Was ich von der Superheldin Jessica Jones lernte
Gender Eine feministische Perspektive auf die Silvesternacht und darüber hinaus
Von Isolde Aigner
Hunderte Frauen wurden in der Silvesternacht in Köln und anderen Städten Betroffene sexueller Gewalt. Das hat mich sehr bestürzt und aufgewühlt - und tut es noch! Mir ist sehr wichtig, den Betroffenen meine tiefste Solidarität auszusprechen.
Diese Nacht hat eine öffentliche Debatte ausgelöst. Welche Deutungen der »Silvestervorfälle« haben sich (bisher) herauskristallisiert? Und wie könnten jetzt feministische Interventionen im Kampf um körperliche und sexuelle Selbstbestimmung aussehen?
Unheilvolle »Lücken« in der Debatte nach »Silvester«
In der Debatte vollziehen sich Deutungskämpfe um das Recht von Frauen auf körperliche und sexuelle Selbstbestimmung. Hier wird aber vor allem eine Instrumentalisierung dieser Rechte sichtbar. Rechte, die in der breiten Gesellschaft nie große Beachtung fanden, obwohl Feminist_innen seit Jahrzehnten dafür kämpften. Noch in der »Sexismusdebatte« im Jahr 2013 (unter anderem ausgelöst durch den Hashtag »Aufschrei«) wurde sexuelle Belästigung in der Öffentlichkeit relativiert, es kam sogar zu einer Täter-Opfer-Umkehr, indem zum Beispiel Männern geraten wurde, sich vor Falschverdächtigungen durch Frauen zu schützen. Jetzt, nach »Silvester«, kommt es vielfach zu einer »vermeintlichen« Empörung gegen sexuelle Gewalt, die sich in einem massiven Rassismus gegen die Täter entlädt. Sexismus wird hier nach »außen« verlagert, den »Anderen« zugeschrieben, um die sexistischen Strukturen in der eigenen Gesellschaft und die Auseinandersetzung damit auszublenden. Die Bedeutung von Frauenrechten wird dabei vorgeschoben, um rassistische Aussagen zu legitimieren - wie das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung in seiner Pressemitteilung erklärt. Zugleich gibt es kaum Verweise auf die viel verbreitete häusliche, sexuelle Gewalt.
Es gibt aber auch einen starken Gegendiskurs, der die Rassismen der Debatte entlarvt und eine Auseinandersetzung mit (dem eigenen) Sexismus in der Gesellschaft einfordert. Die Initiative ausnahmslos - gegen eine rassistische Instrumentalisierung von Frauenrechten - wurde in kürzester Zeit von 10.000 Menschen unterzeichnet. Eine nachhaltige, medienwirksame Intervention und gerade deshalb so wichtig, weil hier Feminist_innen selbst das Wort ergriffen.
In der Debatte zeigen sich jedoch auch unheilvolle »Lücken«: Wo ist die Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Zivilcourage und einem sozialen und friedlichen Klima in unserer Gesellschaft? Stattdessen: ein »anschwellender« Sicherheitsdiskurs, verbunden mit der Forderung nach staatlicher Repression (z.B. mehr Polizeipräsenz).
Es mangelt außerdem an Power für feministische, zivilcouragierte selbstermächtigende Kämpfe gegen Sexismus. Selbst in feministischen Gegendiskursen wie der Initiative ausnahmslos bleibt die Bedeutung jener Kämpfe unthematisiert.
Vor allem aber wird die Silvesternacht kaum in Zusammenhang mit (Geschlechter)Verhältnissen und Ursachen von Sexismus verhandelt. Wie auch in der »Sexismusdebatte« 2013 arbeitet sich die Öffentlichkeit stattdessen an Personengruppen ab (»nordafrikanisch« aussehende Männer). Das verschiebt den Blick weg von Verhältnissen, in die wir eingebunden sind: Machtverhältnisse und Lebensbedingungen, die von (ökonomischer) Ungleichheit zwischen den Geschlechtern durchsetzt und geprägt sind - verbunden mit realen Abhängigkeiten. Das Vorherrschen heterosexueller, zweigeschlechtlicher Normen und eine hegemoniale Männlichkeit als Dominanzmodell innerhalb von Machtbeziehungen, in denen sich der männliche Männertypus durchsetzt und die bestehende hierarchische Geschlechterordnung stabilisiert wird. Frauen und insbesondere queere Menschen erfahren hier Diskriminierungen und Entrechtung.
Als Frau sehe ich mich zum Beispiel oft mit Ächtung und Empörung beim Zurückweisen und Entlarven von sexistischem Verhalten konfrontiert, weil es »selbstverständliche« Normen ins Wanken bringt. Das macht es umso schwerer, mutig entgegenzuhalten. Auch Männer, die nicht dem Ideal der hegemonialen Männlichkeit entsprechen oder entsprechen wollen, leiden unter diesen Verhältnissen.
Erste Effekte der Debatte über die »Silvestervorfälle«
Es vollzieht sich eine (teils rassistisch aufgeladene) Reproduktion hegemonialer Männlichkeit, verbunden mit der Vorstellung, dass die weißen Männer die »eigenen Frauen« vor den »Anderen«, den »Eindringlingen« »schützen« müssten. Das zeigt sich an folgenden Beispielen:
Wie das Duisburger Institut für Sprach und Sozialforschung aufzeigt, gibt es zunehmend Forderungen nach Abschottung nach Außen - als könnte auf diese Weise Sexismus und sexuelle Gewalt gemindert werden. Das ist auch deshalb so perfide, da mit der Forderung nach Abschiebung zum »Schutze« der in Deutschland lebenden Frauen die Frage, ob Frauen in den Herkunftsländern vergewaltigt werden, nach dieser Logik gleichgültig ist - so die Aussage der Juristin Christina Clemm.
Es manifestiert sich an der Stigmatisierung junger Männer, denen das Täterprofil von »Silvester« anhand äußerlicher Merkmale zugeschrieben wird. Als »Eindringlinge« ausgemacht, sind sie der Zunahme polizeilicher Kontrolle ausgesetzt. Der Kölner Hauptbahnhof ist für sie inzwischen eine No-go-Area: Sie können ihn schlichtweg nicht unbeschwert durchqueren ohne angehalten, kontrolliert zu werden. Und es gipfelt in Bürgerwehren, die zum »Schutz« der »deutschen Frau« Gewalt verüben. Das belastet das Klima und soziale Miteinander einer ganzen Stadt, einer ganzen Region.
Gleichzeitig zeigt sich an Silvester, aber auch danach, ein selbstverständliches Okkupieren des öffentlichen Raums durch Männer: Frauen werden abends von Männern begleitet und »geschützt«. Sie meiden inzwischen Orte, an denen sie zuvor wie selbstverständlich alleine lang liefen und nehmen sich so selbst das Recht auf den öffentlichen Raum. Sie berichten in Interviews, dass sie beim Ausgehen nun ihrem Freund jede halbe Stunde eine Textnachricht schreiben würden. Wieder ist es eine »überhöhte« Männlichkeit, der eine machtvolle wie kontrollierende Funktion zukommt. Ausgerechnet! Die fast als selbstverständlich empfundenen Machtansprüche einer hegemonialen Männlichkeit werden zementiert, die Entwicklung von Selbstermächtigungsstrategien gegen Sexismus, die sich eben genau dieser Männlichkeit entgegenstellt, nahezu unmöglich.
Feministische Interventionen
Zwei »Heldinnen« haben mich in der Auseinandersetzung mit »Silvester« und der Frage nach feministischen Interventionen besonders inspiriert.
Virginie Despentes ist eine Autorin und Filmemacherin aus Frankreich. Ihr autobiographischer Essay »King Kong Théorie« gilt als Retrospektive auf ihr Leben und Werk und widmet sich dem Thema der körperlichen und sexuellen Selbstbestimmung. Ausgangspunkt ist die eigene Erfahrung einer Vergewaltigung im Alter von 17 Jahren und die Auseinandersetzung mit der dabei von ihr empfundenen Ohnmachtserfahrung. Sie wird zu ihrem Leitthema, an dem sie immerwährend rüttelt: »Ich gehöre ... zu dem Geschlecht, das zu schweigen hat, das man zum Schweigen bringt ... dies aber gefälligst höflich hinzunehmen hat und artig den Persilschein hochhält.« In »King Kong Théorie« verortet sie jene Ohnmachtserfahrung gesellschaftspolitisch, verwandelt sie in einen Appell an Frauen, sich widerspenstig und selbstbestimmt gegen weibliche Unterwerfungsmechanismen in der Gesellschaft aufzulehnen, daraus auszubrechen.
Jessica Jones ist eine toughe, wie verletzliche Superheldin aus der gleichnamigen Netflix-Serie. Sie war der sexuellen Gewalt eines anderen Superhelden ausgesetzt, der Gedankenkontrolle ausüben kann. Als sie erfährt, dass er wieder eine Frau in seiner Macht hat und sexuell missbraucht, nimmt sie die Jagd auf ihn auf. Die Serie verhandelt die Verletzung körperlicher, seelischer, sexueller Selbstbestimmung von Frauen und den gesellschaftlichen Umgang damit. Der Täter symbolisiert eine männliche Herrschaft über Frauen: Er sagt ihnen, dass sie ihn küssen, ihn anlächeln, mit ihm schlafen, ihn lieben sollen und gibt ihnen dabei zu verstehen, dass sie seinen »Anweisungen« aus freien Stücken folgen würden.
Unterstützung vom Staat erhalten die Betroffenen nicht, keiner glaubt ihnen, dass sie das - nur per Gedankenkontrolle - über sich ergehen ließen. Hier zeigen sich die gesellschaftlichen Mechanismen von Rape Culture: Sexuelle Gewalt wird nicht anerkannt, den Betroffenen misstraut oder die Schuld zugewiesen. Jessica Jones ist es schließlich, die aus der eigenen (An)Erkennung ihrer Ohnmachtserfahrung eine unbändige Power zieht, um - nicht allein, sondern zusammen mit ihrer besten Freundin - selbstermächtigend gegen den Täter zu kämpfen.
Was konnte ich von Virgine Despentes und Jessica Jones im Zuge der Silvesterdebatte lernen? Beide zeigen, dass sie als Betroffene gerade durch die Auseinandersetzung mit der eigenen Ohnmachtserfahrung zu »Heldinnen« werden.
Virginie Despentes hat auf selbst ermächtigende Weise die »persönliche« Erfahrung der Betroffenheit und Ohnmacht in »King Kong Théorie« politisiert (Das Private ist politisch). Ich selbst verfasste zum Beispiel - nach einer Erfahrung der sexuellen Belästigung nach Silvester, bei der ich keine Unterstützung anderer erhielt - einen Appell für feministische Kämpfe. Das war (m)ein Weg, um die Betroffenheit zu verarbeiten, zu politisieren, mich so aus meinem Ohnmachtsgefühl herauszubewegen. Es gibt unzählige Wege der »(Re)Politisierung zur Selbstermächtigung«. Aber es braucht die Vermittlung feministischen Wissens zur Repolitisierung sexueller und körperlicher Selbstbestimmung im Kontext von (Geschlechter)Verhältnissen und Hinterfragung hegemonialer Männlichkeit - beispielsweise durch geschlechterpolitische Bildung.
Jessica Jones zeigt, dass feministische Freundschaft von unschätzbarem Wert ist, sie kann unbändige Power entfalten und ein Ausgangspunkt für selbstermächtigende, feministische Kämpfe (außerhalb des Internets) sein. Die Bedeutung dieser Kämpfe geriet in manchen feministischen Kontexten und auch bei mir selbst aus dem Blick. Kämpfe, in denen Stimmen, die weniger gehört werden (von geflüchteten Frauen, queeren Menschen, sozial benachteiligten Mädchen) stark werden; in denen (rassistische) Vereinnahmungen entlarvt und Männer einbezogen werden können, die eine hegemoniale Männlichkeit aufbrechen wollen. Kämpfe, um eben nicht alleine auf den Staat und etwaige Gesetzesänderungen zu bauen. Mit der Wiederbelebung feministischer (Offline)Räume zum Austausch über Erfahrungen der Verletzung sexueller Selbstbestimmung. Um daran anknüpfend zusammen solidarische und konkrete Strategien der Emanzipation zu entwickeln: Wie können wir Sexismus und Rassismus im Alltag selbstermächtigend zurückdrängen, ihnen widerständig begegnen, statt uns zu unterwerfen und zurückzustecken (wie es so oft von uns erwartet wird)?!
Es kann um gemeinsame Selbstermächtigungsstrategien gehen, um zum Beispiel zusammen den öffentlichen Raum ungehorsam, subversiv, widerspenstig (zurück) zu erobern - oder um »persönliche« Strategien: Seit Silvester zelebriere ich es mehr als zuvor, nachts nach dem Clubaufenthalt in Köln allein lange Strecken zum Bahnhof zu laufen und anderen Frauen auf diese Weise zu signalisieren: Es ist mein, es ist unser Recht! Und es muss möglich sein, hier sicher und angstfrei alleine entlang zu laufen. Es ist möglich!
Isolde Aigner ist Redakteurin der WIR FRAUEN. Sie promoviert zu antifeministischen Geschlechterdiskursen und ist Mitarbeiterin der Diskurswerkstatt des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS).
WIR FRAUEN
ist ein generationsübergreifendes, ehrenamtliches Projekt und erscheint seit 34 Jahren. Sie steht für einen linken Feminismus, der sich kritisch mit sozialen, globalen und ökonomischen Verhältnissen auseinander setzt und an einem politischen und solidarischen »Wir« festhält. -> wirfrauen.de