Gegen Polizeigewalt, dreckiges Trinkwasser und Wohnungsnot
International In den USA hat die Bewegung »Black Lives Matter« das Bewusstsein für strukturellen Rassismus geschärft
Von Jenny Weyel
Mit bunten Spielzeuggewehren ausgerüstet stiegen Nicholas Heyward Jr., 13 Jahre alt, und drei seiner Freunde auf das flache Dach ihres Wohnblocks in Brooklyn und spielten Räuber und Gendarm. Es war ein Dienstagnachmittag Ende September 1994. Als es Zeit zum Abendessen wurde, kletterten die Jungen hinunter ins Treppenhaus. Dort begegnete ihnen Brian George, ein Polizist des New York Police Department, der in den Gowanus Houses, sozialne Wohnungsbauten, regelmäßig patrouillierte. »Wir spielen nur«, rief Nicholas ihm noch zu, bevor Brian George auf ihn schoss. Wenige Stunden später starb Nicholas.
George rechtfertigte sein Handeln damit, dass er die Kinder - alle im Alter zwischen zwölf und 14 Jahren - von draußen gesehen und für Erwachsene gehalten habe. Der damalige Bezirksstaatsanwalt in Brooklyn beschrieb das ganze als »tragischen Unfall« und stellte die Ermittlungen nach kurzer Zeit ein. Es kam zu keinem Gerichtsverfahren, Brian George wurde in einen anderen New Yorker Stadtteil versetzt. Seitdem kämpft Nicholas Heyward Jr., der Vater des ermordeten Nicholas, für eine Wiederaufnahme der Ermittlungen - bisher vergeblich.
20 Jahre später ereignete sich ein sehr ähnlicher Vorfall in Cleveland (Ohio). Der zwölfjährige Tamir Rice spielte in einem Park nahe seiner Wohnung mit einem Plastikgewehr. Die örtliche Polizei erhielt einen Notruf, dass eine »schwarze männliche Person auf einer Schaukel sitzt und eine Pistole auf andere Leute richtet«. Der Anrufer betonte, dass es sich vermutlich um einen Jugendlichen handle und die Pistole wahrscheinlich nicht echt sei. Kurz darauf fuhr ein Polizeiwagen vor. Noch bevor das Auto zum Stehen kam, wurde Tamir - angeblich aus Notwehr - erschossen. Seine 14-jährige Schwester, die herbeirannte, stießen die Polizisten zu Boden, legten ihr Handschellen an und sperrten sie in das Polizeiauto.
Bei einer Demonstration im Gedenken an Tamir Rice im November 2015 unterstrich Nicholas Heyward Sr. in einer Rede die Ähnlichkeit beider Fälle. Nicht nur seien Nicholas und Tamir unter nahezu identischen Umständen gestorben und fast gleich alt gewesen. Auch die Ermittlungen seien ähnlich verlaufen: »Es finden jedes Mal Vertuschungen statt, wenn die Polizei unbewaffnete, unschuldige Menschen erschießt. Die Umstände werden verschleiert und es kommt nie zu einer Untersuchung. In Tamir Rices Fall in Ohio wird derzeit alles unternommen, die Vorfälle zu vertuschen.«
Heyward Sr. behielt Recht. Einen Monat nach seiner Rede entschied eine Geschworenenjury in Ohio, dass der Polizist, der Tamir getötet hatte, nicht angeklagt werden solle. Der dortige Staatsanwalt spielte die Tat als bedauernswerte Verkettung von Missverständnissen herunter und bestritt, dass es sich um eine Straftat gehandelt habe.
Die Bewegung hat vielseitige Ursprünge
Die Tatsache, dass Tamirs Erschießung weitaus mehr öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zog als Nicholas' Ermordung 20 Jahre zuvor, ist der Black-Lives-Matter-Bewegung zu verdanken. Sie setzte Polizeigewalt und institutionellen Rassismus in den letzten Jahren auf die politische Tagesordnung. Die Bewegung wird etwas einseitig als neue Bürgerrechtsbewegung gepriesen, denn ihre Ursprünge sind vielseitiger. Auch die Black-Power-Bewegung, die feministische Bewegung schwarzer Frauen in den 1980er Jahren, die LGBTQ-Bewegung (kurz für Lesbian, Gay, Bi, Trans, Queer) und Occupy Wall Street haben die Bewegung beeinflusst.
Obgleich sich der Beginn einer sozialen Bewegung selten eindeutig datieren lässt, waren die Ermordung Trayvon Martins im Februar 2012 und das eklatante Versagen des Justizsystems in seinem Fall Ausgangspunkte der Black-Lives-Matter-Bewegung. Wohlgemerkt verliehen erst 2013 drei schwarze Aktivistinnen mit dem Twitter-Hashtag #blacklivesmatter der Bewegung ihren Namen.
Die Ermordungen Michael Browns, Eric Garners, Jessie Hernandez', Sandra Blands und Freddie Grays - um nur einige wenige Namen der jährlich etwa 1.000 Todesopfer durch Polizeigewalt zu nennen - katalysierten die Bewegung. In zahlreichen US-Städten formierten sich Black-Lives-Matter-Gruppen. Die Straßenkämpfe in Ferguson und Baltimore sowie die Großdemonstrationen in New York und Chicago machten Schlagzeilen über die Grenzen der USA hinaus und riefen internationale Solidaritätsbekundungen hervor.
Mit der geografischen Verbreitung nahm auch die Bandbreite der Themen zu, denen sich die Bewegung widmet: Sie thematisiert die härteren Bestrafungen schwarzer Schulkinder und die daraus resultierende »school-to-prison pipeline« (1), die Gentrifizierung historisch schwarzer Stadtviertel wie Harlem und Oakland, den Rassismus an Hochschulen sowie die überdurchschnittlich hohe Zahl schwarzer Häftlinge in den US-Gefängnissen.
Auch die Taktiken der Black-Lives-Matter-Bewegung sind im Lauf der letzten vier Jahre vielfältiger geworden: Neben Kundgebungen, Demonstrationen und »die-ins« an öffentlichen Plätzen und Universitäten blockieren die Aktivist_innen Brücken und Autobahnen und organisieren Proteste in Restaurants und Einkaufszentren, um den Alltag der weißen Kundschaft zu stören.
Besonders aufsehenerregend war die Aktion von Bree Newsome, die im Juli 2015 den Flaggenmast vor dem State Capitol von South Carolina emporkletterte und die Konföderiertenflagge herunternahm, ein Symbol des Rassismus und der Sklaverei. Zwei Wochen zuvor hatte Dylann Roof aus rassistischen Motiven neun schwarze Gemeindemitglieder in einer Kirche in South Carolina erschossen. Vor seiner Tat hatte er Fotos von sich auf Facebook gestellt, auf denen er mit der Konföderiertenflagge posierte. »Uns drohen bis zu drei Jahre Gefängnishaft, weil wir die weiße Vorherrschaft herausgefordert haben«, so Newsome. »Wir haben schon mehr Zeit in Untersuchungshaft verbracht als der Polizist, der Tamir Rice tötete.«
Viele junge Schwarze wurden politisiert und mobilisiert
Zweifellos ist es einer der sichtbarsten Erfolge der Black-Lives-Matter-Bewegung, dass die Regierung South Carolinas die Konföderiertenflagge trotz heftigen Widerstands wenige Wochen nach Bree Newsomes Aktion dauerhaft vor dem Regierungsgebäude entfernte. Newsome unterstreicht, dass »diese Aktion von keiner Organisation, sondern von zehn Aktivist_innen in einem Wohnzimmer geplant wurde.« Ihr Erfolg habe gezeigt: »Gemeinsam können wir weitaus mehr erreichen, als wir uns zutrauen.« Zu den Errungenschaften der Bewegung zählen ebenso die Entlassung des Chicagoer Polizeichefs, die Rücktritte mehrerer Universitätsrektoren, welche die Beschwerden schwarzer Studierender bagatellisierten, sowie die Untersuchungen, die das US-Justizministerium in örtlichen Polizeibehörden vornimmt, die durch besonders extreme Fälle von Polizeigewalt Aufmerksamkeit erregt haben.
Konkrete politische Maßnahmen, die »die strukturellen Probleme angehen, die diese Bewegung entflammt und in den Vordergrund gerückt haben«, sind laut der New Yorker Aktivistin Terrea Mitchell bisher allerdings ausgeblieben. Der Erfolg der Black-Lives-Matter-Bewegung liege in erster Linie darin, dass sie das Bewusstsein um strukturellen Rassismus in den USA vertieft und junge Schwarze politisiert und mobilisiert habe. Bezeichnend dabei sei, dass sich insbesondere junge schwarze Frauen engagieren - darunter viele queere Frauen. »Wir spielen eine zentrale Rolle, und das wird wahrgenommen und anerkannt«, betont Mitchell. »Zwar hatten Frauen auch während der Bürgerrechtsbewegung eine tragende Rolle, aber das wurde weitgehend übersehen.«
Aufmerksam wird derzeit beobachtet, wie sich die Black-Lives-Matter-Gruppen zu den Präsidentschaftswahlen in diesem Jahr verhalten. Während rechtskonservative Stimmen die Bewegung diffamieren, wetteifern Hillary Clinton und Bernie Sanders um ihre Gunst. Der Bewegung ist es gelungen, die mediale Aufmerksamkeit des Wahlkampfs zu nutzen: Wiederholt unterbrachen Aktivist_innen vor laufenden Kameras die Reden führender Kandidat_innen. Donald Trump reagierte empört und lobte seine Anhänger_innen, die einen Aktivisten verprügelten, nachdem er Trump unterbrochen hatte. Bernie Sanders hingegen räumte dem Thema Rassismus nach den Protesten mehr Raum ein und engagierte eine junge schwarze Pressesprecherin. Einige prominente Stimmen wie Erica Garner, Tochter des von der New Yorker Polizei ermordeten Eric Garner, haben seither ihre Unterstützung für Bernie Sanders bekundet. Die Mehrzahl der Black-Lives-Matter-Gruppen wahrt jedoch Zurückhaltung und wird wohl keine öffentlichen Unterstützungsbekundungen abgegeben.
Rassismus und Neoliberalismus angreifen
Ein weiteres Thema, mit dem sich Black-Lives-Matter-Gruppen aktuell auseinandersetzen, ist die Verschmutzung des Leitungswassers in Flint (Michigan). Es vergiftete die etwa 100.000 mehrheitlich armen schwarzen Bewohner_innen mit Blei. Nahezu alle Kinder in der Kleinstadt müssen Langzeitschäden fürchten. Untersuchungen belegten bereits vor einem Jahr, dass das Wasser gesundheitsschädlich ist. Die zuständigen Behörden und der Gouverneur Michigans handelten jedoch erst, als die sozialen Netzwerke und anschließend die überregionale Presse die Bleiwerte skandalisierten. Die Reaktionen angesichts der Krise in Flint lassen erkennen, dass es der Black-Lives-Matter-Bewegung gelungen ist, die US-Öffentlichkeit in Bezug auf Rassismus zu sensibilisieren. Selbst Mainstreammedien konstatierten: In einer Stadt mit mehrheitlich weißer Bevölkerung wäre dies nicht passiert.
In einer Stellungnahme zu der Krise fordert das Black Lives Matter National Network den Rücktritt des Gouverneurs Rick Snyder und die vollständige Wiederherstellung der Autonomie Flints. Snyder hatte von 2011 bis 2015 einen sogenannten Notstandsverwalter in Flint eingesetzt, dem er umfassende Befugnisse gewährte, um Kürzungen und Privatisierungen vorzunehmen. Im Rahmen seiner Einsparungen entschied der Notstandsverwalter, die bisherige Anbindung an das Wassersystem Detroits zu kappen und stattdessen Leitungswasser aus einem verunreinigten Fluss zu beziehen. Insolvenzverwalter übernahmen auch in Detroit und anderen verschuldeten, überwiegend schwarzen Städten Michigans die Kontrolle.
Larry Holmes, ein Aktivist aus New York, erkennt in der Auseinandersetzung mit Flint Anzeichen dafür, dass die Bewegung zunehmend den Zusammenhang zwischen Rassismus und Neoliberalismus in den Fokus nimmt. »Einige Black-Lives-Matter-Gruppen liefern nicht nur frisches Wasser wie nach Michigan, sie bringen auch eine politische Botschaft - und zwar eine Botschaft des Protests und Widerstands«, erklärt Holmes. »Sie stellen die Verbindung her zwischen dem Kampf gegen Polizeigewalt, Gerichte und Gefängnisse und dem Mangel an Arbeitsplätzen, Wohnungsnot und der maroden Infrastruktur wie in Flint.«
Jenny Weyel ist in der Black-Lives-Matter-Bewegung aktiv und arbeitet bei der Stadt New York zu den Themen bezahlbarer Wohnraum und Verdrängung.
Anmerkung:
1) Der Begriff bezeichnet die Tatsache, dass an US-Schulen insbesondere schwarze Kinder und Jugendliche systematisch für Kleinstdelikte wie das Stören des Unterrichts verhaftet und damit bereits von klein auf unverhältnismäßig kriminalisiert werden.