Das Jahr 5 der arabischen Revolution
International Restauration, Islamismus, Migration - was ist aus den revolutionären Aufbrüchen geworden? Das Beispiel Tunesien
Von Helmut Dietrich
Die arabische Revolution greift in ihrem fünften Jahr erneut nach Europa über. Die syrischen Flüchtlinge haben diesen Sommer, zusammen mit Flüchtlingen und Migrant_innen aus Afghanistan und afrikanischen Ländern, die Festung Europa zum Einsturz gebracht. Zugleich wird der »Islamische Staat« (IS) unter vielen Jugendlichen populär, die vor fünf Jahren Protagonist_innen der Erhebungen waren. In welchen Kategorien lässt sich die arabische Revolution in ihrem fünften Jahr beschreiben?
Seit Sommer 2011 wurde in den Massenmedien wie auch in den Sozialwissenschaften abgespeckt: War zunächst von Revolution die Rede, sprach man bald von Revolten, dann von Aufständen, schließlich verschwand jeder Hinweis auf soziale Veränderung, wenn aus Syrien, Libyen oder dem Irak berichtet wird. Allein Tunesien wird eine Veränderung zugestanden, weil der Staat nach dem Sturz des DiktatorsZine el-Abidine Ben Ali im Januar 2011 zu einem Wahlsystem und einer neuen Verfassung gefunden hat. Die »arabische Revolution« ist begrifflich vom »gescheiterten Staat«, vom »Islamischen Staat« und vom tunesischen »demokratischen Staat« hinweggefegt worden.
Andererseits begann eine Historikerdiskussion zum Revolutionsbegriff, wie er als Kanon - Französische, Russische, Iranische Revolution - überliefert ist. Der herkömmliche Revolutionsbegriff enthält zahlreiche Kunstgriffe, wie die Rede vom Volk, das die Revolution machte, und der Bourgeoisie, die ihre Erfolge erntete. Doch womöglich handelte es sich um völlig unterschiedliche Dynamiken. Im Jahr 1959 veröffentlichte Frantz Fanon den Text »Das Jahr V der algerischen Revolution«. (1) 1959 befindet sich Algerien in den Halluzinationen des Kriegs, so Fanon. Die Gewalt - Bombenterror französischer Militärs und Paramilitärs, Stacheldraht-Checkpoints, willkürliche Razzien, Folter und massenhafter Mord an der Zivilbevölkerung - lässt sich in mancher Hinsicht mit dem heutigen Syrien vergleichen, obwohl die Akteure und ihre Ziele andere sind. Auf der aufständischen Seite gab es damals nicht nur den organisierten antikolonialen Widerstand, sondern auch individuelle Messerattacken und Bombenangriffe auf Bars, Cafés und andere Orte der französischen und algerisch-arrivierten Gesellschaft.
Dem revolutionierten Alltag auf der Spur
Fanon geht es in dieser Situation nicht um eine Analyse des französischen Kolonialstaats oder der FLN, sondern um eine Untersuchung des sozialen Wandels, den er mit Zeugnissen und Miniaturen aus dem Alltag belegt. Was erscheint am sich ändernden Alltag »revolutionär«? Es ist das Auseinanderklaffen zwischen dem dichten Leben der Zivilbevölkerung und der staatsterroristischen Ebene des französischen Kolonialstaats. In den arabischen Alltagsstrukturen zirkulierten Nachrichten und Einschätzungen in unbegreiflicher Schnelligkeit, noch bevor der Widerstand die Radiostationen eroberte. Der soziale Wandel erscheint wie ein Erdbeben, das der Staat nicht beherrscht. Frantz Fanon zeigt auf, wie sich Familien, Kommunikationsweisen und das Gesundheitsverständnis verändern. Im Anhang kommen psychisch Kranke zu Wort.
Wir brauchen heute eine Analyse nach diesem Muster. Dem Regime Ben Alis ist 2010/2011 die Kontrolle entglitten angesichts durchaus widersprüchlicher Selbsttätigkeiten von Armen, Arbeiter_innen, Vorstadtjugendlichen und arbeitslosen Hochschulabsolvent_innen. Heute bröckelt die Festung Europa - durch massenhaftes Handeln der Schwächsten, vorneweg der Kriegsflüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und Irak. Diese wachsende Kluft zwischen Selbsttätigkeit und Staatskontrolle verweist auf das revolutionäre Moment »im Jahr V« der »Arabellion«.
Klasse, Jugend, Milieu
Die Proteste Ende 2010/Anfang 2011 entstanden nicht durch Aktivistenarbeit und ideologische Mobilisierung; es waren die Alltagszusammenhänge von Familie, (informeller) Arbeit, Viertel und Freundschaft, die ansteckend wirkten. (2) Auch wer zwischen 2003 und 2010 mit dem Boot über das Mittelmeer floh oder aufbrach, um im Irak gegen die USA zu kämpfen, entschied sich meist nicht aus politischen Gründen für den einen oder anderen Weg, sondern wegen der Möglichkeiten, über Freundesnetzwerke das Land in die eine oder andere Richtung zu verlassen. (3)
In der tunesischen Revolution und auch in anderen Ländern der arabischen Revolutionen bündelten sich unterschiedliche soziale Strömungen; doch diese Konstellation hielt nur wenige Wochen. An erster Stelle sind die Schichten zu nennen, die seit der neoliberalen Öffnung in den 1980er Jahren vom Land an die Ränder der Städte getrieben wurden. Eine Folge der einsetzenden Bildungsexpansion waren sehr viel mehr junge, arbeitslose Hochschulabsolvent_innen, die sich im straßenzentrierten informellen Armutssektor wiederfanden. Der ambulante Gemüseverkäufer mit Hochschulbildung und ohne Verkaufslizenz wurde eine geradezu sprichwörtliche Erscheinung. (4) Diese Strömungen trafen auf streik- und unruheerfahrene Arbeiter_innen und Bewohner_innen der tunesischen Phosphatförderregionen. Die Betriebe mit globaler Anbindung können nicht ausgelagert werden, denn die Rohstoffe werden vor Ort gefördert. Der produzierte Reichtum steht vor aller Augen, aber die Region geht leer aus. Sodann ist die Gewerkschaftsbasis von Grundschullehrer_innen und Beschäftigten der öffentlichen Dienste zu nennen, die sich in den Kämpfen oft gegen die Gewerkschaftsführung gestellt hat. Besonders markant engagierten sich in der tunesischen Revolution die Anwält_innen und Angehörige anderer liberaler Berufe. Schließlich die internetaffinen Jugendlichen. Sie transportierten die Nachricht vom anhaltenden Aufstand aus dem blockierten Landesinneren in die Küstenstädte und nach Tunis.
Nach wenigen Wochen kollabierte diese Allianz. Die Gruppen im Landesinneren und an den Stadträndern, die den höchsten Blutzoll gezahlt hatten, fanden sich von den neuen politischen Entwicklungen ausgeschlossen und riefen ohne Erfolg zu einer zweiten Revolution auf, bekannt als Abfolge von »Kasbah-Sit-Ins«. Dennoch hat sich der Alltag tiefgreifend gewandelt, in Tunesien, Jordanien und sogar in Kairo, trotz der dortigen Militärdiktatur. In einer Reportage schreibt Cedric Rehman über die Lockerungen und Wandlungen des Geschlechterverhältnisses, der Lebensstile und den neuen Generationenbruch: »Der frühere Tahrir-Revolutionär Mohammed Mohsen (Name geändert) nennt die ägyptische Jugend eine tickende Bombe. Wenn sie explodiert, werden die Jungen alles niederreißen, ohne zu wissen, was an die Stelle des Alten treten soll, sagt er. Ihn erschreckt der Zynismus der jungen Leute, die alles angreifen, auch die Religion. Damals in den Jahren der Revolution hat der Pazifist immer dafür plädiert, Rücksicht zu nehmen auf die religiösen Gefühle der konservativen Ägypter. Der Wandel müsse alle mitnehmen. Provokation führe dagegen nur zu Abwehrreaktionen der Konservativen. Gleichzeitig sieht der 27-jährige Maschinenbauer die Not der jüngeren Generation. Sie hätte diesen Drang zur Emanzipation, laufe aber überall gegen Mauern. Sie leben nach der Revolution in einer anderen Welt, erleben aber, dass die Alten so tun, als hätte sich nichts geändert. Das macht sie so wütend, sagt er. Ich habe nichts dagegen, wenn sie trinken und tanzen wollen. Aber das allein ist keine Freiheit.« (Cicero, 24.11.2015)
Vielleicht die wichtigste soziale Basis der alten Regimes von Ben Ali, Mubarak in Ägypten oder Assad in Syrien bildeten die einfachen staatlichen Angestellten. Sie kamen zwar nicht zu Reichtum, fanden aber einen Platz im unteren Mittelstand. Aus ihren Reihen stammten besonders in Tunesien die parapolizeilichen Spitzelnetze, die die gesamte Gesellschaft durchdrangen. Viele Kinder der Staatsangestellten haben als arbeitslose Hochschulabsolvent_innen an der Rebellion teilgenommen. Aus dieser Schicht rekrutieren sich heute die meisten Adepten des IS in Tunesien.
Politische Klasse, tiefer Staat und neues Grenzregime
Die politische Klasse Tunesiens musste nach dem Sturz Ben Alis 2011 zeitweise abdanken, sie ist aber inzwischen teilweise - und um die moderat-islamistische Ennahda-Partei erweitert - an die Regierungsmacht zurückgekehrt. Zur politischen Klasse ist seit 2011 auch eine gemäßigte Linke hinzugestoßen, die sich im Exil formiert hatte. Die Spitze der Gewerkschaft UGTT hat sich über alle Konjunkturen hinweg in der politischen Klasse halten können.
Die tunesische Rebellion beendete die Kleptokratie des Ben-Ali-Clans. Sie hatte die gesamte Wirtschaft durchdrungen. Arbeiter_innen der Autozulieferer, der Textilveredelungs- und Lederindustrie konnten Anfang 2011 Lohnerhöhungen bis zu 30 Prozent durchsetzen. Auch im öffentlichen Sektor verteilte der Staat sehr ungleich Lohnzuwächse. Beschäftigungsprogramme entstanden. Doch IWF und Weltbank knüpften trotz veränderter Rhetorik - »Transparenz«, »gutes Regieren« und »soziale Inklusion« - Kreditzusagen an die alten neoliberalen Rezepte: Privatisierungen, Subventionsabbau und die Deregulierung des Arbeitsmarktes. Im Oktober 2013 stimmte die Ennahda-Regierung einer parteiübergreifenden Technokratenregierung zu, die der IWF und andere Finanzgeber verlangt hatten. Vor allem im ersten Halbjahr 2014 stiegen die Preise für Massenkonsumgüter massiv an.
Spektakulär war in Tunesien der Zusammenbruch der Polizei und ihrer Spitzelnetze während der Revolution 2011 sowie der Kollaps der Küstenwache, die seit 2003 auf Druck der EU die »Republikflucht« verhindert hatte. Doch die polizeilichen Spezialeinheiten und der »tiefe Staat« überlebten. Die Folterkeller im Innenministerium in Tunis und die Archive der Repression sind bis heute nicht zugänglich. Das Militär, das im Unterschied zu Algerien oder Ägypten keine politische Rolle gespielt hatte, wurde durch Antiterroreinsätze in den bergigen Waldgebieten an der Grenze zu Algerien an die Seite des »tiefen Staats« befördert. Und am 1. Dezember 2015 ernannte die Regierung Abderrahmane Belhaj Ali zum Chef der nationalen Sicherheit - den ehemaligen Direktor der Präsidentensicherheit unter Ben Ali.
Auch in der Grenzpolitik zeigt sich der Umschwung: Nach der Revolution forderte die tunesische Regierung die vollständige Grenzöffnung zwischen allen Maghrebstaaten. Die Freizügigkeit sollte eine neue gesellschaftliche und wirtschaftliche Dynamik befördern. Am 8. Juli 2015 nun wurde bekannt, dass die tunesische Regierung an der Grenze zu Libyen auf 168 Kilometern eine zwei Meter hohe Mauer mit Graben baut. Weiter südlich ist die Grenzregion militärisches Sperrgebiet. Deutschland finanziert diese Aufrüstung mit und liefert das Knowhow der Abschottung.
Tunesien steht mit diesen Maßnahmen nicht allein. Überall in der arabischen Region und in Nordafrika werden seit drei Jahren Grenzmauern, Zäune und Gräben angelegt. Die informelle grenzüberschreitende Wirtschaft wird zerstört; regionale Migrationsmöglichkeiten enden in der Illegalität. Das ist einer der Gründe für die wachsende Migration aus Afrika nach Europa.
Flucht nach Europa - Aufstieg des IS
Im Frühjahr 2011 brachen Zehntausende aus Tunesien nach Italien auf. Sie nahmen sich die Reisefreiheit, der Akt war Teil ihrer Revolution. In Italien verschwanden die jungen Tunesier_innen in den Abschiebeknästen. Im Laufe des Jahres 2011 erhoben sie sich und zerstörten einige in ihren Grundfesten. Im Sommer und Herbst 2015 sind es nicht mehr vor allem junge Männer, die die Festung Europa einrennen, sondern vorneweg Frauen und Kinder. Die umherirrenden Flüchtlingsbewegungen, die in europäischen Großstädten ankommen, erinnern an die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, an die armenischen Flüchtlinge, an die ostjüdischen Fluchten. Doch das Selbstbewusstsein der heutigen Flüchtenden ist anders: Demonstrationen vor dem Budapester Ostbahnhof, manifestartige Statements beim Einreißen der Grenzzäune, Kinder, die hoch über die Köpfe gehoben werden.
Seit März 2015 hat die tunesische Regierung Jugendlichen unter 35 Jahren grundsätzlich die Ausreise verboten, außer mit schriftlicher Genehmigung der Eltern und des Innenministeriums. Wie der Mauerbau wird das Ausreiseverbot mit dem Antiterrorismus begründet: Wer ins Ausland aufbricht, wird pauschal des Dschihadismus verdächtigt - und zieht außerdem den Vorwurf auf sich, sich nicht am Aufbau des Landes zu beteiligen.
Der Antiterrorkampf begann ab März 2013 mit dem höchst undurchsichtigen Militäreinsatz auf dem Berg Chaambi an der algerischen Grenze, zu dem inzwischen auch das algerische Militär eingeladen wurde. Die nächste Etappe markieren die Anschläge im Bardo-Museum in Tunis im März 2015 mit 22 Todesopfern, am Strand von Sousse, wo ein junger Attentäter am 26. Juni 38 Tourist_innen erschoss, und am 24. November gegen die Präsidentengarde am tunesischen Innenministerium. Immer wieder erschießt die Polizei Jugendliche, die sie verdächtigt, Terrorist_innen zu sein. Ihre Namen werden nicht bekannt gegeben, wie es in Algerien seit Jahren Praxis ist.
Seit 2014 ist der Weg in Richtung »Islamischer Staat« vorgezeichnet. Gab es zuvor eine Vielzahl unterschiedlicher Milizen und Dschihadistengruppen, so erobert der IS seitdem dieses durchaus heterogene Spektrum. Die meisten tunesischen Jugendlichen, die sich dem IS anschlössen, kämen nicht aus dem abgehängten, rebellischen Landesinneren, sondern aus den heruntergekommenen Stadtteilen von Tunis, wie der Journalist Hazem Al-Amin auf Studien gestützt erklärt. Sie seien Kinder der unteren Mittelschicht, der ehemaligen sozialen Basis des Ben-Ali-Regimes. Sie sind im Begriff, sich als brutalste Opposition zu gerieren und ihre aufständischen Altersgenoss_innen einem neuen und gewalttätigen Kontrollregime zu unterwerfen.
Müssen wir also doch an die alten Revolutionstheorien anknüpfen? Hat die Klasse der Arbeitenden und Arbeitslosen, der Unterdrückten und Beleidigten die arabische Revolution gemacht, und nun erntet der IS die Früchte? Entsteht aufs Neue ein System von »feindlichen Brüdern«, wie das der Bolschewist_innen und des imperialistischen Westens oder das der algerischen Militärdiktatur und des postkolonialen Frankreich? Müssen wir davon ausgehen, dass der neue dominierende Konflikt der zwischen dem IS, der die Unzufriedenen erobert und militarisiert, auf der einen und den USA und der EU auf der anderen Seite sein wird?
Bestimmend sind in Tunesien und vielen anderen Ländern nach wie vor die sozialen Kämpfe und die Widersprüche, die sich aus dem sozialen Wandel ergeben. Sie lassen sich nicht diesem Schema zuordnen. Beispielhaft haben die Bewegungen der Flucht und Migration der Rebellion eine neue Perspektive eröffnet, von der in Europa niemand zu träumen gewagt hat. Freilich hat sich auch niemand in Europa eine Vorstellung über die Dimension der Konterrevolution machen wollen. Die tunesische Frage, die Frage der arabischen Revolution, bleibt offen.
Helmut Dietrich schrieb in ak mehrfach über die revolutionären Bewegungen in Tunesien und anderen nordafrikanischen Ländern.
Anmerkungen:
1) Die Zeitrechnung entstammt dem algerischen Antikolonialismus, der nach der Geschichtsschreibung der Nationalen Befreiungsfront FLN 1954 organisiert und bewaffnet begann.
2) Siehe Joel Beinin und Frédéric Vairel: Social Movements, Mobilization and Contestation in the Middle East and North Africa. Stanford 2013.
3) Das Phänomen der Alltagsmobilisierung bezeichnete der Sozialwissenschaftler Asef Bayat schon vor Jahren als Non-Movement, als kollektive Aktion nichtkollektiver Akteur_innen. Siehe ak 584.
4) Die Selbstverbrennung des Gemüsehändler Mohamed Bouazizi, mutmaßlich aus Protest gegen Behördenschikane und Polizeiwillkür, in der Stadt Sidi Bouzid am 17. Dezember 2010 hatte die revolutionären Aufstände in Tunesien ausgelöst.