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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 611 / 15.12.2015

Herkules-Arbeit des Trauerns

Deutschland In dem Buch »Trauer um Deutschland« versammelt Argyris Sfountouris Reden und Aufsätze sowie Fotos und historische Schriftstücke

Von Tina Gericke

Argyris Sfountouris ist einer der Überlebenden des Massakers im griechischen Dorf Distomo. Am 10. Juni 1944 ermordeten deutsche SS-Soldaten 218 Menschen, darunter auch Argyris' Eltern und 28 seiner Verwandten. Durch seinen Auftritt in der ZDF-Sendung »Die Anstalt« erlangte er in diesem Jahr bundesweit Aufmerksamkeit. Doch schon seit 1993 kämpft er auf unterschiedlichen Ebenen für die Richtigstellung der geschichtsfälschenden Darstellungen der Ereignisse, für die Verurteilung der Taten und für ein menschenwürdiges Gedächtnis an die Toten und Überlebenden. (ak 602 ) Auf juristischer Ebene ist daraus längst ein Kampf um »Menschenrechte für die Opfer der Kriege« geworden. (ak 608)

»Trauer um Deutschland«, so lautet der Titel seines Buches, das nun auf Deutsch erschienen ist. Er vermag zu irritieren: Wieso um Deutschland, das Land der Täter, trauern? Geht es doch um die Trauer um die 218 Ermordeten und die Überlebenden von Distomo und darüber hinaus um die Tausenden von Ermordeten während der Besatzungszeit und um die verweigerte Anerkennung dieser Kriegsverbrechen.

»Die Trauer um Deutschland hat sich schon früh bei mir eingestellt, vor allem aber mit der abweisenden Haltung der deutschen Bundesbehörden aus Anlass der Friedenstagung von Delphi im Jahr 1994«, schreibt Sfountouris. Diese hielten es damals nicht für nötig, überhaupt auf die Einladung zu reagieren. Das Buch versammelt Reden und Aufsätze sowie Fotos und originale, historische Schriftstücke, die ob ihres gewaltförmigen Charakters und der infamen Leugnungen der Kriegsverbrechen durch die damaligen Bundesregierungen noch im Jahr 1994 fassungslos machen. Es dokumentiert die unternommenen Anstrengungen, die Mühen des immer wieder zu wiederholenden Ansprechens, Aufklärens, Einforderns und Anklagens gegen alle Widerstände. Vor allem aber lässt es die Lesenden nicht allein in dieser Fassungslosigkeit über die historischen Ereignisse und die andauernde Missachtung der Opfer und der Überlebenden, sondern eröffnet eine Perspektive, aus der ein gemeinsam geteiltes Gedenken und Erinnern an die Opfer und die Überlebenden so naheliegend erscheint und doch beharrlich verhindert und verweigert wird.

Die Distomo-Lüge

Im Januar 1995 lässt die Bundesregierung durch die deutsche Botschaft in Athen auf Anfrage von Argyris Sfountouris mitteilen: »Nach Auffassung der Bundesregierung sind Vergeltungsaktionen wie gegen das Dorf Distomo nicht als NS-Tat zu definieren, deren Opfer wegen ihrer Rasse, ihrer Religion oder ausdrücklicher Antihaltung geschädigt worden sind, sondern als Maßnahme im Rahmen der Kriegsführung, denn sie stellten Reaktionen auf Partisanenangriffe dar.«

Damit folgte die Regierung noch im Jahr 1995 der Logik der NS-Täter, die bereits in den internen Untersuchungen 1944 ihre Gräueltaten zu leugnen suchten. Sfountouris zeigt dies anhand einer Reihe erdrückender historischer Dokumente, die hier erstmals veröffentlicht werden. Darüber hinaus belegt er, wie sich diese Distomo-Lüge durch sämtliche deutsche Instanzen und über die Jahrzehnte hinweg im Nachkriegsdeutschland fortgesetzt hat und eine Trauer- und Reuearbeit und damit ein »anderes Deutschland« bis heute verhindert. Eine Arbeit, die längst von deutscher Seite hätte geleistet werden müssen.

Knapp zehn Jahre hat es gedauert, bis der Bundesgerichtshof diese Gräueltaten als Kriegsverbrechen bezeichnet hat. Doch auch dieser Erfolg änderte bislang nichts Grundsätzliches an der Haltung der deutschen Regierungen. Trauer bekunden, ja, doch Konsequenzen daraus zu ziehen, Entschädigungen zu leisten, wird noch immer verweigert.

Eine Ökologie der Ethik

Die Trauer um Deutschland bezieht sich auch auf all die bis hierhin versäumten und verweigerten Möglichkeiten, die Geschichte anzueignen und überwinden zu können, gemeinsam Trauerarbeit und Reuearbeit zu leisten und die »panische Berührungsangst vor den Opfern und ihrem Schicksal« abzulegen, die Sfountouris als charakteristisches Merkmal für eine fortgesetzte Verdrängung der Vergangenheit bezeichnet. Stattdessen wird immer wieder in abwehrende Opferfeindlichkeit verfallen. Doch »gerade das, was uns trennt (unentrinnbar und ohne persönliches Zutun zu einer Gruppe zu gehören), ist unser gemeinsames Schicksal«. Intensiv artikulieren Sfountouris und andere Überlebende den Wunsch, sich im Gedenken zu solidarisieren und die Überlebenden nicht allein die Last des Erinnerns tragen zu lassen. »In der Erinnerung sind wir mit der deutschen Vergangenheit siamesisch verwachsen. Untrennbar. Dies wird weiter schmerzen, solang jede Seite allein daran erinnern muss.«

Und so steht seit 1994 seine Frage im Raum: »Wäre es nicht für alle lohnend, gemeinsam den Versuch zu wagen, diese Herkules-Arbeit (des Trauerns) in Angriff zu nehmen, die wir nur gemeinsam bewältigen können?«

Dies ist nicht nur lohnend, sondern auch notwendig. Die Schriften von Argyris Sfountouris laden uns auch nach Jahrzehnte währenden Kämpfen und herben Zurückweisungen durch »das offizielle Deutschland« noch immer dazu ein.

Tina Gericke lebt in Hamburg und schrieb in ak 608 über ihre Reise vom griechischen Distomo ins italienische Sant'Anna di Stazzema.

Argyris Sfountouris. Trauer um Deutschland. Reden und Aufsätze eines Überlebenden. Königshausen & Neumann, Würzburg 2015. 172 Seiten, 24,80 EUR.

Argyris Sfountouris

liefert mit »Trauer um Deutschland« ein wichtiges Stück Zeitgeschichte. Am 22. Januar 2016 wird es in Berlin eine Veranstaltung mit ihm geben. Infos unter www.facebook.com/AkDistomo.