Migration und Asyl finden sich die Bezüge zur propagierten europäischen Identität: Migrationsbewegungen gelten als positiv, wenn sie die Idee eines weltoffenen und kulturell »bunten« europäischen Selbst stützen und wenn sie als ökonomisch nützen erachtet werden können.

Bestehen kann die Idee europäischer Identität nur durch Abgrenzung zum Außereuropäischen, zu einem nichteuropäischen Wertekonsens. »Unser« rationales, tolerantes und lebensfreudiges Europa steht dem islamistischen Terror und Nihilismus gegenüber. Gegen diesen muss die geeinte wehrhafte Staatengemeinschaft vorgehen. Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union haben die Bezugnahme europäischer Identität in ihrer Stellungnahme nach den Anschlägen auf den schlichten Satz »Das Gute ist stärker als das Böse« heruntergebrochen. Europa ist stark und verteidigt seine Werte. Im Sinne Samuel Huntingtons wird von einem westlichen Kulturkreis gesprochen, der abgeschlossen »dem Bösen« gegenübersteht. Der konservative Politikwissenschaftler Huntington sorgte in den 1990er Jahren für Furore, als er die Welt in sieben »Kulturkreise« einteilte und die These aufwarf, dass diese Kulturen unweigerlich miteinander in Konflikt geraten müssen. So platt und offensichtlich krude diese rhetorische Teilung der Welt auf den ersten Blick erscheinen mag, so wirksam ist sie auch in Bezug auf die Stärkung einer europäischen Identität. Das Innere entsteht durch die Abgrenzung zum Äußeren.

Die geführte Debatte findet nicht im luftleeren Raum statt, sondern muss vor dem Hintergrund der zerrütteten Lage Europas bewertet werden. Politische Uneinigkeiten der einzelnen Staaten in Fragen von Grenz-, Flüchtlings- und Finanzpolitik in jüngster Vergangenheit und die offensichtliche deutsche Dominanz haben dem Projekt deutliche Risse zugefügt. Medien debattierten in den vergangenen Monaten, inwiefern vor dem Hintergrund zahlreicher Einzelinteressen der Mitgliedsstaaten überhaupt noch von einer Gemeinschaft gesprochen werden kann. Wie ein ideologischer Kitt wirkt da der aktuelle positive Bezug auf gemeinsame Werte in Zeiten des krisengeschüttelten Europas. Offensichtlich ist jedoch, dass er Stabilität und eine ideologische Basis für ein gemeinsames Handeln schaffen kann.

Die aktuellen Entscheidungen zum Ausbau europäischer Sicherheitspolitik und der militärischen Intervention in Syrien sind Zeugnis dieser Entwicklung. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen verwies auf die Anschläge in Paris, die Solidarität mit Frankreich und das EU-Bündnis, um zu betonen, Deutschland müsse entschlossener gegen den Terror vorgehen. Das sieht nicht nur sie so: Eine Mehrheit der Bevölkerung steht Infratest Dimap zufolge hinter dem Bundeswehreinsatz. Die abschließende Entscheidung des Bundestags zum Bundeswehreinsatz wäre ohne die ideologische Absicherung innerhalb der Bevölkerung nicht so einfach durchzusetzen gewesen. Diese wird jedoch benötigt, um politisch auch zukünftig herrschaftsfähig zu sein. Eine linke Kritik an der EU und Europa kommt also nicht umhin, die Frage europäischer Identität wieder stärker ins Zentrum ihrer Analyse mit einzubeziehen.

Sara Madjlessi-Roudi ist Redakteurin bei kritisch-lesen.de und beschäftigt sich mit deutscher Außenpolitik, postkolonialer Theorie und Protestbewegungen.