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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 613 / 16.2.2016

Die Welt aus der Sicht des Mannes

Feminismus nach Köln Die Grundlage der Vergewaltigungskultur und wie sie zuverlässig Täter zu Opfern macht

Von Gunhild Mewes

58 Prozent der Frauen in Deutschland sind schon einmal sexuell belästigt worden, ein Drittel hat sexuelle oder physische Gewalt erlebt. Jede siebte Frau erlebt strafrechtlich relevante sexuelle Gewalt. Nur fünf Prozent dieser Fälle wird aber überhaupt angezeigt. Seit Anfang des Jahres kursieren Zahlen, die zeigen, dass sexuelle Gewalt nichts ist, was von Migranten »importiert« wird. Sie beweisen, worauf Frauenverbände seit Jahrzehnten aufmerksam machen: Sexuelle Gewalt ist weit verbreitet, und sie ist Alltag in Deutschland. Nur in den seltensten Fällen wird sie juristisch geahndet. Das öffentliche Interesse an diesen Fakten war bis vor wenigen Wochen gering, um nicht zu sagen: nicht vorhanden. Man kann festhalten: Sexuelle Gewalt ist in Deutschland akzeptierter Bestandteil der Kultur. Das Selbstbild ebendieser Kultur indes ist ein anderes. »Wir« sind emanzipiert!

Wie passt dieses gesellschaftliche Selbstbild mit der weit verbreiteten drastischen Männergewalt und ihrer stillschweigenden Akzeptanz zusammen? Gar nicht. Das emanzipierte Selbstbild ist eine spanische Wand, die eine voll funktionsfähige Geschlechterhierarchie verbirgt. Letztere zeigt ihre Wirksamkeit regelmäßig bei sexueller Gewalt. Sobald es um konkrete Fälle geht, erzeugt sie wie auf Knopfdruck Täterfreundlichkeit. Diese Täterfreundlichkeit durchzieht sämtliche gesellschaftlichen Ebenen, sie ist das Resultat einer strukturellen Identifikation mit Männern. Immer noch sind die meisten Identifikationsfiguren in Film, Literatur, Kunst, in einfach jedem kulturellen Bereich männlich. Männer erklären uns in Talkshows, auf Podien und in Vorträgen die Welt. Bereits in Kinderbüchern überwiegen männliche Protagonisten. Wir lernen also von klein auf, die Welt aus einer männlichen Perspektive zu betrachten und uns mit männlichen Interessen zu identifizieren. Vor allem lernen wir, dass es die männliche Perspektive ist, die zählt. Im Erwachsenenalter ist das dann schon eine Selbstverständlichkeit, die gar nicht mehr als etwas Besonderes wahrgenommen wird.

Routinemäßige Empathie mit den Tätern

Genau diese Identifikation mit der männlichen Perspektive greift immer dann, wenn sexuelle Gewalt benannt wird. Beinahe automatisch scheint sich der Fokus auf den beschuldigten Mann zu richten. Und damit auch die Empathie: Wie geht es ihm jetzt mit dieser Anklage? Was, wenn es eine erfundene Geschichte ist, die ihm schaden soll? Während seine Perspektive im Mittelpunkt steht, verschwindet die der Betroffenen aus dem Blickfeld. Das macht viele Dinge leichter. Denn die Frage »Was, wenn diese Gewalttat wirklich stattgefunden hat?« ist unbequem. Sie würde Empathie mit der Betroffenen erfordern. Sie würde verlangen, dass man sich gegen den Beschuldigten stellt. Diese Konsequenz erzeugt so viel Abwehr, dass die Reaktionen von Ignorieren oder Schönreden der möglichen Tat bis zur Herabwürdigung der Betroffenen und zu Aggressionen gegen sie reichen. So wird die Perspektive von Betroffenen aus der Debatte eliminiert.

Dies gilt umso mehr bei Männern, denen Bewunderung und Verehrung entgegen gebracht wird. Es gibt eine ganze Reihe Stars, die selbst nachdem ihnen Vergewaltigungen nachgewiesen wurden (oder sie Vergewaltigungen zugegeben haben), ungebrochen weiter bewundert wurden und werden. Roman Polanski floh vor einer Verurteilung wegen der Vergewaltigung einer 13-Jährigen aus den USA. In Europa konnte er seine Filmkarriere problemlos fortsetzen. Woody Allens 80. Geburtstag im letzten Dezember wurde in allen Feuilletons zelebriert. Kaum jemand der Gratulierenden fand es erwähnenswert, dass seine Stieftochter vor wenigen Jahren den Vorwurf sexueller Gewalt bestätigte und berichtete, wie die öffentliche Verehrung ihres Stiefvaters ihr Trauma triggert. Auch in den Nachrufen auf David Bowie fehlte ein Hinweis darauf, dass es kein einvernehmlicher Sex ist, wenn ein erwachsener Popstar ein beeindrucktes 13-jähriges Mädchen in sein Schlafzimmer zitiert und dort penetriert - sondern sexuelle Gewalt. Die Botschaft, die dieses Übersehen und Verschweigen an alle Betroffenen aussendet, ist: Euer Leid zählt nur dann, wenn es nicht stört. Und es stört leider meistens.

In der Verehrung von Pop- und Filmstars wird zugleich auch eine überhöhte Männlichkeit gefeiert, ihre Grandiosität strahlt auf alle Männer zurück. Idealisierung ist ein beinahe undurchdringlicher Schutz, da die meisten Menschen sich weigern, einen Makel bei einer idealisierten Figur anzuerkennen. Die Chancen, unter diesen Umständen Gehör zu finden, sind minimal. Bei dem Schauspieler Bill Cosby mussten Dutzende Frauen mit den Geschichten ihrer Vergewaltigungen hervortreten, bevor die Öffentlichkeit bereit war, ein Problem wahrzunehmen.

Status schützt Täter

Status schützt Täter, das gilt nicht nur bei Stars. Die organisierte Kriminalität, die kommerzielle Kindesvergewaltigung betreibt, nutzt gesellschaftliches Ansehen gezielt als Schutz vor Aufdeckung. Da geht es um Berufe wie Richter, Ärzte oder Politiker.

Doch schon Männlichkeit als solche ist ein Statusmerkmal. Sie wird idealisiert, indem Eigenschaften, die als »männlich« gelten, höher bewertet werden als solche, die für »Weiblichkeit« stehen. Frauen werden klein gemacht, um Männer größer erscheinen zu lassen. Im gesellschaftlichen Geschlechterverständnis steht Männlichkeit noch immer für Stärke und Dominanz, wohingegen Frauen vor allem die Objekte sind, die dieser Selbstüberhöhung in vielfältiger, vor allem aber in sexueller Form dienen. Zwar gibt es kaum noch einen gesellschaftlichen Bereich, in dem Frauen nicht zumindest mitspielen dürfen. Aber dafür müssen sie auch was liefern, nämlich Sexyness. So wird für Ausgleich gesorgt und ihr Status als Objekte hetero-männlicher Sexualität festgeklopft.

Männer, die dem Ideal einer entsprechenden Männlichkeit nachstreben, aber unsicher sind, diesem auch zu entsprechen, finden in der Dominanz und gegebenenfalls Unterwerfung anderer, zum Beispiel durch sexuelle Gewalt, rückwirkende Bestätigung. Als ultimativer geschlechtlicher Machtakt (der Täter) und ultimative geschlechtliche Verdinglichung (der Betroffenen) führt sexuelle Gewalt in letzter und gewalttätigster Konsequenz das unserer Gesellschaft zugrunde liegende Geschlechterverständnis aus. Auch Menschen, die diese dichotome Geschlechterordnung stören, sei es durch ihre Lebensweise, geschlechtliche Identität oder sexuelle Orientierung, können Objekte dieser Ansprüche und vor allem Objekte eines Hasses werden, der ihr »Stören« mit Vergewaltigung »bestraft«.

Die Überhöhung von Männern und Männlichkeit ist das größte Hindernis für eine Befreiung von sexistischer Unterdrückung und die Überwindung sexueller Gewalt. Dort müssen auch die Lösungen ansetzen.

Wie tief das Problem reicht, zeigt sich nicht zuletzt in den Auseinandersetzungen um die juristische Verfolgung sexueller Gewalt. Wenn eine Frau einen Mann einer Vergewaltigung beschuldigt, steht die Geschlechterhierarchie auf dem Spiel. Der Vorwurf hat die Macht, ihn moralisch herabzusetzen. Auch deshalb wollen so viele Menschen Betroffenen nicht glauben oder spielen die Tat herunter. Frauen sollen kein Urteil über Männer fällen.

Auch der Bundesgerichtshof (BGH), in dessen Strafsenaten fast nur Männer sitzen, urteilt in genau diesem Geist. Und die Urteile des BGH haben entscheidenden Einfluss auf die Rechtsprechung, denn ihre Auslegung der Gesetze ist richtungsweisend. Ein Beispiel aus einem Grundsatzurteil des BGH im Jahre 2006: »Die knappen Feststellungen, nach denen der Angeklagte der Nebenklägerin die Kleidung vom Körper gerissen und gegen deren ausdrücklich erklärten Willen den Geschlechtsverkehr durchgeführt hat, belegen auch nicht die Nötigung des Opfers durch Gewalt.« (1) Man kann das auch als Freifahrtschein für Vergewaltiger bezeichnen.

In Gesetze gegossener Täterschutz

Mit Urteilen wie diesen hat der BGH aktiv dazu beigetragen, die Verurteilungen angezeigter Vergewaltigungen und sexueller Nötigungen auf den aktuellen Tiefstand von 8,4 Prozent zu drücken. Damit unterminierte er die Ziele der letzten Sexualstrafrechtsreform von 1997. Bis dahin war eine nachweisbare Gewalteinwirkung nötig, damit eine Vergewaltigung gesetzlich als solche anerkannt wurde, nun sollte auch das Ausnutzen einer »schutzlosen Lage« eine Ahndung als Vergewaltigung möglich machen. Aber bei einem derart täterfreundlich agierenden BGH hatte eine Realisierung dieser Reform in der Rechtspraxis keine Chance.

Während im Vertragsrecht auch mündliche Äußerungen rechtsverbindliche Kraft haben, zählt im Sexualstrafrecht der geäußerte Wille einer Frau nicht. Während Sitzblockaden auch mal als Gewalt gewertet werden, ist das Eindringen in den Körper einer anderen Person gegen deren ausdrücklichen Willen in Deutschland keine Straftat. Was mit diesen Gesetzen ausgesagt wird, ist, dass der Körper einer Frau grundsätzlich zunächst zur freien Verfügung steht und dass es die Verantwortung der von sexueller Gewalt Betroffenen ist, ihre sexuelle Unversehrtheit zu verteidigen. Erst wenn sie unter Beweis gestellt hat, dass sie das in ausreichendem Maß versucht hat, kann ein Gericht eine Vergewaltigung auch als Vergewaltigung werten. Diesen Geist der Gesetze hat bisher keine Reform angetastet. Der Staat gibt damit ausgerechnet im Falle sexueller Gewalt das Gewaltmonopol auf und nimmt statt der Täter die Betroffenen in die Verantwortung. Das ist in Gesetz gegossene Komplizenschaft mit dem Täter.

Derzeit steht eine weitere Reform des Sexualstrafrechts an. Ein Paradigmenwechsel wäre es, wenn diese tatsächlich die Forderung der Istanbul-Konvention umsetzen würde, nach der der freie Konsens der Beteiligten am Sex entscheidend ist. (2) Doch zielt die Regierung dem Referentenentwurf für ein neues Sexualstrafrecht nach zu urteilen eher auf die sogenannte Schließung von Schutzlücken. Damit ist gemeint, dass im Prinzip brauchbare Gesetze und eine im Prinzip funktionierende Rechtsprechung in bestimmten Fällen versagen, für die es Nachbesserungen bedarf.

Wenn die Rede von Schutzlücken überhaupt Sinn ergibt, dann als Lücken in einem ziemlich umfassenden Täterschutz - und zwar dann, wenn ausnahmsweise doch mal ein Täter verurteilt wird. Derzeit bekommen Betroffene, wenn die Täter nicht verurteilt wurden (also die weit überwiegende Mehrheit), zusätzlich noch den justiziellen Knebel, über ihre Erfahrung öffentlich zu sprechen. Tun sie es doch, gilt das als Rufmord am Täter. Und schließlich gibt es immer noch den BGH, der zuverlässig wohl jede gesetzliche Verbesserung in ihr Gegenteil verkehren wird.

Der bisherige Höhepunkt im Täterschutz durch die deutsche Justiz ist die Verurteilung des Models Gina-Lisa Lohfink als Falschbeschuldigerin vor wenigen Wochen. Gina-Lisa Lohfink hatte 2012 eine Vergewaltigung durch zwei Männer angezeigt, die ihr K.O.-Tropfen verabreicht und sie zum Sex gezwungen hätten. Die Tat nahmen die Männer auf Video auf und verbreiteten sie. Auf dem Video ist deutlich zu hören, wie Lohfink mehrmals »Hört auf« sagt. Doch die Staatsanwaltschaft sieht nur Einvernehmlichkeit. Sollte das Schule machen, können sich Betroffene, die Vergewaltigungen anzeigen, künftig auf gerichtliche Abstrafung einstellen - damit wäre die justizielle Täter-Opfer-Umkehr perfektioniert.

Gunhild Mewes engagiert sich in der Initiative für Gerechtigkeit bei sexueller Gewalt: http://ifgbsg.org.

Anmerkungen:

1) BGH-Beschluss vom 22. Juni 2006: www.hrr-strafrecht.de.

2) Dort heißt es: »Consent must be given voluntarily as the result of the person's free will assessed in the context of the surrounding circumstances.« www.coe.int/de.