Der unmögliche Frieden
International Wie geht es weiter in Nordkurdistan: Waffenstillstand oder Intensivierung des Bürgerkriegs?
Von Peter Schaber
G?yasettin Sehir ist sich sicher, dass der Krieg das Problem nicht löst, aber dennoch sieht er nur zwei Möglichkeiten: »Entweder wird es einen wirklichen Frieden geben, der den Namen auch verdient. Oder einen wirklichen Bürgerkrieg.« Sehir, im Dicle F?rat Kulturzentrum für Kinovorführungen und Filmkunst zuständig, lebt in Diyarbak?r-Sur, einer der Hochburgen des kurdischen Widerstandes in der Türkei.
»Was kommt, wissen wir nicht«, sagt er. Kaum einen Satz hört man öfter, wenn man durch das Kriegsgebiet im Südosten der Türkei reist. Dort, wo seit Monaten türkische Armee, Polizei und faschistische »Spezialeinheiten« ihr Unwesen treiben, lässt sich im Moment tatsächlich schwer abschätzen, wie dieser bewaffnete Konflikt ein Ende finden könnte. Denn die Eskalation der Gefechte zwischen den Truppen der AKP-Regierung in Ankara und den eilig aufgestellten Zivilverteidigungseinheiten der kurdischen Bewegung (YPS) hat soziale und politische Dynamiken angestoßen, deren mittel- und langfristige Auswirkungen drastisch sein werden.
»Säubern« und »vernichten«
Den Rahmen, der die Möglichkeiten des Widerstandes absteckt, zwingt im Moment der Staat der Bewegung auf. Nachdem Ende vergangenen Jahres mehrere kurdische Städte und Regionen ihre Autonomie erklärten, haben Sicherheitskräfte schnell und mit immenser Brutalität angegriffen. Wie drastisch und mit welchem Eskalationsgrad das geschah, so berichten viele kurdische Kämpfer_innen, sei überraschend gewesen.
Nimmt man zudem die Deklarationen der türkischen Machthaber um Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und Ahmet Davutoglu ernst, so scheint es - zumindest bislang - aus der Perspektive Ankaras keinen wie auch immer gearteten Wunsch nach einem neuen Waffenstillstand und einer Wiederaufnahme von Verhandlungen zu geben. »Unsere Sicherheitskräfte säubern weiterhin jeden Ort von Terroristen, in den Bergen wie in den Städten, und wir werden damit weitermachen«, drohte Erdogan in seiner Neujahrsansprache. Wer den Sprachgebrauch in der Türkei kennt, der weiß, dass der Begriff »Terrorist« sich auf jeden erstreckt, der sich auf die eine oder andere Weise gegen die Regierung stellt. Die bloße Sympathie für die Ziele der Arbeiterpartei Kurdistans PKK reicht aus, um als »Terrorist« zu gelten.
Diese Sympathien aber hegt im Südosten der Türkei nicht nur eine unbedeutende Minderheit, sondern die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung. Was Erdogan und seine Komplizen meinen, wenn sie von der »Vernichtung« der PKK und der »Säuberung« des Gebiets sprechen, kann also durchaus als Androhung eines Genozids verstanden werden. Bereits vor Jahren wurde in regierungsnahen Medien in der Türkei über eine »tamilische Lösung« der »Kurdenfrage« debattiert - also über die Zerstörung der kurdischen Bewegung durch ein Massaker, ähnlich dem, dass die Regierung Sri Lankas an den Tamilen verübte, um die Liberation Tigers of Tamil Eelam zu schlagen.
Allerdings scheint das Vorgehen der türkischen Regierung vielschichtiger zu sein und nicht allein auf Mord zu setzen. Vertreibungen und damit die Zerstörung sozialer Milieus spielen eine große Rolle. Hochburgen der kurdischen Bewegung sollen langfristig umgestaltet werden, in Diyarbak?r-Sur etwa liegen bereits fertige Pläne zur Gentrifizierung des durch die Kämpfe zerstörten Stadtteils vor. Diese »urbane Transformation« soll dezidiert auch den »Sicherheitsaspekt« in den Mittelpunkt stellen, also die Gebiete mit Polizei- und Militäreinrichtungen bestücken, die Straßen breiter und damit für Panzer leichter befahrbar machen.
Gleichzeitig hat der Krieg massive Auswirkungen auf die inneren Beziehungen der kurdischen Bewegung. Es entstehen Konflikte, die von der türkischen Aggression erzeugt werden, sich aber zunächst als »interne« Konflikte darstellen. So etwa, wenn es um den Wegzug aus den umkämpften Gebieten geht. Die organisierten Teile der Bevölkerung und vor allem die kämpfenden Strukturen haben ein legitimes Interesse daran, dass die Menschen nicht fliehen - denn genau das ist das Ziel der Vertreibungspolitik des Feindes. Ein großer Teil der Bevölkerung will ohnehin bleiben, egal, was passiert. Ein auch nicht kleiner Teil allerdings hat Angst und will weg. Auch das ist legitim, wer würde das leugnen wollen? Und so entsteht durch die Aggression eine Auseinandersetzung zwischen denen, die den Stadtteil verteidigen wollen, und denen, die ihn verlassen wollen.
Militarisierung des Konflikts
Zugleich verengt der Angriff die Palette an politischen Aktionsformen zunehmend auf allein militärische. Friedliche Demonstrationen, wie sie etwa in Amed immer wieder stattfinden, werden regelmäßig mit scharfen Waffen attackiert. In den Gebieten mit Ausgangssperren ist jede Ansammlung von Menschen auf der Straße den Sicherheitskräften legitimes Ziel für tödliche Angriffe. Die Schaffung medialer Öffentlichkeit hat angesichts des Übergewichts antikurdischer Medien innerhalb der Türkei auch nur eine begrenzte Wirkung und unterliegt zudem scharfer Repression. Parlamentarische Mechanismen zählen nichts, denn unliebsame Bürgermeister und Stadtverwaltungen werden von der Zentralregierung einfach entmachtet, bisweilen auch inhaftiert.
Wer sich also effektiv wehren will, dem bleibt eigentlich nur der Griff zur Kalaschnikow. Das allerdings hat negative Auswirkungen auf die Vielfältigkeit des kurdischen Befreiungskampfes. Jene Institutionen, von denen die »demokratische Autonomie«, das Gesellschaftsprojekt der Bewegung, lebt, können unter den Bedingungen des Krieges nicht so arbeiten wie in Friedenszeiten.
Der dem Interesse der kurdischen Bewegung entsprechende Wunsch ist also der nach Frieden. Allein, niemand glaubt mehr so recht daran, dass mit der bestehenden Regierung Frieden möglich sein könnte. Und der »Lösungsprozess« der vergangenen Jahre ist vielen noch in schlechter Erinnerung. Die PKK machte weitgehende Zugeständnisse und zeigte sich zu einer Demilitarisierung des Konflikts durchaus bereit. Die türkische Regierung reagierte mit einem Ausbau von Militär- und Polizeistationen, Massenverhaftungen und der Nichteinhaltung von Vereinbarungen.
Derzeit kann man die allgemeine Stimmungslage in den kurdischen Gebieten mit den Worten eines YPS-Kämpfers aus Nusaybin wiedergeben: »Wir haben nicht viel Hoffnung, dass es mit dieser Regierung Frieden geben kann. Denn jedes Mal, wenn die PKK sich zum Frieden bereit erklärt hat, hat Ankara das zunichte gemacht. Immer und immer wieder. Wir denken, dass die PKK auf diese Angriffe antworten wird.«
Die Hoffnung, dass im Frühling, wenn die Wetterverhältnisse es zulassen, eine Großoffensive der PKK erfolgen wird, teilen viele im Südosten der Türkei. Ob sie stattfindet, und wenn ja, in welcher Form, bleibt aber der Natur der Sache entsprechend unklar. Viele Faktoren spielen hier eine Rolle: Plant die Türkei einen militärischen Angriff auf Syrien, um die kurdischen Volksverteidigungseinheiten zu schwächen? Wie werden sich in diesem Fall die Westmächte verhalten, die Erdogan bislang bei seinen Massakern Rückendeckung geben? Wird dem inhaftierten Kurdenführer Abdullah Öcalan die Gelegenheit eingeräumt werden, sich zu Wort zu melden?
Auch wenn ein Waffenstillstand noch vor dem Frühling nicht völlig unmöglich ist, mittelfristig werden die Beziehungen zwischen der kurdischen Bewegung und Ankara durch das derzeitige Vorgehen der AKP-Regierung schwere Schäden davontragen. Denn eigentlich war bereits das Konzept der »demokratischen Autonomie« durchaus ein Kompromiss mit der Türkei, zielte es doch nicht mehr auf die Schaffung eines eigenen kurdischen Staates ab. Dazu kamen die zahllosen Zugeständnisse, die während des »Lösungsprozesses« der vergangenen Jahre gemacht wurden. Eine ganze Generation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die diese politischen Entwicklungen mitgemacht hat, steht nun vor der Frage: Wenn diese Massaker, diese Vertreibungen, diese Repression das Resultat des Versuches sind, mit der AKP-Regierung zu verhandeln, macht es dann überhaupt Sinn, mit dem Feind ins Gespräch zu gehen?
Irreparabler Schaden
Wegen der engen Verknüpfung der Interessenlage in Syrien mit der im Krieg in Nordkurdistan bleibt die Entwicklung von Strategien für den Frühling 2016 für alle Seiten schwierig. Sicher ist nur, dass die Erfahrungen der barbarischen Angriffe auf Cizre, Sur, Nusaybin und S?rnak nicht vergessen werden und dass die herrschende Clique rund um Erdogan dem Verhältnis der nun jungen Generation von Kurd_innen zum türkischen Staat einen irreparablen Schaden zugefügt hat. Sicher ist auch, dass die türkische Regierung keinerlei Friedenswillen hat und bis zum Äußersten gehen wird, wenn ihr nicht entweder durch militärische Verluste, ein Schwinden der Gunst der türkischen Bevölkerung oder äußeren Druck in den Arm gefallen wird.
Für uns hier in Deutschland ist zudem sicher: Unsere Regierung stützt das Vorgehen gegen die kurdische Bewegung und macht sich durch die zahlreichen Kooperationen, die im militärischen, polizeilichen, diplomatischen und wirtschaftlichen Bereich mit Ankara bestehen, mitschuldig. Die Reaktion der Linken hierzulande hat auf diese Komplizenschaft noch nicht die richtigen Antworten gefunden. Anders als im Fall der Kobanê-Solidarität, die tatsächlich eine gewisse Breite erreichte, scheint das Bewusstsein dafür, wie entscheidend der jetzige Kampf in Bakur ist, noch nicht vorhanden zu sein. Das aber wäre wichtig. Denn in Nordkurdistan geht es gerade um nichts weniger als um das Fortbestehen eines der wenigen linken Projekte, die derzeit noch geschichtlich und gesellschaftlich wirkmächtig sind.
Peter Schaber ist Redakteur beim Lower Class Magazine. Er war im Januar mit einer Delegation für mehrere Wochen in Kurdistan, um über die Lage vor Ort zu berichten.