Huntington is back again!
Diskussion Es braucht ein Gegengift zu religiös begründeten Ideologien
Von Henrik Lebuhn und Dorothea Schmidt
Linke haben in den letzten Jahrzehnten meist einen großen Bogen um das Thema Religion gemacht und allenfalls im Anschluss an Walter Benjamin die Frage »Kapitalismus als Religion?« aufgeworfen, doch scheint sich das in letzter Zeit geändert zu haben. So hat Georg Klauda in ak 603 (März 2015) die These »Muslime sind die neuen Katholiken« aufgestellt, und auch die PROKLA widmet im März ein ganzes Heft dem Thema Religion - und zwar unter dem Gesichtspunkt der politischen Ökonomie wie der gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Ausgangspunkt war für uns die Feststellung, dass es sowohl auf der Ebene der Ideologie wie der sozialen und politischen Praxis eine Wiederkehr der Religion gibt, möglicherweise auch lediglich eine geschärfte Wahrnehmung für eine Ebene, die tatsächlich nicht so obsolet war, wie viele meinten, wenn sie Prozesse der Modernisierung mit einer unaufhaltsamen Säkularisierung gleichsetzten.
Am Beginn unserer Überlegungen dazu stand die Diagnose: Huntington is back again! Vor mehr als zwei Jahrzehnten prägte Samuel Huntington die Formel vom »Clash of Civilizations«, womit er dem Westen, nachdem ihm der Kommunismus der realsozialistischen Länder abhandengekommen war, neue Feindbilder benannte. In Zukunft ginge es nicht mehr um Konflikte ideologischer oder wirtschaftlicher Natur, sondern um diejenigen zwischen unterschiedlichen Kulturen, insbesondere zwischen Christentum und Islam, also zwischen dem Westen und dem »Rest der Welt«. Die These vom Krieg gegen die Werte »des Westens« schien sich vor allem mit den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York zu bestätigen.
Allerdings stießen Huntingtons Thesen inzwischen auch auf weitverbreitete Kritik: Sein Verständnis von Kulturen, Zivilisationen und Räumen sei eher beliebig, außerdem unterstelle er dabei Blöcke, die in sich homogen und weitestgehend unveränderbar gedacht sind, insofern sei sein Ansatz ahistorisch und essentialistisch. Über die Jahre schien sein Konzept somit bei einem großen Teil der Publizistik an Strahlkraft eingebüßt zu haben. Doch dies änderte sich spätestens nach den Pariser Attentaten gegen die Redaktion von Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt im Januar 2015. Es war der frühere Präsident Nicolas Sarkozy, der Huntingtons Slogan vom »Kampf der Kulturen« wieder aufnahm, wofür er von französischen Sozialist_innen damals noch geschmäht wurde - kurz darauf bediente sich Premierminister Manuel Valls jedoch genau dieser Terminologie. Wurde unmittelbar nach den Attentaten ein vorgeblicher »Charlie-Geist« der Versöhnlichkeit, Brüderlichkeit und des republikanischen Zusammenstehens hochgehalten, so erklärte Valls im Juni 2015 in einem Radiointerview: »Es handelt sich hier nicht um einen Krieg zwischen dem Okzident und dem Islam, sondern um einen Krieg der Werte, die die Unsrigen sind und die wir mit anderen auch außerhalb von Europa teilen.«
Es geht auch um politische und ökonomische Interessen
Es hat von anderer Seite zahlreiche Bemühungen gegeben, zwischen verschiedenen Spielarten des Islam zu differenzieren. Dennoch hat das Bild einer durchweg Gewalt legitimierenden Religion massiv an Boden gewonnen. Was zunächst ein plattes Erklärungsmuster von Rechtspopulist_innen zu sein schien, findet nun auch bei Intellektuellen, die sich als Aufklärer_innen verstehen, zunehmend Anklang. Der »Kampf der Kulturen« trägt seither immer stärker religiöse Züge. Wenn der Ägypter Hamed Abdel Samad wortreich vertritt, Islam und Faschismus seien von Grund auf wesensverwandt, stößt diese These in vielen Medien und in einer breiten Öffentlichkeit auf große Resonanz, da sie eine einfache Erklärung für das Vordringen und die mörderischen Praktiken des sogenannten Islamischen Staat (IS) im Nordirak anbietet. Wie viele andere Autor_innen auch, geht er darüber hinweg, dass etwa der Begriff »Jihad« innerhalb der islamischen Welt durchaus unterschiedlich und widersprüchlich interpretiert wird - die Bandbreite reicht von der legitimen Gewalt gegen Ungläubige bis zum individuellen inneren Kampf um den richtigen Glauben.
Auf internationaler Ebene ist die Vorstellung, es gebe einen einzigen, in sich homogenen Islam, mindestens ebenso irrig wie auf der nationalen Ebene, zerfällt er doch in eine kaum zu übersehende Zahl von Richtungen und Gruppierungen. In vielen Ländern tolerieren sich diese gegenseitig und pflegen auch mit anderen, etwa christlichen Gemeinschaften gute und enge Kontakte. Tatsächlich berufen sich alle monotheistischen Religionen auf den gleichen Gott, und das Gebot der Nächstenliebe ist ihnen allesamt eingeschrieben. Dennoch zeigt die Geschichte auch, dass nahezu jede Religion extrem autoritäre Züge und Alleinvertretungsansprüche entwickeln kann. Vor dem Hintergrund sozialer und politischer Spannungen kann jede von ihnen ein »Wir« anrufen, das es gegen die einer anderen Religion Angehörenden zu verteidigen gilt, und zwar mit allen zu Gebote stehenden Mitteln.
Stets geht es dabei jedoch auch um politische und ökonomische Interessen - zum Beispiel in den Glaubenskriegen zwischen Katholik_innen und Protestant_innen Ende des 16. Jahrhunderts, beim Aufstand der protestantischen Fürsten unter Führung von Moritz von Sachsen gegen den katholischen Kaiser Karl V, oder bei den jahrzehntelangen blutigen Auseinandersetzungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Nordirland. Die Interpretation religiöser Konflikte im Rahmen eines Kulturparadigmas führt jedoch dazu, dass gesellschaftliche Bedingungen weitgehend ausgeblendet werden und die Religion als treibendes Motiv in den Vordergrund gestellt wird - so auch bei den aktuell äußerst heftigen Konflikten innerhalb der muslimischen Welt wie den Konfrontationen zwischen dem Iran und Saudi-Arabien, innerhalb des Iraks oder im Jemen, wie unsere Autor_innen in der aktuellen PROKLA zeigen.
Das Verhältnis von Religion und Moderne ist aber auch in ganz anderen gesellschaftlichen Konstellationen zu thematisieren. Lange Zeit wurde im Anschluss an Max Webers Diktum von der »Entzauberung der Welt« erwartet, dass Religiosität und die Bedeutung kirchlicher Institutionen mit wirtschaftlichem Wachstum, Industrialismus und Massenkonsum an Bedeutung verlieren würden. Dieser Befund entsprang immer schon einer europäisch-ethnozentrischen Haltung und traf etwa für die USA, aber auch für andere außereuropäische Länder stets nur begrenzt zu. So ist in den letzten Jahrzehnten gerade die Durchsetzung neoliberaler Wirtschaftskonzepte in vielen Fällen damit verbunden, dass Regierungen deren gesellschaftlich desintegrierende Wirkungen mit der verstärkten Förderung religiöser Institutionen abfedern und kompensieren oder ihre eigene Autorität mit derjenigen der Kirche zusätzlich festigen wollen. Beispiele dafür finden sich in der jüngeren Geschichte in unterschiedlichsten Weltregionen: So betreibt etwa die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung AKP in der Türkei eine verstärkte Islamisierung des Landes und verfolgt zugleich eine zum Staatsprojekt erhobene Strategie der Neoliberalisierung; damit ähnelt sie verblüffend der streng katholischen und radikal wirtschaftsliberalen Partei PAN in Mexiko.
Religiöse Bewegungen passen selten ins Rechts-Links-Schema
Auch in früheren Ländern des Ostblocks bemühen sich autoritäre Regierungen um eine zunehmende Allianz von Staat und Kirche, etwa in Russland Präsident Putin um diejenige mit der russisch-orthodoxen Kirche, wobei das »neue Russland« traditionelle Werte in einer zunehmend fragmentierten Gesellschaft durchsetzen soll und »Gotteslästerung« (wie im Fall feministischen Aktivistinnen von Pussy Riot) als politische Allzweckwaffe dienen kann. Ähnlich betont der polnische Präsident Jaroslaw Kaczynski bei jeder sich bietenden Gelegenheit, die katholische Kirche gehöre zu den wichtigsten Fundamenten des Polentums und donnert: »Jede Hand, die sich gegen die Kirche erhebt, ist eine Hand, die sich gegen Polen erhebt.« Ein weiterer aktueller Fall der Verbindung neoliberaler Wirtschaftspolitik mit religiösem Fundamentalismus, mit dem wir uns in der aktuellen PROKLA auseinandersetzen, ist derzeit in Indien zu beobachten. Dort hat Premierminister Narendra Modi seit seinem Wahlerfolg 2014 den Versuch gestartet, die Öffnung des Landes für internationales Kapital mit einem nationalidentitären Hinduismus zu begleiten - ein Vorhaben, das manche Beobachter auch mit dem Begriff »Hindufaschismus« charakterisieren.
Doch Religion ist keineswegs nur Mittel für die Durchsetzung von Herrschaft und autoritärer Politik, sondern sie ist oftmals ein möglicher sozialer Identitäts- und Hoffnungsanker für Deklassierte und Depravierte, wenn nicht sogar Ausgangspunkt von Mobilisierungen für ein besseres Leben und eine bessere Gesellschaft. Sie konnte für die »Mühseligen und Beladenen« (Matthäusevangelium) oder für diejenigen, die im »wirklichen Elend« (Marx) lebten, immer schon Trost und Hoffnung bieten, soziale Identität sowie die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft bedeuten und - wie etwa die Befreiungstheologie in Lateinamerika - sogar ein Versprechen der Emanzipation bieten, somit nicht nur ein Mittel der Unterwerfung, sondern genauso ein positives Angebot darstellen. Damit bildet die (vermeintlich) neue Entdeckung der Religiosität, ob in ihrer sozialrevolutionären oder in ihrer reaktionären Variante, gerade auch für »die Linke« eine besondere Herausforderung. Denn in ein »klassisches« Rechts-Links-Schema lassen sich religiöse Bewegungen oft nur schwer einordnen.
In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg trat der Kapitalismus in vielen europäischen Ländern und in den USA in einer wohlfahrtsstaatlichen Variante auf, die ein Glücks- und Wohlstandsversprechen enthielt, das sich für einige Jahrzehnte zu erfüllen schien. Der spätere Abbau sozialstaatlicher Regelungen bewirkte demgegenüber stets ein krasses Anwachsen materieller Unterschiede und soziale Polarisierung, sodass große Gruppen von Verlierer_innen und Enttäuschten entstanden, was vielfach einen Nährboden für die Popularität religiöser Bewegungen schuf, die häufig nicht nur spirituelle Orientierung, sondern genauso praktische Hilfen anbieten. In diesem Zusammenhang ist auch der Aufschwung evangelikaler Bewegungen in den USA zu sehen, dem wir uns ebenfalls in der aktuellen PROKLA widmen, wobei insbesondere die Entstehung von »Megakirchen« ein herausragendes Phänomen der letzten Jahrzehnte darstellt. Im neoliberalen Workfare-Staat machen sie Angebote für die Freizeitgestaltung, erlauben das Knüpfen von Freundschaften und Arbeitsnetzwerken oder sorgen für Altenpflege und Kinderbetreuung. Gleichzeitig ist jedoch auch eine ganz andere Basis für neue Religiosität zu sehen. In Metropolen wie Istanbul, Lagos, Rio de Janeiro oder Berlin stößt man immer häufiger auf »Prosperitätsreligionen«, die in christlichen oder muslimischen Varianten auftreten, von jungen, gebildeten und kosmopolitischen Milieus getragen werden und sozialen Aufstieg mit Werten wie Askese, Gemeinschaftlichkeit, Missionierung und persönlicher Verantwortlichkeit verbinden. Auch ihnen widmen wir in der PROKLA einen Artikel.
In jedem Fall, so unser Plädoyer, ist Religion heute als Bestandteil moderner nationalstaatlich-kapitalistischer Vergesellschaftung zu analysieren. Nicht zuletzt gilt es dabei, animistischen oder spiritualistischen Anschauungen, wie sie zum Teil auch Bestandteil monotheistischer Religionen sind, ein wissenschaftlich-theoretisches Weltverständnis entgegenzusetzen - und zwar nicht im Sinne empiristischer und positivistischer Erklärungen, sondern im Sinne einer rationalen Reflexionsfähigkeit und eines emanzipatorischen politischen Projekts. Das ist das beste Gegengift gegen religiös begründete Ideologien wie auch gegen die kulturalisierende und essentialistische These vom »Clash of Civilizations«, wie sie von Samuel Huntingtons »Nachahmungstätern« (heute wieder) vertreten wird.
Henrik Lebuhn und Dorothea Schmidt sind Mitglieder der PROKLA-Redaktion.
PROKLA
erscheint seit 1971, bietet politisch engagierte sozialwissenschaftliche Analysen und wird von der Vereinigung zur Kritik der politischen Ökonomie e.V. herausgegeben. Das Märzheft titelt »Religion, Politik und Ökonomie« und kann unter prokla.de eingesehen und bestellt werden - oder direkt beim Verlag Westfälisches Dampfboot. Außerhalb des Religionschwerpunkts diskutiert Sarah Bormann das Phänomen, dass NGOs im Feld der Arbeitsbeziehungen der ITK-Industrie an Bedeutung gewonnen haben. Mario Candeias widerspricht der Einschätzung von Dario Azzelini in der PROKLA zuvor und plädiert dafür, stärker darüber nachzudenken, wie das Verhältnis zwischen Partei und Bewegungen politisch gestaltet werden kann, statt es als Widerspruch zu begreifen. Peter Wahl argumentiert in seinem Kommentar, dass entgegen der weitverbreiteten Annahme »das Narrativ der deutschen Dominanz oder gar Hegemonie in der EU völlig überzogen« sei. -> www.prokla.de