Recht hat, wer am unterdrücktesten ist
Feminismus nach Köln Über den Nutzen des Privilegienmodells im Kampf gegen soziale Ungleichheit
Von Anja Hertz
Seit einigen Jahren taucht in der antirassistischen und feministischen Linken immer wieder der Begriff des Privilegs als wichtige analytische Bezugsgröße auf. Über Diversity Studies, aktivistische Milieus und die feministische Blogosphäre haben diese Konzepte ihren Weg aus den USA in die hiesige Debatte gefunden, spätestens seit den Auseinandersetzungen um Critical Whiteness sind sie auch im deutschen Sprachraum einer größeren linken Öffentlichkeit bekannt. Sie beziehen sich auf Arbeiten von Theoretiker_innen wie W. E. B. Du Bois und Noel Ignatieff zur rassistischen Spaltung der US-Arbeiterklasse und auf Peggy McIntoshs vielbeachteten Aufsatz »The Invisible Knapsack« (»Der unsichtbare Rucksack«, 1987). Heute sind sie ein wichtiger Bezugspunkt in der antirassistischen Bildungsarbeit. Sie tauchen auch in politischen Diskussionen immer häufiger auf, wenn es darum geht, wie Menschen, die an unterschiedlichen Polen eines gesellschaftlichen Machtverhältnisses stehen (Männer-Frauen, Schwarze und weiße Menschen ...), miteinander handeln und streiten.
Anstelle der Nachteile, die die als anders markierte Person erfährt, nimmt die Kategorie des Privilegs die Vorteile ins Visier, die man als unmarkierte, der vermeintlichen gesellschaftlichen Norm entsprechende Person genießt, zum Beispiel als Individuum statt als Repräsentant_in einer ethnischen Gruppe wahrgenommen zu werden oder vor verdachtsunabhängigen Polizeikontrollen relativ sicher zu sein. Auch der unproblematische Zugang zu bestimmten sozialen Räumen oder die Unterstellung von Kompetenz gehört in die Reihe dieser Vorteile bzw. »Privilegien«. Damit rückt der Fokus bei der Analyse von Rassismus weg von individuellen rassistischen Einstellungen hin zur Alltagserfahrung und der Art und Weise, wie Formen von Marginalisierung das alltägliche Leben strukturieren.
Inzwischen wird das Konzept auf eine ganze Reihe weiterer Formen sozialer Ungleichheit angewendet. Demzufolge sind nicht nur Weiße, sondern zum Beispiel auch Männer, Cis-Menschen (Menschen, die sich mit dem Geschlecht identifizieren, mit dem sie sozialisiert wurden), schlanke Menschen oder Menschen ohne Behinderung privilegiert. Auch in der feministischen Debatte, vor allem im englischsprachigen Raum, ist das Konzept mittlerweile so verbreitet, dass sowohl eher subkulturell orientierte Publikationen wie das Bitch Magazine wie auch die linksliberale Qualitätspresse wie der Guardian mit Artikeln zu Fragen der Privilegien aufwarten.
Was das Privilegienmodell erklären kann
Nun ist Deutschland im Hinblick auf Inklusion von Menschen, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen, im Vergleich zu vielen europäischen Nachbarländern ein Entwicklungsland. Das Bewusstsein, dass Rassismus mehr als der sprichwörtliche Baseballschläger-schwingende Nazihool sein kann und Sexismus nicht erst dort anfängt, wo sich (mehrheitlich nicht-biodeutsche) Männerhorden wie zu Silvester in Köln zu gewalttätigen Übergriffen auf Frauen zusammenfinden, fehlt vielerorts. Und so sollte man meinen, dass eigentlich nur die übellaunigsten Verelendungstheoretiker_innen, die jede gesellschaftliche Verbesserung vor der Revolution für konterrevolutionär halten, etwas dagegen haben könnten, dass Behördenmitarbeiter_innen Antirassismustrainings erhalten, die linke Szene nachdrücklicher an die Notwendigkeit barrierefreier Veranstaltungen erinnert wird oder genderneutrale Toiletten eingerichtet werden. Warum also hat sich die Frage der Privilegien zu einem solchen Spaltpilz innerhalb der Linken entwickelt?
Ein erstes Problem ist die Frage, was das Privilegienmodell überhaupt erklären kann. Auch wenn regelmäßig auf den strukturellen Charakter der unterschiedlichen Mechanismen der Marginalisierung verwiesen wird, so ist der Zugang dieses Ansatzes notwendig ein individualisierender, der lediglich die Reflexionsformen gesellschaftlicher Verhältnisse ins Visier nimmt und die Veränderung des individuellen Verhaltens anstrebt. Tatsächlich folgt aus der Selbstmarkierung als privilegiert erst einmal wenig - außer dem guten Gefühl, auf der Seite der Aufgeklärten zu stehen und damit schon ein Stück besser als all jene zu sein, die es noch nicht zu dieser Einsicht gebracht haben. In der verbreiteten Rede von »unverdienten Privilegien« klingt schon ein Hauch moralischer Verderbtheit an. Dabei wäre zu fragen, ob es wirklich ein Privileg und nicht vielmehr der anzustrebende Normalzustand ist, nicht dauernd von verdachtsunabhängigen Polizeikontrollen belästigt zu werden. Die Rede vom Privileg legt nahe, die »positive« Abweichung statt die (rassistische) Benachteiligung als Problem zu identifizieren. (1)
Das Konzept sieht vor, dass die Einsicht in die eigene Privilegierung eine Umkehr der gesellschaftlichen Machtverhältnisse in der politischen Praxis bewirken soll: Die Privilegierten nehmen sich zurück und begnügen sich mit der Rolle der Alliierten. Sie richten sich in ihren Aktivitäten nach den Bedürfnissen der von Marginalisierung Betroffenen: Geflüchtete definieren die Agenda migrationspolitischer Kämpfe, Unterstützer_innen können sich diesen Kämpfen dann anschließen; Frauen haben das letzte Wort in der Frage, wo ein sexistischer Übergriff beginnt und wie dagegen vorzugehen sei.
Das wirft jedoch das Problem auf, dass dabei eine einheitliche Position der Marginalisierten unterstellt und so der homogenisierende Charakter gesellschaftlicher Stereotypisierungen in vermeintlich kritischer Absicht erneuert wird. Diese Tendenz zur Essenzialisierung hat sich in den letzten Jahren insbesondere in den Diskussionen um kulturelle Aneignung (cultural appropriation) bemerkbar gemacht, etwa da, wo weiße HipHop- oder Soul-Künstler_innen dafür kritisiert werden, dass sie in und mit einer schwarzen Kultur Karriere machen. Der Vorwurf der cultural appropriation verteidigt eine vermeintlich homogene, authentische Kultur der Subalternen gegen ihre kolonialistisch-kulturindustrielle Ausbeutung - eine Argumentation, die nicht mehr zwischen rassistischer Karikatur und kulturellen Vermischungsprozessen unterscheidet und reaktionäre Vorstellungen von kultureller Reinheit impliziert.
Marginalisierung wird zur Ressource
Zweifellos können die Erfahrungen Marginalisierter die blinden Flecken vermeintlich universalistischer Positionen aufdecken und somit ein wichtiges Korrektiv sein. Doch wie Erfahrungen gedeutet werden, ist eine politische Frage, weshalb sich auch - die Heterogenität von Menschengruppen, die nur ein Merkmal teilen, vorausgesetzt - für nahezu jede erdenkliche Position eine marginalisierte Gewährsperson finden lässt. Das Modell des Alliiertseins läuft so genau auf jene Alibipolitik (»Aber mein schwarzer Arbeitskollege hat gesagt ...«) hinaus, die eigentlich vermieden werden soll. Unversehens mündet die Verabsolutierung der Marginalisierungserfahrung in eine Art Wissenssoziologie: Wahr ist eine Aussage nicht aufgrund ihres Inhalts, sondern aufgrund der gesellschaftlichen Position der Sprecher_in. Damit ist sie aber auch gegen jede Kritik immunisiert, was letztlich einer Art wohlmeinender Entmündigung gleichkommt. Es sei denn, die Kritik kommt von jemandem in noch marginalerer gesellschaftlicher Position. Statt sich darüber auseinanderzusetzen, welche politischen Schlüsse aus spezifischen Marginalisierungserfahrungen zu ziehen wären, hat Recht, wer am unterdrücktesten ist.
So wird durch den Versuch einer Umkehr gesellschaftlicher Machtverhältnisse eine Position der Marginalität - als gleichermaßen moralisch unverdächtig und maßgeblich - mit symbolischem Kapital ausgestattet und erstrebenswert. Das mag erklären, weshalb in privilegientheoretisch operierenden Milieus die eigene Verletztheit häufig so sehr ins Zentrum rückt und ihre Akteure gern mit einem der Psychopathologie entlehnten Vokabular von posttraumatischen Belastungsstörungen und Triggern operieren. Die Forderung nach Respekt und gleichwertiger Teilhabe verkehrt sich so in eine nach Schutzräumen - was zur therapeutischen Bewältigung von Gewalterfahrungen sicherlich seine Berechtigung hat, als politisches Konzept aber auf Selbstentmächtigung hinausläuft.
An den Institutionen gesellschaftlicher Herrschaft rüttelt man nicht durch den Hinweis, dass sie mehrheitlich von weißen Cis-Männern besetzt sind. Auch ein umfassend diversifizierter Kapitalismus bleibt ein System der Ausbeutung. Vielmehr ginge es darum, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu beenden, aufgrund derer bestimmte Gruppen von Menschen einen privilegierten Zugang zu Ressourcen haben. Hierzu braucht es kollektives Handeln.
Insofern ist die Bereitschaft zur Auseinandersetzung und Empathie mit Bedürfnislagen, die über den eigenen begrenzten Erfahrungshorizont hinausreichen, keine bloße moralische Forderung, sondern vielmehr strategische Bedingung einer noch herzustellenden Kollektivität, die ein solches Handeln erst möglich macht. Doch das ist ein Prozess, den die Verabsolutierung gesellschaftlicher Positionierungen, wie sie die derzeitige privilegientheoretisch unterfütterte Praxis auszeichnet, tendenziell verunmöglicht.
Anja Hertz ist Literaturwissenschaftlerin und lebt in Zürich.
Anmerkung:
1) Eine interessante Untersuchungsaufgabe wäre es, die Privilegientheorie und die mit ihr verbundene politische Praxis in eine Geschichte der linken Bemühungen um Selbstreflexivität und revolutionäre Moral einzuordnen und zu ergründen, wie das mit einer Position der gesellschaftlichen Stärke oder Schwäche linker Bewegungen und mit gescheiterten Revolten zusammenhängt.