Zwei Regionalmächte kämpfen um Einfluss
International Im Konflikt zwischen Saudi-Arabien und Iran dient religiöse Rhetorik der Verschleierung geopolitischer Interessen
Von Harald Etzbach
Mit der Hinrichtung des populären schiitischen Klerikers Nimr Baker al-Nimr Anfang Januar hat Saudi-Arabien erneut die religiös-konfessionellen Spannungen in der Region angeheizt und insbesondere seinen regionalen Konkurrenten Iran herausgefordert. In Saudi-Arabien selbst gingen Tausende von Schiiten auf die Straße und skandierten Parolen zum Sturz des saudischen Königshauses, während in Teheran wütende Demonstranten die saudische Botschaft stürmten. Im Gegenzug brach Saudi-Arabien die diplomatischen Beziehungen zum Iran ab und organisierte eine regionale Koalition - bestehend aus Bahrain, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Katar, Kuwait, Dschibuti und dem Sudan - mit dem Ziel, den Iran weiter zu isolieren.
Im Westen wird die Auseinandersetzung zwischen beiden Ländern gern mit der »uralten« Spaltung zwischen sunnitischem und schiitischem Islam erklärt. Das geht jedoch am Kern des Konflikts vorbei, der im Wesentlichen geopolitischer und ökonomischer Natur ist. Religion wird von beiden Seiten als Instrument ideologischer Mobilisierung eingesetzt. Kompliziert wird die Situation zudem dadurch, dass sich hier innenpolitische, regionale und Aspekte internationaler Politik miteinander vermengen.
Wie so oft, dient auch die aktuelle Konfrontation zwischen Saudi-Arabien und dem Iran der Ablenkung von innenpolitischen Problemen. So versucht Saudi-Arabiens neuer König Salman seine Position gegenüber unterschiedlichen konkurrierenden Strömungen im saudischen Herrscherhaus zu konsolidieren. Als Verteidigungsminister hat Salman im April letzten Jahres seinen Sohn Mohammed eingesetzt. Auch er steht unter Profilierungszwang.
Das saudische Königshaus steht unter Druck
In den letzten Jahren ist das saudische Königshaus aus unterschiedlichen Richtungen unter Druck geraten. So gibt es zunächst die etwa zehn bis 15 Prozent der saudischen Bevölkerung umfassende schiitische Minderheit, die sich seit langer Zeit gegen die Unterdrückung und Ausgrenzung durch den als Staatsdoktrin verordneten wahabitisch-sunnitischen Mehrheitsislam wehrt. Der Großteil dieser schiitischen Minderheit lebt zudem in der am Persischen Golf gelegenen Ostprovinz (asch-Scharqiyya), in der die größten Ölvorkommen des Landes lagern.
Auf der anderen Seite steht eine dschihadistische Opposition, die ebenfalls die Legitimität der Herrscherfamilie der al-Saud infrage stellt und die Staatsform der Monarchie prinzipiell für unvereinbar mit dem Islam hält. Anfang Januar wurden zusammen mit dem Schiiten a-Nimr auch eine Reihe von al-Qaida-Mitgliedern hingerichtet. Manche Beobachter gehen dabei sogar davon aus, dass die Hinrichtung al-Nimrs auch der Beruhigung jener Teile des wahabitischen Klerus dienen sollte, die al-Qaida oder anderen dschihadistischen Gruppen zuneigen.
Schließlich gibt es eine wachsende säkulare Opposition. Bei einer Umfrage vor einigen Jahren bezeichnete sich bereits knapp ein Fünftel der befragten Saudis als »nichtreligiös« - keine ungefährliche Aussage in einem Land, in dem Atheisten qua Gesetz mit »Terroristen« gleichgestellt werden.
Für soziale Spannungen dürfte in nächster Zeit auch der immer weiter sinkende Ölpreis sorgen. Zwar wird die Überflutung der Märkte mit billigem Öl von Saudi-Arabien einerseits auch bewusst zur Schwächung von Konkurrenten (nicht zuletzt des Iran) eingesetzt, andererseits führen die hierdurch verursachten Einkommenseinbußen auch zu Finanzierungsengpässen im Land selbst. So stieg im letzten Jahr das saudische Haushaltsdefizit auf 15 Prozent des Bruttosozialprodukts, und die saudischen Devisenreserven gingen um 100 Milliarden US-Dollar (von insgesamt 650 Milliarden US-Dollar) zurück.
Besonders dramatisch ist die Jugendarbeitslosigkeit. Sie liegt mittlerweile bei knapp 30 Prozent, und das in einem Land, in dem zwei Drittel der Bevölkerung unter 30 Jahre alt sind. Ende 2015 wurde daher eine Reihe von Austeritätsmaßnahmen angekündigt: Die (bisher stark subventionierten) Preise für Benzin, Elektrizität und Wasser sollen steigen, es sollen eine Mehrwertsteuer und verschiedene spezifische Verbrauchssteuern eingeführt werden. Umfangreiche Privatisierungsmaßnahmen soll es im Bereich des Gesundheitssystems und anderer öffentlicher Dienste geben. In mehr als zwei Dutzend bisherigen Staatsbetrieben sind Teilprivatisierungen geplant, u.a. bei der nationalen Fluggesellschaft sowie bei Telekommunikations- und Elektrizitätsfirmen. Am spektakulärsten jedoch ist der geplante Verkauf von Anteilen der Raffinerie-Gemeinschaftsunternehmen des staatlichen Ölkonzerns Aramco an ausländische Firmen.
Im Februar wird im Iran gewählt
Auch im Iran gibt es innenpolitische Spannungen. Die wirtschaftliche Lage ist schwierig, die Inflationsrate liegt bei 16,2 Prozent, die Arbeitslosenquote im zweistelligen Bereich (10,2 Prozent), und auch hier ist die Jugendarbeitslosigkeit besonders hoch: Nach Angaben der Weltbank sind 17,9 Prozent der Männer und 39 Prozent der Frauen unter 30 Jahren arbeitslos, hinzu kommt ein hoher Grad von Unterbeschäftigung.
In dieser Situation sollen Ende Februar Wahlen zum Parlament und sogenannten Expertenrat stattfinden. Die an einer Annäherung an den Westen interessierte Fraktion um Präsident Ruhani will vor allem eine Implementierung des im Juli letzten Jahres geschlossenen Atomabkommens noch vor den Wahlen. Das wäre dann auch der Tag, an dem die Sanktionen der USA, der EU und der UN wegfallen würden. Eine ultrakonservative Strömung lehnt dieses Abkommen weiterhin ab. Es wird vermutet, dass aus jenen Kreisen auch die Angreifer auf die saudische Botschaft kamen. Paradoxerweise kommen sich hier iranische Ultrakonservative und die wahabitische Herrscherclique in Riad ausgesprochen nahe, denn Saudi-Arabien gehörte (neben Israel) zu den vehementesten Gegnern des Nukleardeals mit dem Iran. Nicht ganz zu Unrecht sah Saudi-Arabien hierin ein deutliches Signal einer Annäherung der USA an den Erzrivalen Iran und damit den Verlust der »special relationship« mit Washington und eine Bedrohung seiner Stellung als Regionalmacht. Tatsächlich hatte US-Präsident Obama bereits sehr früh in seiner ersten Amtszeit auf bessere Beziehungen zum Iran gesetzt - aus US-Sicht eine Notwendigkeit, nachdem der Iran, nicht zuletzt als Folge der Invasion des Irak 2003, erheblich an regionalem Einfluss gewonnen hatte. Auch in diesem Kontext lässt sich die Hinrichtung des schiitischen Geistlichen al-Nimr interpretieren: als eine bewusste Eskalation mit dem Ziel, die US-amerikanische Annäherung an den Iran zu torpedieren und die USA zu einer eindeutigen Parteinahme zugunsten Saudi-Arabiens zu zwingen.
Der Kampf um regionale Vormachtstellung wird von beiden Seiten auf ideologischer Ebene mit religiöser Rhetorik und der Forcierung konfessioneller Spaltungen und nationalistischer Reflexe geführt. Dabei werden die wirklichen Probleme verdeckt. Probleme die zu tun haben mit (verweigerter) politischer und ökonomischer Teilhabe, sozialer Gerechtigkeit und den Spannungen zwischen Zentrum und Peripherie. Beide Länder sind zudem in kriegerische Auseinandersetzungen außerhalb ihrer Grenzen verwickelt. Der Iran ist Kriegspartei in Syrien auf der Seite des Assad-Regimes, Saudi-Arabien steht an der Spitze einer von westlichen Staaten unterstützten Militärallianz, die seit fast einem Jahr den Jemen, eines der ärmsten Länder der Region, ins Elend bombardiert.
Aggressiv nach außen, brutal repressiv nach innen
Die Regierungen beider Länder, die absolutistische Monarchie in Riad genauso wie das Mullahregime in Teheran, sind nicht nur aggressiv nach außen, sondern schrecken auch vor der brutalen Unterdrückung der eigenen Bevölkerung nicht zurück. Ihren barbarischsten Ausdruck findet diese Unterdrückung in der in beiden Ländern in großem Maß angewandten Todesstrafe. Sowohl in Saudi-Arabien wie auch im Iran hat die Zahl der vollstreckten Todesurteile im letzten Jahr Rekordhöhen erreicht. Nach Angaben von Amnesty International wurden in Saudi-Arabien 2015 mindestens 157 Verurteilte hingerichtet, so viele wie seit 20 Jahren nicht. Im Iran wurden, ebenfalls nach Angaben von Amnesty, im ersten Halbjahr 2015 beinahe 700 Menschen exekutiert. Damit nehmen diese beiden Länder bei den weltweit vollstreckten Todesurteilen hinter China den zweiten (Iran) und dritten (Saudi-Arabien) Platz ein.
Für fortschrittliche und demokratische Bewegungen in der Region können diese Staaten keine positiven Bezugspunkte und erst recht keine Partner im Kampf um politische Teilhabe und soziale Gerechtigkeit sein. Die Regierungen beider Länder versuchen auf zynische und berechnende Weise, konfessionelle Spaltungen im Sinne einer Politik des »Teile und herrsche« zu benutzen und zu vertiefen. Mittelfristig wird es für emanzipatorische Bewegungen im Nahen Osten daher darauf ankommen, solche Spaltungen zu überwinden und sich auf der Grundlage gemeinsamer sozialer und politischer Interessen zu verständigen.
Harald Etzbach analysierte in ak 609 die geopolitischen Interessen der in Syrien involvierten Staaten.