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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 612 / 19.1.2016

Geteilte Welt, geteilte Klasse

Expansiv Der Imperialismus verhindert den globalen Klassenkampf

Von Torkil Lauesen

Die Gruppe Wildcat argumentierte in ak 609, in den Streikwellen der letzten Jahre habe eine »Weltarbeiterklasse« Gestalt angenommen. Diese Behauptung übersieht den imperialistischen Aspekt in der globalen Produktionskette, die den gegenwärtigen Kapitalismus prägt. Der Imperialismus hat die Welt in primär produzierende und primär konsumierende Länder geteilt. Damit sind die Voraussetzungen für den Klassenkampf in diesen Ländern sehr unterschiedlich.

In den vergangenen Jahrzehnten ist es zu großen Veränderungen in der globalen Arbeiterklasse gekommen. Die neoliberale Globalisierung hat zu einer starken Proletarisierung des globalen Südens geführt. Zwischen 1980 und 2011 wuchs die Arbeitskraft weltweit von 1,9 auf 3,3 Milliarden Menschen an. Das entspricht einer Steigerung von 73 Prozent. Doch es sind nicht nur mehr als eine Milliarde neuer Arbeiter_innen in den Kapitalismus integriert worden, auch die Arbeitsverteilung zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden hat sich radikal verändert. Im Jahr 1980 hielt sich die Anzahl der Industriearbeiter_innen in Hoch- bzw. Niedriglohnländern in etwa die Waage. Im Jahr 2010 befanden sich 79 Prozent aller Industriearbeiter_innen im globalen Süden, davon alleine 40 Prozent in China.

Seit den 1980er Jahren heißt es, wir würden in einer »postindustriellen« Gesellschaft leben. Wenn »wir« die gesamte Menschheit meint, ist dies jedoch kaum der Fall. Wir leben nicht in einer postindustriellen Welt, sondern in einer neuen Phase der Industrialisierung. Es gibt Menschen, die die Bildschirme, Computer, iPhones und iPads herstellen, mit denen andere »postindustrieller« Arbeit nachgehen; es gibt mehr und mehr Menschen, die die ständig steigende Anzahl der materiellen Güter produzieren, die andere konsumieren.

Die Industrialisierung des globalen Südens

Die Industrialisierung des globalen Südens war eine Antwort auf die Krise des Kapitalismus der 1970er Jahre. Diese Krise wurde einerseits von den Arbeiterbewegungen des globalen Nordens geschaffen, die höhere Löhne und einen stärkeren Wohlfahrtsstaat forderten, und andererseits von nationalen Befreiungskämpfen im globalen Süden. Die heutige Industrialisierung des Südens darf jedoch nicht als eine Lösung dieser Krise betrachtet werden, denn sie schafft keine gerechtere Welt, sondern setzt die imperialistische Politik fort.

Die gegenwärtige politische Ökonomie beruht auf zwei Grundpfeilern. Der erste ist die Etablierung neuer Produktivkräfte in den Bereichen von Kommunikation, Administration und Logistik (Computer, Internet, Mobiltelefone, Containertransporte). Die Produktion selbst findet dort statt, wo die Produktionskosten, die Infrastruktur und die Unternehmensbesteuerung für das Kapital optimal sind. Der zweite Grundpfeiler ist der Neoliberalismus, das heißt, der freie Fluss von Kapital und Waren, die Privatisierung von öffentlichem Eigentum und Serviceleistungen, die Etablierung neuer globaler Institutionen (Welthandelsorganisation u.a.) sowie militärische Strategien, die jeglichen Widerstand gegen diese Entwicklungen zu unterbinden suchen.

Die Voraussetzungen für die Industrialisierung des globalen Südens sind völlig andere als jene, die zur Industrialisierung des globalen Nordens führten. Im Norden vollzog sich die Industrialisierung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in der Form eines Wechselspiels zwischen Massenproduktion und kaufkräftigem Binnenmarkt. Ermöglicht wurde dieser Prozess durch die Ausbeutung der Kolonien. Die Industrialisierung des globalen Südens hingegen beruht in erster Linie auf dem Warenexport. Es fehlen sowohl die politischen als auch die ökonomischen Bedingungen, die die Industrialisierung des Nordens prägten. Zum Beispiel ist es für Arbeiter_innen des globalen Südens aus zwei Gründen ausgesprochen schwierig, höhere Löhne zu erkämpfen: Erstens findet sich eine enorme Reservearmee von Arbeitslosen, die im Gegensatz zu europäischen Arbeiter_innen des 19. Jahrhunderts nicht auswandern können, und zweitens fehlt die koloniale Peripherie.

Die Verlagerung industrieller Produktion in den globalen Süden bringt deshalb keine globale Angleichung des Lohnniveaus mit sich. Die Industrialisierung Chinas, Südafrikas oder Brasiliens wird für die Mehrheit der dortigen Bevölkerung nicht zu einem westeuropäischen Lebensstandard führen. Im Gegenteil: Das niedrige Lohnniveau ist für die Produktionsverlagerung wesentlich.

Arbeiter_innen im Norden und Süden

Das Kapital kann Löhne auf zwei Weisen regulieren: durch die Verlagerung der Produktion in Niedriglohnländer oder durch den Import migrantischer Arbeitskraft aus diesen Ländern. Die erste Form ist heute bei weitem die wichtigste, da die Beweglichkeit der Arbeitskraft aufgrund gesetzlicher Regelungen und militarisierter Grenzen eingeschränkt ist. Nur in Produktionszweigen, die schwer verlagert werden können (zum Beispiel bestimmte Formen der Landwirtschaft und verschiedene Serviceleistungen), setzt man vorwiegend auf migrantische Arbeiter_innen.

Der Durchschnittslohn im globalen Norden steht zu jenem des Südens in einem Verhältnis von 15 zu 1. Wenn wir Afrika alleine betrachten, ist das Verhältnis 60 zu 1. 1,2 Milliarden Arbeiter_innen im globalen Süden verdienen weniger als zwei Dollar pro Tag; 535 Millionen weniger als 1 Dollar. Selbst die niedrigsten Löhne des Nordens sind um einiges höher als die Durchschnittslöhne des Südens. Statistiken der Weltbank zufolge schickten im Jahr 2013 die 210.000 Bangladescher_innen, die in England lebten, pro Kopf 4.058 Dollar in ihr Herkunftsland. Das Durchschnittseinkommen von Textilarbeiter_innen dort lag im selben Jahr bei 1380 Dollar. Das bedeutet, dass in England lebende Bangladescher_innen nach Abzug ihrer Lebenskosten dreimal mehr Geld nach Bangladesch schicken konnten, als Arbeiter_innen dort zu verdienen imstande waren.

Das niedrige Lohnniveau im globalen Süden schafft für das Kapital des Nordens eine höhere Profitrate und für Konsument_innen (die sich auch zum größten Teil im Norden befinden) billigere Preise. Nehmen wir ein konkretes Beispiel: das Unternehmen Apple. Während Apple in den USA Software und Design entwickelt, findet die Produktion der Hardware in Asien statt. Firmen wie Toshiba und Samsung schicken Einzelteile nach Shenzhen in China, wo die Firma Foxconn eine gigantische Fabrik betreibt. In dieser Fabrik, in der unter anderem iPhones und iPads zusammengesetzt werden, arbeiten, schlafen und essen 400.000 chinesische Arbeiter_innen. Im Jahr 2009 erhielten sie den chinesischen Mindestlohn von 83 Cent pro Stunde bei einem Arbeitstag von 12 Stunden, sechs Tage in der Woche.

Der US-amerikanische Soziologe Donald Clelland bezeichnet den Wert, der aufgrund der unterschiedlichen Produktionsbedingungen vom globalen Süden in den globalen Norden transferiert wird, als »verborgen« (dark value), da er in offiziellen Statistiken nicht aufscheint. Clelland zufolge kostete im Jahr 2011 ein iPad in den USA 499 Dollar. Die Produktionskosten lagen bei 275 Dollar, der Profit damit bei 224 Dollar, also bei ca. 45 Prozent. Von den Produktionskosten gingen ganze 33 Dollar an die Firma Foxconn, die den Arbeiter_innen wiederum ganze 8 Dollar als Lohn auszahlte. In den USA würde die Zusammensetzung eines iPad 178 Dollar kosten. Wird zusätzlich die Produktion aller herangezogenen Einzelteile in Betracht gezogen, kämen weitere 147 Dollar hinzu. Außerdem gilt es, die Einsparungen aufgrund unterschiedlicher Umweltabgaben und sonstiger Tarife zu berücksichtigen. Clellands Berechnungen zufolge lag der »verborgene Wert« eines iPad im Jahr 2011 demnach bei mindestens 472 Dollar. Ähnliche Berechnungen können für Schuhe von Nike oder Adidas angestellt werden, sowie für praktisch alle unsere Kleider. Der Politikwissenschaftler Zak Cope beziffert in seinem Buch »Divided World Divided Class« den Wert, der auf diesem Weg im Jahr 2009 von den ausgebeuteten in die imperialistischen Länder floss, auf etwa 6.500 Milliarden Dollar.

Das Verhältnis von Produktion im Süden und Konsumtion im Norden hat wesentliche Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Klassen. Der traditionelle Marxismus unterscheidet im Wesentlichen zwischen zwei Klassen: der kapitalistischen und der proletarischen. Als Karl Marx das Kommunistische Manifest verfasste, ergab die klare Trennung zwischen denjenigen, die Kapital besitzen, und denjenigen, die nichts als ihre Arbeitskraft verkaufen können, durchaus Sinn. Doch seither ist es komplizierter geworden.

Keine gemeinsame Klassenposition

Um gegenwärtige soziale Beziehungen zu verstehen, reicht es nicht aus, alle Menschen, die keine eigenen Produktionsmittel besitzen und ihre Arbeitskraft verkaufen, als Proletarier_innen zu begreifen. Ein Fußballspieler in der englischen Premier League erhält einen jährlichen Durchschnittslohn von beinahe einer Million Pfund, plus diverse Boni. Das ist natürlich ein extremes Beispiel, aber im modernen Kapitalismus zählen auch Manager_innen oder Akademiker_innen zu den Lohnempfänger_innen. Sie alle konsumieren mehr Wert, als sie produzieren. Ob sie den Lohnanteil, der über ihre Lebenskosten hinausgeht, anlegen oder ausgeben, ist ihre persönliche Entscheidung. Ihnen gemeinsam ist, dass sie aufgrund der Höhe ihres Lohns die Möglichkeit haben, Besitz zu akkumulieren bzw. Kredite aufzunehmen, um Produktionsmittel zu erwerben. Viele zahlen außerdem in Pensionskassen, die an Aktien gebunden sind, was sie von Profiten des Kapitals abhängig macht. Lohnempfänger_in zu sein, reicht daher nicht mehr aus, um von einer gemeinsamen Klassenposition zu sprechen. Die Lebensbedingungen und unmittelbaren Interessen von Lohnempfänger_innen sind, global betrachtet, zu unterschiedlich.

Selbst wenn die politischen Kämpfe im globalen Norden und im globalen Süden im Rahmen desselben Systems stattfinden, haben sie sehr unterschiedliche Voraussetzungen; das gilt für ihre ökonomischen Grundlagen, ihre Ausdrucksformen und ihre Perspektiven. Die Klassenkämpfe des Südens berühren die Grundlagen des kapitalistischen Systems unmittelbar und haben enorme Sprengkraft. In ihnen geht es nicht darum, den Lebensstil des Nordens zu kopieren, weil es darum nicht gehen kann; schließlich beruht der Lebensstil des Nordens auf der Ausbeutung des Südens. Der globale Kapitalismus kann es sich nicht leisten, den Lebensstandard der Weltbevölkerung auf das Niveau von, sagen wir, Deutschland zu heben und gleichzeitig jene Profitraten aufrechtzuerhalten, die weitere Akkumulation garantieren.

Der Wohlfahrststaat des Nordens ist eine besondere Form des kapitalistischen Staates. Lenin nannte ihn einen »Schmarotzerstaat«. Seine Regierungsform ist die der parlamentarischen Demokratie mit allgemeinem Stimmrecht. Er übernimmt die Verantwortung für Sozialleistungen. Zwar ist der Wohlfahrtsstaat nicht in allen Ländern des globalen Nordens gleich stark ausgeprägt und zudem in den letzten Jahren durch den Neoliberalismus unter Druck geraten, doch selbst marktliberale Parteien bekennen sich aus wahltaktischen Gründen zu ihm. So wie der absolutistische Staat des 18. Jahrhunderts eine Machtteilung zwischen der Aristokratie und dem aufstrebenden Bürgertum darstellte, stellt der liberale Staat eine Machtteilung zwischen dem Kapital und der Arbeiterklasse dar. Es handelt sich um eine neue Form, die Bevölkerung zu kontrollieren. Die Staatsbürger_innen erhalten Leistungen vom Staat, die Nicht-Staatsbürger_innen vorenthalten bleiben. Staat und Staatsbürger_innen haben damit gemeinsame - »nationale« - Interessen. Die Arbeiterklassen der reichen Länder der Welt werden so von gefährlichen Massen zu loyalen Bürger_innen.

Eine gemeinsame nationale Identität bedeutet natürlich nicht, dass es keinen Klassenkampf mehr gibt. Die Repräsentant_innen des Kapitals und der Arbeiterklasse kämpfen in Parteien, in Institutionen und in den Medien um die Macht im Staate. Es gibt Forderungen nach höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen. Doch die Perspektive dieses Klassenkampfs ist begrenzt. Solange die Arbeiterklasse in den imperialistischen Ländern von der Ausbeutung des Südens profitiert, wird sie keinen antiimperialistischen Kampf führen; und solange die Profite, die die Bourgeoisie aus dieser Ausbeutung abschöpft, groß genug sind, gibt es für sie keinen Grund, den Klassenkampf zu verschärfen.

Die Verteidigung des Wohlfahrtsstaats im globalen Norden liegt im Interesse der dortigen Arbeiterklassen. Aber dies ist kein Kampf, der gemeinsam mit den Kämpfen der Arbeiterklassen des globalen Südens geführt wird. Solange man sich auf die Verteidigung eigener Privilegien konzentriert, wird das Resultat im besten Fall eine Unterstützung neoliberaler Parteien sein (zu denen heute die sozialdemokratischen gehören) und im schlimmsten Fall ein Anwachsen rechtsgerichteter nationalistischer Strömungen. Auch die meisten linken Strömungen im globalen Norden betrachten das Problem das Wohlfahrtsstaats in einem nationalen Kontext, anstatt eine globale Perspektive einzunehmen.

Eine wichtige Minderheit

Es fällt schwer, innerhalb der Linken des globalen Nordens strategische Ansätze zu erkennen, die eine ökonomische Befreiung des Südens in Betracht ziehen. Doch wenn sich die Krise des Kapitalismus weiter zuspitzt, ist eine solche Perspektive unumgänglich. Denn nur so ist zu vermeiden, dass sich die Arbeiterklassen des Nordens rechtsgerichteten Bewegungen anschließen und in noch stärkeren Konflikt mit progressiven Bewegungen des globalen Südens geraten.

Es ist nicht unsere Aufgabe, die Krise des Kapitalismus in Europa zu lösen, um wieder zum Wohlfahrtskapitalismus zurückzukehren. Unsere Aufgabe ist es, in Zusammenarbeit mit den Arbeiterklassen des globalen Südens Lösungen auf der »anderen Seite« des Kapitalismus zu finden.

Unter den gegebenen Bedingungen ist es schwierig, im Norden breite Unterstützung für eine solche Politik zu finden. Sie mag als »Landesverrat« oder sogar als »Klassenverrat« betrachtet werden. Antiimperialist_innen sind seit langem eine Minderheit in unserem Teil der Welt und dies wird sich so schnell nicht ändern. Möglichkeiten zum Widerstand gibt es jedoch immer. Die Herausforderung ist, global orientierte und langfristige Strategien sowie eine entsprechende politische Praxis zu entwickeln.

Torkil Lauesen lebt in Kopenhagen. Von 1972 bis 1988 war er Mitglied der sogenannten Blekingegade-Gruppe, die Befreiungsbewegungen des globalen Südens mit legalen wie illegalen Mitteln unterstützt. Gabriel Kuhn, der diesen Text aus dem Dänischen übersetzte, gab zur Geschichte der Blekingegade 2013 das Buch »Bankraub für Befreiungsbewegungen« (Unrast-Verlag) heraus.