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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 613 / 16.2.2016

Es bleibt kompliziert

Deutschland Antisemitismus und Flüchtlingspolitik

Von Anne Goldenbogen

Es ist kompliziert. Das scheint die einzig sichere Aussage zu sein, die momentan zum Thema »Antisemitismus und Flüchtlingspolitik« getroffen werden kann. Erhitzt ist die Debatte, polarisiert sind die Positionen.

Josef Schuster, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, wurde des Rassismus bezichtigt, nachdem er in einem Gespräch mit der Zeitung Die Welt im Hinblick auf die aktuelle Flüchtlingssituation »kontrollierte Zugänge nach Deutschland« gefordert, Obergrenzen zu einer Option und Antisemitismus sowie Integrationsschwierigkeiten zu einem »ethnischen Problem« erklärt hatte. Armin Langer von der Berliner Salaam-Shalom-Initiative griff ihn dafür scharf an, schoss mit seinem Rassismusvorwurf jedoch eindeutig über das Ziel hinaus, machte aber dennoch auf einige wichtige Punkte aufmerksam: Noch immer wird die überwältigende Mehrheit der antisemitischen Straftaten in Deutschland von deutschen Rechtsextremen begangen. Und noch immer hat rund ein Fünftel der deutschen Bevölkerung antisemitische Ressentiments.

Man muss Josef Schuster zugutehalten, dass er sich sowohl vor als auch nach dem zitierten Gespräch mehrfach zur Flüchtlingspolitik geäußert hat. Er wies auf die Ängste und Befürchtungen in den jüdischen Gemeinden hin, denen er Gehör verschaffen will und muss. Er betonte die Erfahrungen der jüdischen Community mit Flucht und Migration und die daraus resultierende Überzeugung von der Notwendigkeit des Grundrechts auf Asyl wie auch das Wissen um die Herausforderungen von Integrationsprozessen. Und er präzisierte seine Äußerung bezüglich des »ethnischen Problems«: Nicht »die Araber« habe er damit gemeint, sondern spezifische nationale Zugehörigkeiten zu Staaten, deren Staatsräson die Feindschaft gegenüber Israel impliziert.

»Glauben« und »Fühlen« statt Zahlen und Fakten?

Differenzierung und Komplexitätseinsicht - Aspekte, die man im Experiment der Zeitung Die Welt vergebens sucht. Da wird, offensichtlich verstanden als investigativer Coup, ein orthodoxer Jude mit Kippa in die Flüchtlingsunterkunft auf dem Tempelhofer Feld geschickt. Begleitet von einer Kamera und in Erwartung von Mord und Totschlag in Wort und Tat. Es kommt aber nicht so krass wie erwartet. Fast ist man gewillt zu sagen »zum Glück für die Autoren_innen«, finden sich einige israelfeindliche Graffiti, ein Hakenkreuz und ein Jugendlicher, der Israel und mit ihm alle Juden von der Landkarte des Nahen Ostens tilgen will. In der Tat, solche visuelle und verbale Positionierungen sind höchst problematisch und verweisen auf die Notwendigkeit, Antisemitismus zum Thema zu machen, auch in Bezug auf Geflüchtete, am sinnvollsten in gemeinsamer Auseinandersetzung mit ihnen. Allerdings offenbart der Film eben auch Neugier, Offenheit und Interesse an politischem Austausch aufseiten der Bewohner_innen. Diese Facette scheint jedoch weniger zu zählen - im Nachgang wird darauf insistiert, dass hiermit bewiesen sei, was zu beweisen war.

Das ist typisch für den gesamtgesellschaftlichen Diskurs um Flucht und Migration, der geprägt ist von »Glauben« und »Fühlen«. Zahlen und Fakten werden weder wahr- noch ernstgenommen. Erfahrungswerte existieren kaum, aber offensichtlich gibt es auch keinerlei Bereitschaft, welche zu sammeln. »Glauben und Fühlen« scheinen auszureichen als Begründung für das Beschwören heraufziehender Katastrophen, die Forderung nach Gesetzesverschärfungen und die Einschränkung von Rechten.

Gleichzeitig ist der Diskurs geprägt von Instrumentalisierungsversuchen unterschiedlichster Ausprägungen. Plötzlich sind Frauenrechte ein gesamtgesellschaftliches Anliegen. Und auch der Antisemitismus rückt wieder in den Fokus. Allerdings als ausschließliches Problem »der Anderen«. Der aktuellen Situation haftet etwas Absurdes an und etwas Tragisches: Ähnlich wie in der Auseinandersetzung um den Kosovokrieg 1999 werden Nationalsozialismus und Holocaust als - vermeintlich moralisch unangreifbare - Begründungen für unterschiedliche Positionierungen herangezogen. Deutschland trage wegen des Holocaust die Verantwortung dafür, heute Flüchtlinge aufzunehmen. Deutschland trage wegen des Holocaust die Verantwortung dafür, die Flüchtlingszahlen einzuschränken und genau zu schauen, welche Flüchtlinge es aufnehme, um die jüdische Minderheit im Land nicht zu gefährden.

Tragisch ist das Ganze, weil aus dem größten Menschheitsverbrechen nun endgültig ein integraler Bestandteil der deutschen Leitkultur geworden ist. Die Anerkennung der deutschen Schuld am Holocaust und der damit einhergehenden Verantwortung für Israel sowie für Jüdinnen und Juden ist, so scheint es, Prüfstein geworden für die Berechtigung, Teil der deutschen Gesellschaft zu sein. Daran ist auch nichts verkehrt, würde diese Regel tatsächlich für alle gelten und nicht nur für »die Anderen«. Tragisch ist es auch deshalb, weil ein Teil der Regionen, aus denen die Flüchtlinge kommen, unter anderem von einem Konflikt geprägt ist, der ebenfalls untrennbar mit dem Holocaust verknüpft ist. Und in denen Israelfeindschaft und Hass gegenüber Jüdinnen und Juden nicht nur zum Alltag gehören, sondern politisches Programm sind.

Antisemitismus bleibt anpassungsfähig

Es gibt bislang keine belastbaren Erhebungen über Einstellungsmuster unter Flüchtlingen. Allerdings ist davon auszugehen, dass mit Geflüchteten aus Syrien und anderen Staaten des Nahen Ostens auch israelfeindliche und antisemitische Positionen und Bilder nach Deutschland kommen. Nur treffen diese hier nicht auf einen luftleeren Raum. Weder ist Antisemitismus ein in Deutschland bislang unbekanntes Phänomen, noch ein lediglich im Museum bestaunbares gelöstes Vergangenheitsproblem.

Konkret besteht also die Gefahr, dass der Prozentsatz derjenigen ansteigt, die antisemitisch denken. Die Zahlen waren allerdings nie statisch. Sie steigen und fallen in kontinuierlichen Wellenbewegungen. Antisemitismus ist ein sehr dynamisches Phänomen - anpassungsfähig und langlebig. Es besteht darüber hinaus die Gefahr, dass Jüdinnen und Juden vermehrt mit tatsächlichen und tätlichen Angriffen rechnen müssen. Auch das ist leider keine neue Entwicklung. Die Bereitschaft, sich offen antisemitisch zu äußern oder entsprechend zu handeln, steigt seit einigen Jahren. Und schlussendlich ist mit den islamistischen Attentaten der jüngsten Vergangenheit die Gefahr, Opfer eines Attentates zu werden, für jüdische Menschen in Europa wieder in den Rahmen des Möglichen gerückt. Wobei die Attentäter jedoch in keinem der Fälle (ehemalige) Flüchtlinge waren.

Fakt ist also: Antisemitismus ist ein reales Problem und eine Gefahr für Jüdinnen und Juden. Fakt ist auch: Das ist er mit und ohne Flüchtlinge. Was also tun? Auf jeden Fall das Recht auf Asyl nicht gegen das Recht auf Schutz vor Diskriminierung aufrechnen, sondern an beiden kompromisslos festhalten. Denn sicher ist nur - neben der Einsicht, dass es kompliziert bleibt - die Tatsache, dass Minderheiten auf lange Sicht nie davon profitiert haben, sich gegeneinander ausspielen zu lassen.

Anne Goldenbogen leitet das Modellprojekt »Anders Denken. Politische Bildung gegen Antisemitismus« bei der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus e.V.