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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 612 / 19.1.2016

Sexualisierte Gewalt und Wahrheit

Deutschland Das Reden über die Silvesternacht in Köln kann schnell selbst zur »Rape Culture« werden

Von Julia Fritzsche

»Hast du 'ne Meinung oder recherchierst du noch?« Nach diesem Motto reden auch in diesen Tagen wieder viele mit, wenn es um sexuelle Gewalt geht. Die nordkoreanische Nachrichtenagentur DPRK weiß: »Hooligans überfallen die Innenstadt von Köln, vergewaltigen Frauen. Bürger sehnen sich nach DDR zurück.« Die britische Sun schreibt: »Es waren alles nordafrikanische oder arabische Immigranten.« Und Justizminister Heiko Maas macht in den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht nichts Geringeres als einen »Zivilisationsbruch« aus.

Sexuelle Gewalt, das zeigen einmal mehr die Reaktionen auf Köln, wird also nicht nur unterschiedlich gedeutet, sie wird auch in eine bestimmte politische Agenda integriert: Lob der DDR, Plädoyer für mehr Ordnung und Überwachung, Forderung nach Asylrechtsverschärfung. Problematisch sind nicht nur diese oft reaktionären Zielsetzungen. Problematisch ist auch, dass die Gewaltgeschehnisse instrumentalisiert werden. Trotz all des Alarmismus - sogar Merkel, die sich selten persönlich betroffen zeigt, findet die Taten »unerträglich« - treten dann die eigentlichen Taten und ihre Wirkung auf die Betroffenen in den Hintergrund, und das Reden über Gewalt verliert seine eigentliche Funktion: nämlich die Gewalt zu ächten. Statt sexuelle Gewalt einzudämmen und über ihre zerstörerische Wirkung aufzuklären, kann die öffentliche Beschäftigung mit sexueller Gewalt so schnell gegenteilige Wirkung haben und selbst Teil einer Rape Culture werden. Instrumentalisierung ist nur eine Variante der Rape Culture, die sich nach Köln wieder gezeigt hat. Doch was war das nochmal: Rape Culture?

Let's talk about Rape Culture!

Der Begriff »Rape Culture«, also »Vergewaltigungskultur«, ist in Deutschland in der feministischen Szene und an einigen sozialwissenschaftlichen Instituten vor allem durch die ersten Slutwalks seit 2011 bekannter geworden. (ak 576) Slutwalks sind Demos, bei denen Slogans wie »Nein heißt nein!« und manche der Teilnehmer_innen in freizügiger Kleidung für sexuelle Selbstbestimmung auf die Straße gehen. Aufgekommen ist der Begriff in den 1970er Jahren in den USA, als Frauen erstmals in einem größeren Umfang öffentlich über Vergewaltigungen sprachen. 1974 erschien das Buch »Rape: the first Sourcebook for Women« von Noreen Connell und Cassandra Wilson. Dort schilderten Frauen aus erster Hand Vergewaltigungen und analysierten gesellschaftliche Strukturen, die sexuelle Gewalt beförderten: Geschlechterbilder, juristische Regelungen oder kulturelle Darstellungen in Romanen und Filmen.

Rape Culture meint seitdem also eine Gesellschaft, in der sexuelle Gewalt in hohem Maße vorkommt, Medien, Kultur, Politik und Gesellschaft diese sexuelle Gewalt aber relativieren, dulden oder sogar befördern und den Betroffenen eine Mitschuld geben. Auch Deutschland ist davon betroffen. Zahlreiche Indizien deuten darauf hin, dass wir in einer solchen Rape Culture leben. Köln bestätigt das einmal mehr - und zwar nicht nur am oben genannten Beispiel der Instrumentalisierung.

Zunächst: Ja, sexuelle Gewalt kommt in Deutschland in hohem Maße vor. Nicht nur an Silvester in einer Großstadt. Darauf macht aktuell die Kampagne #ausnahmslos aufmerksam; das zeigen auch schon seit einigen Jahren Kampagnen wie #aufschrei, »ichhabnichtangezeigt« oder »hollaback«, die Fälle sexueller Übergriffe sammeln, oder die Studie des Familienministeriums, wonach 58 Prozent der Frauen in Deutschland schon einmal sexuelle Belästigung erfahren haben.

Und: Ja, für diese Taten - und das ist ebenso ein Merkmal der Rape Culture - werden die Betroffenen oft mitschuldig gemacht. Wenn eine Kampagne der Stadt München Frauen rät, nicht allein vom Oktoberfest nach Hause zu gehen, oder die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker Frauen empfiehlt, eine Armlänge Abstand zu fremden Personen zu halten.

Begrapschen lernen mit Joko

Neben diesem Victim Blaming, der Beschuldigung der Opfer, ist ein Hauptmerkmal der Rape Culture, sexuelle Gewalt zu verharmlosen. Und ja, auch das tut unsere Gesellschaft. Manchmal schlicht sprachlich, wenn Medien statt von »Vergewaltigungsvorwürfen« gegen Prinz Andrew, Ex-IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn oder Schauspieler Bill Cosby lieber von »Sex-Affären« oder »Sex-Vorwürfen« sprechen. Einen »Sex-Vorwurf« könnte man eher einem WG-Mitbewohner machen, der Sex hat, obwohl er mit Badputzen dran ist, aber nicht jemandem, der mutmaßlich eine Gewalttat begangen hat.

Das Verharmlosen findet aber auch in unserem popkulturellen Bereich statt: wenn der Moderator Joko vom Krawallduo Joko und Klaas auf ZDFneo bei einer Wette einer Messehostess ungefragt an Brust und Po fasst, und Klaas kommentiert: »Die hat sich richtig entwürdigt gefühlt, die steht jetzt bestimmt sechs Stunden unter der Dusche und heult.« Ein verharmloster sexueller Übergriff mit 500.000 Klicks auf YouTube.

Dass es völlig okay ist, sich Frauen einfach zu nehmen, kultiviert auch die österreichische Popband Wanda. »Nimm sie, wenn du glaubst, dass du's brauchst, steck sie ein wie 20 Cent«, heißt es in einem Song auf ihrem aktuellen Album »Bussi«. (ak 609) Auch Filme und Serien verharmlosen sexuelle Gewalt, indem sie Vergewaltigungen so »erotisch« wie Sexszenen inszenieren oder sie als Plotfüller einsetzen, ohne Ursachen oder Folgen der Tat zu thematisieren oder den Handlungsstrang überhaupt weiter zu verfolgen. Auch in der Serie Game of Thrones kommen massenhaft Vergewaltigungsszenen vor, und in der Netflix-Serie Narcos schiebt Drogenboss Pablo Escobar einer - von ihm abhängigen - Journalistin regelmäßig entweder eine Pistole in die Vagina oder würgt seine »Geliebte«, ohne dass das weiter Thema wäre.

Wer jetzt österreichische Schlager liebt und Wanda hört oder im Bett abends Narcos guckt, fällt nicht gleich über die nächstbeste Person her, malträtiert und vergewaltigt sie. Doch Bilder, Sprache, Riten und Gewohnheiten prägen unser Bewusstsein und können in anderen Situationen handlungsleitend sein. Nach einem Streit, nach Drogen und Alkohol oder in Ausnahmesituationen wie auf einem Volksfest, in einem Stadion, auf einem Festival, im Krieg oder in einer Silvesternacht können sie dazu beitragen, dass moralische Überzeugungen aufweichen und Gewalthandlungen nicht mehr als solche wahrgenommen werden. Die Täter in Köln - sollten Nichtdeutsche unter ihnen sein - haben sich die sexuellen Übergriffe vermutlich nicht bei Joko und Klaas abgeguckt, sondern in ihrer eigenen frauenverachtenden, patriarchalen oder eben Rape-Kultur - und vielleicht war da auch eine Folge Game of Thrones dabei.

Das letzte hier zu erwähnende Merkmal einer Rape Culture, das sich in besonderer Weise in Köln zeigte, sind die sogenannten Vergewaltigungsmythen: bestimmte gesellschaftliche Vorstellungen, wie eine Vergewaltigung auszusehen hat. Auch die sind durch Kriminalromane oder -filme geprägt: Ein unbekannter Täter vergewaltigt eine junge Frau in ansehnlichem Outfit mit physischer Gewalt im öffentlichen Raum. Ja, diese Fälle gibt es. Immerhin 20 Prozent der Taten üben tatsächlich unbekannte Täter aus - und annähernd so war es auch an Silvester: Unbekannte Personen belästigten und vergewaltigten Frauen auf dem Bahnhofsvorplatz in Köln und an anderen öffentlichen Orten in Hamburg und Stuttgart. Die Ereignisse entsprachen also sehr stark dem Stereotyp. Deshalb ist es auch kein Wunder, dass die Öffentlichkeit so stark reagiert. Das liegt eben nicht nur an der von vielen erwähnten jeweiligen politischen und mitunter rassistischen Agenda (»die Täter waren alle nordafrikanisch oder arabisch«), sondern auch daran, dass die mutmaßlichen Täter in der Wahrnehmung eben doppelt »fremd« waren: fremd im rassistischen Sinne und fremd im Sinne von: den Betroffenen unbekannt.

Die Kluft zwischen Erleben und Norm

Zu dem Stereotyp einer typischen Tat gehört auch ein typisches Opfer: das »Opfer« ist oft weiß, jung, der Mittel- oder Oberschicht angehörend. So berichteten Medien nach der Gruppenvergewaltigung von Jyoti Singh Pandey 2012 in der indischen Stadt Delhi, dass es sich um eine 23-jährige »Medizinstudentin« gehandelt habe, die »mit ihrem Freund« unterwegs war. Auch davon, wie sich Betroffene zu verhalten haben, gibt es konkrete Vorstellungen: Während der Tat wehrt sich »das Opfer« mit Händen und Füßen, und sofern es die Tat überlebt, ist es danach beschämt, psychisch gebrochen, redet nicht. In Filmen sitzt dann üblicherweise eine Frau zusammengekauert in der Dusche und hält die Hände vor das Gesicht - das zeigt Klaas' Einfallsreichtum.

Das Problem an diesen Mythen ist, dass sich viele Betroffene darin nicht wiederfinden: Tatsächlich weinen oder schämen sich manche Frauen nicht, gehen vielleicht sogar danach wieder ihrem Alltag nach, statistisch gesehen haben sie auch eher seltener einen kurzen Rock, sondern häufiger eine Jogginghose an und sind auch nicht notwendigerweise jung. 69 Prozent der sexuellen Gewalt in Deutschland findet in der eigenen Wohnung statt, die Hälfte durch den Partner oder Ex-Partner. Wenn wir jetzt sinnvoll über sexuelle Gewalt reden wollen, sollten wir uns also nicht nur auf die Erzählung »fremder Mann missbraucht junge Frau im öffentlichen Raum« fokussieren, wie es in Köln der Fall war. Denn die Kluft zwischen individuellem Erleben und gesellschaftlicher Norm führt dazu, dass die Betroffenen an ihrer eigenen Wahrnehmung zweifeln oder berechtigte Sorge haben, dass Bekannte, Polizei und Justiz das tun.

Es ist gut, dass wir jetzt über sexuelle Gewalt reden. Entscheidend ist aber, wie wir das tun. Wir sollten sexuelle Gewalt ernst nehmen und nicht für Vorratsdatenspeicherung oder Abschiebung instrumentalisieren. Wir sollten über sexuelle Gewalt sprechen, wenn sie am Kölner Bahnhofsvorplatz stattfindet und wenn sie in einer Wohnung stattfindet. Wir sollten über sexuelle Gewalt reden, wenn Frauen betroffen sind und wenn Männer, Transsexuelle und Sexarbeiterinnen betroffen sind. Vor allem aber sollten wir über sexuelle Gewalt reden, wenn sie beim Musikhören oder Seriengucken zu uns ins Bett gekrochen kommt.

Julia Fritzsche macht Radio und Fernsehen zu Gender, Armut, Stadtentwicklung und Sprache.