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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 611 / 15.12.2015

Leute mit Issues

Kultur Die Netflix-Serien »Jessica Jones« und »Master of None« punkten mit Diversität - gut fürs Geschäft

Von Nina Scholz

Am 20. November 2015 war es so weit. Marvel schickte mit »Jessica Jones« seine erste weibliche Superheldin ins Rennen um die vordersten Plätze im Fernsehseriengeschäft. Seit der Comicverlag ins Blockbusterbusiness eingestiegen ist, hatten gerade weibliche Fans immer wieder vergeblich darauf gehofft. Ganz kurz, vor ein paar Jahren - Superheldenfilme wurden gerade so richtig erfolgreich - hatte es sogar mal so ausgesehen, als ob es klappen könnte. Joss Whedon, der Mann, der die Vampirjägerin »Buffy« erfunden hat (1), sollte gerüchteweise die Regie für einen »Wonder-Woman«-Film übernehmen. Aber für »Wonder Woman« kam alles anders: Joss Whedon wurde Regisseur der beiden »Avengers«-Filme von Marvel.

Der »Wonder-Woman«-Film wurde bis heute nicht gedreht und auch kein anderer Superhelden-Blockbuster mit einer Frau in der Hauptrolle. Das hat vor allem ökonomische Gründe: Um einen Film zu produzieren, der ökonomisch erfolgreich ist, sind hohe Investitionen nötig. Eine Frau in der Hauptrolle schien zu risikoreich, der männliche, weiße Superheld hingegen ist ein einfaches, erfolgreiches und leicht reproduzierbares Konzept.

Mit »Jessica Jones« ist jetzt alles anders - und das nicht nur, weil sie eine Frau mit Superkräften ist. Jessica Jonas ist »a hard-drinking, short-fused mess of a woman«, wie ihre Romanze Luke ihr schnell bescheinigt, und lebt ein ordentlich abgehalftertes Leben als Privatdetektivin im New Yorker Stadtteil Hells Kitchen. Hier leben die dunklen Gestalten. Es gibt Armut, Drogensucht und dreckige Spielunken. Jessica haust in einer heruntergekommenen Wohnung, die auch als Büro dient. Hier nimmt sie die Aufträge ihrer Klient_innen entgegen; meist geht es darum, dass sie fremdgehende Ehepartner_innen bespitzelt. In ihrer Freizeit trinkt sie Unmengen harten Alkohol und hält sich von anderen Menschen fern. Klingt nach einer klassischen Hard-Boiled-Story.

»Jessica Jones« ist die mit Abstand düsterste, am langsamsten erzählte, abgründigste Show, die der Comicverlag, bekannt für seine freundlichen Held_innen, bis heute veröffentlicht hat. Die Serie hat, genau wie ihre Figuren, viele unterschiedliche Ebenen, und die Serienmacher_innen lassen sich viel Zeit damit, diese zu entpacken. Das wird klar, als Jessica auf ihren Widersacher Kilgrave trifft.

Traumatisiert, versoffen, Superheldin

Kilgrave, ein Menschenmanipulator, hat Jessica jahrelang kontrolliert, und nur weil sie fürchtet, er könne das, was er ihr angetan hat, auch mit anderen machen, nimmt sie widerwillig den Kampf gegen ihn auf. Auch Kilgrave ist komplexer als so mancher andere Bösewicht. Kilgrave liebt Jessica. Oder zumindest hält er seine Gefühle für Liebe. Jessica Jones ist eine Antiheldin, die lieber nicht kämpfen würde, sie tritt nicht gegen glitschige Monster an, sondern gegen ihr eigenes Trauma und gegen den Mann, der sie manipuliert und vergewaltigt hat.

Es ist kein Zufall, dass »Jessica Jones« gerade auf Netflix läuft. Das amerikanische Streaming-Start-Up aus dem Silicon Valley ist bekannt dafür, die Lücken zu füllen, die herkömmliche Sender und Produktionsfirmen lassen. Bei Serien, die neu auf den Markt kommen, zählen nicht mehr die Empfehlungen der Kritiker_innen, sondern die Gespräche in den Sozialen Netzwerken. Das haben Streamingdienste wie Netflix erkannt und versuchen, jene zu erreichen, die sich dort über Serien unterhalten. Netflix hat außerdem den Vorteil, dass es sich als junges Start-Up nicht mit den verkrusteten Strukturen herumschlagen muss, die es etablierten Sendern so schwer machen, sich auf neue Bedürfnisse und Themen einzustellen.

Ein weiteres aktuelles Beispiel dafür ist »Master of None«, eine Comedy-Show, die fast zeitgleich mit »Jessica Jones« bei Netflix angelaufen ist. »Master of None« ist die erste eigene Show des Comedian Aziz Anzari, der vorher eine Hauptrolle in der Sitcom »Parks and Recreations« und ein sehr erfolgreiches Stand-Up-Liveprogramm hatte. »Master of None« ist eine sogenannte Millenial-Comedy, eine Serie der »Jahrtausendwechselgeneration«. Die erste bekannte Show war »Seinfeld«, die bis heute erfolgreichste »Friends«, die größte der letzten Jahre »How I Met Your Mother«. Diese Shows standen oft im Mittelpunkt der Kritik. Ihre Protagonist_innen und Themen gelten als zu weiß, zu wohlhabend, zu neurotisch.

»Master of None« hingegen ist im amerikanischen Fernsehen eine kleine Revolution. Aziz Anzari hat die Serie nicht nur produziert, er spielt auch die Hauptfigur Dev, der mit Mitte Dreißig in einem für sein Gehalt etwas zu großen und zu schicken Apartment im Brooklyn lebt. Dev ist Schauspieler, der aber öfter Rollen in Werbespots ergattert als in Kinofilmen. Mit seinen besten Freund_innen trifft er sich auf Konzerten, in Bars, Restaurants und auf den Straßen New Yorks. Bisher hat es kaum eine Serie gegeben, in der ein asiatisch-amerikanischer Schauspieler eine Hauptrolle hat. Diese wurden fast immer in die Nebenrollen und rassistischen Stereotype verwiesen und traten als Nerds, Restaurantbesitzer_innen und Shop-Verkäufer_innen auf.

Comedy jenseits rassistischer Stereotype

Der Erfolg der Serie ist aber nicht mit den verschiedenen Hautfarben der Protagonist_innen zu erklären, sondern damit, dass Anzari den Rassismus in der amerikanischen Komödie thematisiert. Gerade im US-Mediendiskurs finden in den letzten Jahren immer wieder Debatten darüber statt, welche Pointen noch möglich sind. Konservative bemängeln, durch zunehmende Diversität der Produzent_innen und Schauspieler_innen würde Humor unmöglich gemacht. Dieser müsste nämlich Grenzen überschreiten. Anzari beweist mit seiner Show das Gegenteil. Immer wieder thematisiert er die Probleme seiner Eltern, die aus Indien nach Amerika gekommen sind, und reizt dabei auch die Pointen aus. Angenehm geschmacklos geht es hier zu. Der gravierende Unterschied ist aber, dass man mit Anzari lacht und nicht über ihn.

Netflix punktet also bei einer Generation, die nicht immer nur die gleichen Figuren und Geschichten über den Bildschirm flimmern sehen möchte und die sich von den immer gleichen Helden und Erzählungen längst nicht mehr repräsentiert fühlt. Ob das Netflix-Geschäftsmodell erfolgreich ist, weiß keiner so genau. Wie in den meisten Start-Ups stammt das Geld, das zur Verfügung steht, weniger aus dem tatsächlichen Umsatz als aus dem, was in Finanzierungsrunden eingesammelt wird. Im Gegensatz zum herkömmlichen Fernsehen gibt der Streaming-Dienst keinerlei Einschaltquoten oder andere Zahlen heraus. Klar ist allerdings, dass das Start-Up eine bestimmte Zielgruppe deutlich vor Augen hat und die Lücken anderer Sender sehr deutlich definiert.

Neben erhöhter Diversität ist Netflix mittlerweile auch bekannt dafür, TV-Shows, die wegen zu niedriger Einschaltquoten abgesetzt wurden, neue Staffeln zu verpassen. Die Serie »Arrested Development«, die von 2003 bis 2006 bei Fox lief, wurde 2013 von Netflix abgeschlossen; nächstes Jahr wird es eine neue »Gilmore Girls«-Staffel geben. Warum sich das lohnt? Weil Netflix ganz genau auswertet, wer was bei ihnen streamt, und im Gegensatz zum Fernsehen nicht auf die einmalige Ausstrahlung vertrauen muss. Was Netflix außerdem weiß: Wer heute als modernes Start-Up gelten will, braucht eine positive, moderne und »junge« Marke. Auch hier hilft die Diversität, die sich Netflix auf die Fahnen geschrieben hat, gilt sie doch als kultureller Gegenentwurf zu den verstaubten, alten Medienkonzernen. Ob es hinter den Kulissen auch so fortschrittlich zugeht, darf angesichts der Start-Up-Arbeitskultur bezweifelt werden. Großartige Shows mit großartigen Figuren und Stories beschert uns Netflix trotzdem.

Nina Scholz lebt als Journalistin in Berlin. In ihrem Buch »Nerds, Geeks und Piraten« hat sie sich mit der Kalifornischen Ideologie und ihren Apologet_innen beschäftigt.

Anmerkung:

1) Die Fernsehserie »Buffy the Vampire Slayer« (deutsch: »Buffy - im Bann der Dämonen«) über eine vampirjagende Highschool-Schülerin, die nicht nur gegen jede Menge gruseliger Kreaturen, sondern auch die Probleme des Erwachsenwerdens in den Kampf zieht, schlug Ende der 1990er Jahre bei ihrer vorwiegend jugendlichen Fangemeinde ein wie eine Bombe.