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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 614 / 15.3.2016

Chinas unmöglicher Kapitalismus

Wirtschaft & Soziales Der größte Industriestandort der Welt bleibt krisenanfällig

Von Ingo Schmidt

Im Kommunistischen Manifest bezeichneten Marx und Engels die »wohlfeilen Preise« kapitalistisch hergestellter Waren als die »schwere Artillerie, mit der (die Bourgeoisie) alle chinesischen Mauern in den Grund schießt ... und alle Nationen zwingt, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen«.

Heute lockt der chinesische Markt, chinesische Exporte gelten mal als lästige Konkurrenz, dann wieder als probates Mittel zur Unterbietung gewerkschaftlich organisierter Arbeiter im eigenen Land. Über allem aber schwebt die Angst, die im Zeichen der Globalisierung des Kapitals erstarkte Wirtschaftsmacht China könne sich als Rivale um die imperialistische Ausbeutung wirtschaftlich schwächerer Weltgegenden erweisen oder, schlimmer noch, nach einer Phase kapitalistischer Entwicklung wieder zu Sozialismus und Kommunismus übergehen. Währenddessen werden die laufenden Geschäfte von Börseneinbruch und Wachstumsrückgang in China in Mitleidenschaft gezogen.

Die Zahlen sind gar nicht so dramatisch. Gegenüber 2014 ist die Wachstumsrate in China in 2015 um einen Prozentpunkt auf 6,9 Prozent gesunken. 2010 lag sie mit 12 Prozent fast doppelt so hoch, aber dieser Wert war dem Aufholeffekt nach der Rezession 2008/2009 geschuldet. (In Deutschland lag die Wachstumsrate zuletzt 1969 über 6,9 Prozent.) An der chinesischen Börse gab es 2015 einen kurzen, aber heftigen Aufschwung, in dessen Verlauf der Shanghai Composite Index von 3.075 Punkten im Februar auf 5.166 Punkte im Juni stieg, im August aber wieder auf 2.927 Punkte fiel. Gemessen daran ist der Rückgang von 3539 auf Werte knapp über 3.000 in der ersten Handelswoche des neuen Jahres bestenfalls ein Krächlein.

Wandel durch Annäherung

Obwohl diese Zahlen wenig Dramatik enthalten, wurden sie in den Medien zu einem ausgewachsenen Börsenkrach und Vorboten kommender Krisen aufgeblasen - ein deutliches Zeichen, dass die von Bourgeoisideologen nach der Eindämmung der Rezession 2008/2009 verkündete Gewissheit, von nun an könne es nur noch aufwärts gehen, von diesen selbst nicht so recht geglaubt wurde. Und eine Erinnerung an die Bedeutung Chinas für die Weltwirtschaft. Diese wäre ohne den chinesischen Wachstumsbeitrag im vergangenen Jahr nicht um 2,4 Prozent, sondern nur um 1,7 Prozent gewachsen, zu wenig um die Profitansprüche von Börsen und Banken zu befriedigen.

Geopolitische Weichenstellungen seit Beginn der 1970er Jahre haben dazu geführt, dass die chinesische KP, die die Entwicklung des Kommunismus bis dahin mindestens ebenso behindert wie gefördert hatte, nun die Akkumulation des Kapitals unterstützte: noch zögerlich und tastend in den 1980er Jahren, sehr viel entschlossener und rücksichtsloser nach der Niederschlagung autonomer Arbeiter- und Studentenproteste 1989 und dem Zusammenbruch der einstmals verbündeten Sowjetunion.

Dass China von den Amerikanern überhaupt als geopolitische Größe wahrgenommen wurde, hatte es der Industrialisierung zu verdanken, die die KP schon kurz nach Gründung der Volksrepublik 1949 nach sowjetischem Vorbild einleitete. Dabei wurde zwischen 1950 und 1976 ein jährliches Durchschnittswachstum von 6,7 Prozent erreicht. Genug, um auch im Westen als aufstrebende Wirtschaftskraft und internationaler Machtfaktor ernstgenommen zu werden. Die politischen Kurswechsel in dieser Zeit waren allerdings noch erratischer und hatten noch katastrophalere Folgen als in der Sowjetunion der 1930er Jahre. Der 1958 als »Großer Sprung nach vorn« angekündigte zweite Fünfjahresplan führte zu einer tiefen Rezession; 1961 schrumpfte die Wirtschaft um 19,5 Prozent. Während der Kulturrevolution von 1966 bis 1976 gab es vier, im Vergleich zum »Großen Sprung nach vorn« allerdings deutlich mildere, Rezessionen. Die Industrialisierung ging mit einer gesellschaftlichen und politischen Zerrüttung einher, angesichts derer die Betonung von privatem Selbstinteresse anstelle politischer Kampagnen seit Beginn der 1980er Jahre als Erleichterung wahrgenommen wurde.

Bauernfamilien durften nunmehr auf eigene Rechnung wirtschaften. Trotz geringer Betriebsgrößen, die den Einsatz von Maschinen im Vergleich zur Zeit der Volkskommunen deutlich behinderten, kam es zu einer raschen Erholung der durch Industrialisierung und Kulturrevolution arg ramponierten Landwirtschaft. Die wenige Jahre später geschaffene Möglichkeit, Flächen zusammenzulegen oder zu verkaufen, erleichterte den Maschineneinsatz und führte zu einem weiteren Anstieg der Agrarproduktion, aber auch zur Herausbildung einer Unterschicht von Bauern, die nicht über ausreichend Land verfügten, um ihren Lebensunterhalt allein aus der Landwirtschaft zu bestreiten. In immer größerer Zahl zog es sie in die Städte und die seit 1980 geschaffenen Sonderwirtschaftszonen. Weil die freie Wahl des Wohnsitzes in China nicht erlaubt ist und die formale Beibehaltung eines Wohnsitzes auf dem Land vielen zumindest einen Mindestzugang zur Subsistenzproduktion der Familie erlaubt, musste sich das schnell wachsende Heer an Wanderarbeitern in der städtischen Industrie als illegale Tagelöhner verdingen.

Vom Plan zum Markt

Die Anfang der 1990er Jahre einsetzende massive Privatisierung von Staatsbetrieben und die Rationalisierung der fortbestehenden Staatsbetriebe vergrößerte das Angebot billiger Arbeitskräfte für die Weltmarktfabriken weiter. Zudem führte die Freigabe der Preise für Konsumgüter zu einer massiven Inflation, 1988/89 stieg die Inflationsrate auf fast 30 Prozent. Die damit verbundenen Reallohnverluste führten zu Massenprotesten von Arbeitern und schließlich auch Studenten, die auf dem Tiananmen-Platz vom Militär niedergeschlagen wurden. Wenige Jahre später wurde die als Eiserne Reisschüssel bekannte soziale Mindestsicherung abgeschafft, sodass der Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft um jeden Preis weiter zunahm. Der Weg zum Export- und Investitionsboom, der von den frühen 1990er Jahren bis zur Großen Rezession anhielt, war frei. Auslandsinvestoren und Chinas neue Kapitalisten wetteiferten um die Ausbeutung eines vermeintlich unerschöpflichen Angebots billiger Arbeitskraft.

Der beispiellose Wirtschaftsaufschwung, den China seit den 1990er Jahren erlebt, hat das Land zum größten Industriestandort der Welt gemacht. 2012 waren 22,4 Prozent der weltweiten Wertschöpfung im verarbeitenden Gewerbe in China angesiedelt, mit 17,4 Prozent belegten die USA den zweiten, Deutschland mit 6 Prozent den dritten Platz. Der Anteil der Exporte am chinesischen Bruttoinlandsprodukt (BIP) stieg von 17,6 Prozent 1996 auf 34,9 Prozent im Vorkrisenjahr 2007. Im gleichen Jahr erreichte der chinesische Leistungsbilanzüberschuss mit 10,1 Prozent, gemessen am BIP, einen Höchststand. Damit gingen Kapitalexporte einher, denen insbesondere die gleichfalls dramatisch steigenden Schulden amerikanischer Privathaushalte gegenüberstanden. Ob chinesische Kapitalexporte die USA in die Schuldenfalle gelockt und schließlich einen Dominoeffekt von Immobilien-, Finanz- und Weltwirtschaftskrise ausgelöst haben, wie Ben Bernanke, seinerzeit Direktor der US-Zentralbank, behauptet, sei dahingestellt.

Der Große Sprung auf den Weltmarkt

In den USA wurde schon vor Ausbruch der Krise deutliche Kritik an den außenwirtschaftlichen Ungleichgewichten gegenüber China geübt. Im Verlauf der Krise vollzog China einen Kurswechsel, der den Exportanteil 2014 auf 22,6 Prozent (zum Vergleich Deutschland: 45,7 Prozent) und den Leistungsbilanzüberschuss auf 2,1 Prozent (Deutschland: 7,6 Prozent) zurückführte. Die bereits vor Krisenausbruch begonnene Aufwertung des Renminbi setzte sich fort, und die Regierung tolerierte Lohnsteigerungen, die sich die mutiger gewordenen Arbeiter erkämpften. Aufwertung und Lohnsteigerungen verteuerten die chinesischen Exporte und führten gleichzeitig zu einer Erhöhung der Importe.

Forderungen nach einem sozialstaatlichen und auf konsumtive Binnennachfrage zielenden Umbau der Wirtschaft, wie sie Bo Xilai von 2007 bis zu seiner Absetzung 2012 im ZK vertrat, konnten sich allerdings nicht durchsetzen. Stattdessen setzten Partei- und Staatsführung auf billige Investitionskredite für die Industrie und die Immobilienwirtschaft. Diese Strategie hat zwar zu einer raschen Überwindung der Großen Rezession und einem Abbau außenwirtschaftlicher Ungleichgewichte beigetragen, ist aber mittlerweile in eine Sackgasse geraten. Davon legen die Börseneinbrüche im vergangen Sommer und zu Beginn dieses Jahres Zeugnis ab. Der finanziellen Instabilität liegt eine Gemengelage aus Überkapazitäten, riesigen Schuldenbeständen im privaten Unternehmenssektor und weiter steigenden Lohnkosten gegenüber.

Die jüngsten Verhaftungen von unabhängigen Gewerkschaftsaktivisten deuten darauf hin, dass die Regierung eine Ausweitung kostentreibender Streiks, deren Zahl seit 2011 kontinuierlich zugenommen hat, nicht zulassen will. Zudem wurde der Renminbi leicht abgewertet. Sollte damit der Versuch verbunden sein, die »schwere Artillerie wohlfeiler Preise« erneut in Stellung bringen, die China in den 1990er Jahren den großen Sprung auf den Weltmarkt ermöglicht hat, werden auch Krisen à la 2008/2009 wiederkehren. Es ist aber weder klar, ob die chinesische Führung einen solchen Versuch ernsthaft unternimmt, noch ob er Aussichten auf Erfolg hätte.

Ingo Schmidts Artikel erschien zuerst in der SoZ/Februar 2016 als Teil einer Serie über die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika).

Die Sozialistische Zeitung (SoZ)

gibt es seit 1986. Sie ist eine Monatszeitung mit einer unabhängigen, aus verschiedenen politischen Richtungen zusammengesetzten Redaktion und wird von der internationalen sozialistischen linken (isl) unterstützt. Ihre Schwerpunkte liegen auf Betrieb & Gewerkschaft, Europa, Sozialismus. Die Redaktion sitzt in Köln. Die Zeitung hat 24 Seiten und kostet im Normalabo 58 Euro, im Sozialabo 28 Euro. -> www.soz-online.de