Die Krise des Antiimperialismus
Expansiv Der Feind meines Feindes ist noch lange nicht mein Freund
Von Nadija Samour
Die Tektonik des sogenannten Nahen Ostens (1) ist in Bewegung geraten. Es ist jener »Nahe Osten«, auf den viele Linke ihre internationale Solidarität projizieren. Die aktuellen Entwicklungen stellt Internationalist_innen vor schwere Aufgaben, denn alte Ideale, Verbündete, Feindbilder, Parolen, Taktiken funktionieren nicht mehr. Bedenken wir die Veränderungen, ist linker Antiimperialismus kein Relikt aus den 1970er Jahren, sondern hochaktuell.
Gegenwärtig zeigen uns die kriegerischen Interventionen in Syrien, dass es zwar auch, aber nicht ausschließlich der klassische US-Imperialismus ist, der die Bedürfnisse nach Frieden und Gerechtigkeit bedroht. Nicht nur der russische Militäreinsatz auf Seiten des syrischen Regimes bringt die Positionen vieler Linker ins Wanken. Auch das Auftreten lokalimperialistischer Kräfte wie Saudi-Arabien und Iran fordert internationalistische Antworten. Die besondere Aufgabe: Weder dürfen Linke die Lokalimperialismen im Lichte des großimperialistischen Gefüge verharmlosen oder rechtfertigen, noch darf der Kampf gegen sie auf die rassistische und orientalistische Schiene geraten.
Der Krieg in Syrien zeigt auch: Internationalist_innen können sich nicht mehr hinter einem Blöckedenken verstecken, sondern sind in dieser zunehmend multipolaren Welt aufgefordert, eigene, neue Positionen zu entwickeln und ein Verständnis von Solidarität zu überdenken, das auf ein schematisches »der Feind meines Feindes ist mein Freund« begrenzt ist.
Auch eine andere Entwicklung verdeutlicht, wie notwendig es ist, den linken Antiimperialismus neu zu justieren. Spätestens seit 1990 hat die Kapitalseite weltweit für Deregulierung der Märkte und Fragmentierung der politischen Interessen gesorgt. Im sogenannten Nahen Osten wird diese Entwicklung besonders deutlich: Ehemals realsozialistische Ökonomien wie etwa in Syrien wurden durch neoliberale Reformen zersetzt (2); die aktuellen kriegerischen Verwicklungen in der Region zeugen von hastig zusammen geschusterten Zweckbündnissen.
»Strukturanpassungsprogramme« auf der einen Seite, imperialistische Militäreinsätze auf der anderen, haben die vormals bipolar geordnete Welt durcheinander gebracht. Beide dieser Interventionen sind aber nur mit Hilfe nationaler Bourgeoisien erfolgreich; für die globale Unterwerfung unter die kapitalistische Hegemonie bedarf es immer auch lokaler Kollaborateur_innen, die profitieren und den Weg bereiten. Weil diese Bourgeoisien derart mit den (Militär-)Diktaturen im »Nahen Osten« verwoben sind, begreift der marxistische Politikwissenschaftler Vijay Prashad die Aufstände ab 2011 als »Revolten gegen den Markt«. (3)
Dennoch: Antiimperialismus, wie er von vielen Linken verstanden wird, findet immer noch in einem Rahmen statt, in dem die nationale Befreiung (ehemals) kolonisierter Länder ein tolerables Ergebnis ist. Doch eine Frage bleibt: Wie gehen wir mit den jeweiligen nationalen Bourgeoisien um? Antiimperialismus, wie er bisher häufig gedacht worden ist, hat diese meistens verschont, aber spätestens die Revolten ab 2011 haben gezeigt, dass auch sie Hindernisse auf dem Weg zu einer befreiten Gesellschaft sind.
Was heißt heute internationale Solidarität?
Vor allem in Zeiten, in denen jene Menschen nach Europa kommen, die besonders von imperialistischer Kriegspolitik betroffen sind, werden diese abstrakten Fragen besonders konkret. Praktische internationale Solidarität zeigt sich hierzulande unmittelbar in der Unterstützung von Geflüchteten. Gleichzeitig kann beobachtet werden, wie viele Internationalist_innen sich davor drücken, sich mit den Kämpfen der Geflüchteten auseinanderzusetzen, wenn sie über die wohlbekannten antirassistischen und asylpolitischen Forderungen hinausgehen.
Vor allem viele Menschen aus Syrien bestehen darauf, nicht als bemitleidenswerte Flüchtlinge betrachtet zu werden. Viele kommen als Revolutionär_innen hier her - und wollen ihre Kämpfe hier fortsetzen. Das stellt sie vor viele unterschiedliche Schwierigkeiten. Syrische Oppositionelle werden zuweilen in linken Kreisen abgelehnt, weil ihnen Kooperationen mit »dem Westen« oder Islamist_innen vorgeworfen werden. Ihr Einstehen für ein Syrien ohne Assad, der in den Augen einiger Internationalist_innen einer der letzten wahren Antiimperialisten ist, wird gerne gleichgesetzt mit einer Einladung für einen NATO-Einsatz in Syrien. Eben jene, die Anfang 2011 gegen die neoliberale Umstrukturierung Syriens auf die Straßen gegangen sind und unsere internationale Solidarität verdient hätten, werden in ihren Kämpfen von anderen Linken alleine gelassen.
Hinsichtlich Kurdistans und Rojavas, die zum unhinterfragten Repertoire der internationalistischen Linken gehören, wird klar, wie selektiv Solidarität sein kann. Rojava liegt in Syrien, aber in der Solidarität mit Rojava scheint das keine Rolle zu spielen, oder aber noch schlimmer: Wer nicht mit der PYD oder YPG/YPJ zusammenarbeitet, wird als faschistisch oder reaktionär bezeichnet oder der Kollaboration mit Daesch bezichtigt. Hinzu kommt die falsche Solidarität der rechten oder vermeintlich linken Islamfeinde, die sich hinsichtlich Rojavas nur am reaktionären Islamismus von Daesch abarbeiten, und so Rassismus reproduzieren.
Die Provinzialisierung der deutschen Linken
Die Krise des Internationalismus in Deutschland erfasst auch jene linke Antiimperialist_innen, die sich mit der palästinensischen Sache solidarisieren. Es zeigt sich, dass sich die proisraelische Tendenz in der deutschen Regierungspolitik ihren Weg in die Linke gebahnt hat. Die deutsche Linke hat sich im Verlauf der Debatte um »Antideutsche« derart provinzialisiert, sich von den Entwicklungen und Debatten internationaler Linker isoliert, dass sie von anderen Linken weltweit belächelt und nicht mehr ernst genommen wird. (4) Beispielhaft für die Provinzialisierung ist der Schwerpunkt der ak 596 im August 2014. Während ausnahmslos alle gewichtigen linken Medien weltweit Israels Angriff auf den Gaza-Streifen verurteilten, die faschistischen Tendenzen in der israelischen Gesellschaft thematisierten, zur Solidarität mit den Palästinenser_innen und zum Boykott gegen israelische Institutionen aufriefen, beschränkte sich ak darauf, den Antisemitismus in Deutschland zu kritisieren. Auch hier zeigt sich wieder der wenig reflektierte Rassismus der weiß-deutschen Linken, in dem Antisemitismus und andere Rassismen gegeneinander ausgespielt werden. Antisemitismus reflexartig dort zu wittern, wo auch immer der palästinensische Befreiungskampf stattfindet, knüpft an den Diskurs an, durch Islam und Migration würde Antisemitismus importiert und dieser würde vor allem von Nicht-Weißen vertreten.
Daneben sind die palästinensischen Gemeinden auch ohne die Provinzialisierung der deutschen Linken geschwächt. Die Repression des deutschen Staats nach dem Attentat auf die Olympischen Spiele in München 1972, die zurAbschiebung mehrerer hundert Palästinenser_innen und zum Verbot ihrer Vereine geführt hat, sowie inner-palästinensische Konflikte aufgrund des Oslo-»Friedensprozesses« haben die Gemeinden als Treffpunkt für Internationalist_innen unbedeutsam werden lassen.
Linker Antiimperialismus ist immer noch notwendig
Die deutsche Linke scheint sich in Sachen Internationalismus auf Irrwegen zu befinden. Die Ausgangsbedingungen sind zwar nicht einfach, denn die Krise der weiß-deutschen Linken mit ihrer Provinzialisierung und ihrem (antimuslimischen) Rassismus wirkt sich auch auf die migrantischen und geflüchteten Linken und ihre Gemeinden aus. Trotzdem: Internationalismus als Antwort auf Imperialismus ist immer noch richtig und wichtig.
Um sich also den beschriebenen Problemen zu stellen, bedarf es zweierlei: Einerseits müssen weiße Linke immer wieder ihren Rassismus reflektieren, sich fragen, warum sie nur selektiv solidarisch sind. Nur weil sie internationale Solidarität üben, heißt das noch lange nicht, dass sie vor Rassismus gefeit sind.
Andererseits müssen auch wir migrantische und geflüchtete Linke uns trauen, neue Ideen zu entwickeln, wie wir unseren sogenannten Nahen Osten befreien wollen. Wenn wir nicht vorangehen, unsere Forderungen formulieren, werden es die Weißen auch nicht tun. Dabei müssen wir unbedingt verstehen, dass die Forderungen der nationalen Befreiungsbewegungen ab den 1950er Jahren für die damalige Zeit legitim gewesen sein mögen, vor allem weil sie wichtiger Teil der Dekolonisierungsprozesse waren und riesiges Mobilisierungspotenzial unter den Kolonisierten hatten. Aber nunmehr verlangen die Entwicklungen neue Wege. Nationalismus ist nach wie vor koloniales Importprodukt - er wird uns nicht zur Befreiung verhelfen.
Die hiesigen Auseinandersetzungen in den Gemeinden, in den Städten sind Orte für Debatten, Streits und Experimente. Hier kommen wir mit unseren Kämpfen zusammen und haben die Zeit, den Raum, die Möglichkeiten, uns im Sinne eines Süd-Süd-Dialogs auszutauschen. Vor allem die Neuankömmlinge aus dem sogenannten Nahen Osten können die Alteingesessenen mit ihrer revolutionären Praxis bereichern - wenn wir sie lassen.
Nadija Samour ist Juristin und Aktivistin. Sie ist aktiv in knastkritischen Zusammenhängen sowie im Palästina Netzwerk Berlin (PNB). In ak 603 schrieb sie über die emanzipatorischen Potenziale des Islams.
Anmerkungen:
1) Sogenannt, weil der Begriff »Naher Osten« ein kolonialer ist.
2) Siehe Interview mit Joseph Daher: www.solidarity.net.au/imperialism/imperialism-sectarianism-and-syrias-revolution/
3) Vijay Prashad: The Long Arab Revolution: www.counterpunch.org/2011/02/15/the-long-arab-revolution.
4) Das Jacobin Magazine hat sich dem Thema im Dezember 2014 gewidmet: hwww.jacobinmag.com/2014/12/the-germans-lefts-palestine-problem.