Der Krieg in Kurdistan
International Einige Vorschläge, was die Linke in Deutschland tun kann
Von Peter Schaber
Der Krieg in Kurdistan dauert an. Hunderte - vor allem zivile - Tote aus der kurdischen Bevölkerung, verwüstete Städte und Stadtteile, Hunderttausende Binnenflüchtlinge sind bisher seine Bilanz. Wer Cizre, Silopi, Diyarbak?r-Sur gesehen hat, weiß, hier wütet eine Besatzungsmacht, die sich faschistischer Sondereinsatzeinheiten bedient und vor nichts zurückschreckt: Wohnviertel werden mit Panzern und Artillerie beschossen, neuerdings auch aus der Luft. Die Bevölkerung wird kollektiv bestraft, durch die Ausgangssperren und das gezielte Kappen von Versorgungswegen sollen die Menschen aus ihren Häusern vertrieben werden.
Wir zählen die Toten. Wir zählen die Tage der Ausgangssperren. Wir zählen die aus ihrem Heim Geflüchteten. Hinter jeder einzelnen dieser Zahlen steht die Geschichte eines Menschen, einer Familie, seiner Freund_innen. Geschichten wie die von Taybet Inan, die am 18. Dezember 2015 in Silopi auf offener Straße erschossen wurde. Ihr Sohn schrieb die Geschichte in einem Brief auf: »Als ich ankam, trugen meine Nachbarn meinen Onkel. Wo ist meine Mutter?, fragte ich. Sie liegt auf der Straße, sagten sie.« Angeschossen von Scharfschützen lag Taybet Inan sieben Tage in den Straßen ihres Viertels. Bergen konnten die Verwandten sie nicht, denn die Sniper schossen auf jeden, der es versuchte. »Niemand von uns schlief«, erzählt ihr Sohn. »Denn wir fürchteten, die Hunde würden kommen oder die Vögel. Stellen Sie sich vor, Sie müssen Ihre Mutter tot auf der Straße liegen sehen, für sieben Tage.«
Auf einer Reise durch Kurdistan hört man viele Geschichten von Leid und Verlust. Kaum eine Familie hat nicht in den Jahrzehnten des Konflikts schon einen Toten, Verwundeten, Verschwundenen oder lange Zeit Inhaftierten zu beklagen. Wir trafen Mütter, deren Söhne in Kobanê gefallen sind, trafen Brüder und Schwestern, deren Geschwister in Gefängnissen gefoltert wurden, trafen Kinder, deren Eltern vom türkischen Militär getötet wurden. All diese Menschen trauerten. Doch sie verfielen nicht in Resignation, sie verloren nicht ihre Hoffnung und nicht ihr Ziel aus den Augen. Einige von ihnen beteiligen sich heute am zivilen Aufbau der »demokratischen Autonomie«, andere verteidigen ihre Kieze und Städte mit der Waffe in der Hand.
Die Geschichten, die diese Menschen erzählen, verfolgen einen, sie verschwinden nicht einfach. Und sie stellen die brachiale Frage: Was tun wir eigentlich, um unsere Genoss_innen in Kurdistan zu unterstützen? Tun wir genug?
Solidarität mit den Kämpfen in Bakur
Unbestreitbar hat während der Belagerung Kobanês durch Verbände des Islamischen Staates in der deutschen Linken das Interesse am kurdischen Befreiungskampf zugenommen. Früher oft zu hörende Vorbehalte gegen die kurdische Bewegung wichen einer in weiten Teilen der hiesigen Linken geteilten Euphorie, man sah mehr Deutsche auf kurdischen Demonstrationen, und viele Gruppen organisierten Solidaritätskampagnen. Spenden wurden gesammelt, in einem nicht geringen Ausmaß, die Forderung nach Aufhebung des PKK-Verbots wurde thematisiert, und tatsächlich entstanden hier und da neue Kontakte von autonomen und antifaschistischen Gruppen zu kurdischen Aktivist_innen.
Eine vergleichbare Welle der Solidarität mit den Kämpfen in Bakur (Nordkurdistan: die kurdischen Gebiete in der Türkei) steht bislang aus. Das Bewusstsein, dass der Krieg in Nordkurdistan ebenso wichtig für die kurdische Bewegung ist wie der in Rojava, wenn nicht entscheidender, muss erst noch geschaffen werden.
Dann stünden uns zumindest vier Formen der Solidarität zur Verfügung. Erstens: Auch die Bewegung in Bakur braucht Geld und Ressourcen. Vereine wie Rojava Dernek mit Sitz in Diyarbak?r bekommen zu wenig Spenden - und die brauchen sie dringend, versorgen sie doch derzeit Zehntausende Menschen ohne Wohnung, Arbeit und Nahrung.
Zweitens: Bereits im Januar rief die Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK) westliche Journalist_innen und Aktivist_innen nach Kurdistan. Die Nachrichten über Massaker wie jene in Sur und Cizre schaffen es dank des schäbigen Deals zwischen Berlin und Ankara kaum in deutsche Mainstreammedien, eine wirkliche Skandalisierung dieses Feldzugs findet nicht statt. Hier können linke Fotograf_innen und Reporter_innen wichtige Arbeit leisten.
Drittens: Hier mag es etwas ungewohnt werden für eine an dieses Eskalationsniveau nicht gewohnte Linke, aber eine mögliche Aktionsform ist die der »menschlichen Schutzschilde«. Die Überlegung dahinter ist klar und macht Sinn: Der türkische Staat hat aus außenpolitischen Erwägungen heraus Skrupel, westliche Staatsbürger_innen zu töten, während er das Leben von Kurd_innen ohne mit der Wimper zu zucken beendet. Warum also nicht dieses Privileg in die Waagschale werfen? In Gever gibt es ein Zelt für die zivile Unterstützung des Widerstands in einer der mit Barrikaden und Gräben befestigten Nachbarschaften, in anderen Städten wie Nusaybin dürfte das in Absprache mit den örtlichen Kommandeur_innen der Zivilverteidigungseinheiten YPS ebenso gewünscht und möglich sein.
Viertens: In Rojava beteiligt sich mittlerweile eine für unsere Verhältnisse nicht geringe Anzahl von Antifaschist_innen aus Deutschland auch militärisch an den Auseinandersetzungen, zwei von ihnen - Ivana Hoffmann und Kevin Jochim - fielen im Kampf. Diese Option gibt es auch in Nordkurdistan.
Ihr Kampf - unser Kampf
All diese Unterstützungsleistungen sind wichtig, und gerade wenn wir uns vor Augen führen, was in Kurdistan auf dem Spiel steht, sollten wir nicht zögern. Entscheidender noch ist aber etwas anderes. Als wir in Gever waren, antwortete eine Genossin des Kongresses der Freien Frauen (KJA) auf die Frage danach, wie die Linke in Europa helfen könne: »Kämpft da, wo ihr seid, baut die demokratische Autonomie auf, wo immer ihr seid. Der Kampf hat seinen Ort nicht nur in Kurdistan, er ist ein weltweiter.« Auch Abdullah Öcalan, der inhaftierte Führer der Arbeiterpartei Kurdistans PKK, hat immer wieder betont, dass die Idee der »demokratischen Autonomie« nicht exklusiv für Kurdistan gedacht war.
Der Witz einer tatsächlichen Solidarität auf Augenhöhe bestünde darin, nicht in der kurdischen Bewegung eine Projektionsfläche zu sehen, die wir als »kleinerer Partner« zu supporten haben, sondern selbst eine Bewegung zu werden, die der kurdischen ebenbürtig ist und ähnliche Ziele verfolgt. Zur Erreichung dieses Ziels gibt es einiges, was von der »demokratischen Autonomie« zu lernen wäre (und umgekehrt gäbe es einiges, was die demokratische Autonomie aus unseren Erfahrungen lernen könnte).
Die Voraussetzung dafür ist, dass wir uns mit offenen Augen ansehen, welche Idee die kurdische Bewegung hat und wie sie sie umsetzt, und dann auswerten, wo diese Idee für unsere - ziemlich andere - gesellschaftliche Realität Ansätze bietet.
»Natürliche Gesellschaft« und soziale Beziehungen
Es gibt verschiedene Wege, sich der Idee der »demokratischen Autonomie« anzunähern. Eine, die ohne Parteisprech und Phrasen auskommt, vielleicht aber ein wenig ungenau ist, ist diese: Abdullah Öcalan und die PKK fanden in Kurdistan eine Gesellschaft vor, die in wesentlichen Punkten noch vorkapitalistisch war und ist. Öcalan schrieb daher 2004 in seinem Buch »Jenseits von Macht, Staat und Gewalt«, alle geschichtliche Entwicklung sei ein Kampf zwischen einer nicht-staatlichen »kommunalen« oder »natürlichen« Gesellschaft und einem etatistischen »hierarchischen System«, das sich diese einverleiben und unterordnen wolle.
Unter einer »kommunalen Gesellschaft« versteht er im Grunde dasselbe wie der Marxismus unter einer »urkommunistischen«, nur betrachtet Öcalan sie als nicht vergangene, sondern weiterexistierende und im Kampf mit der »hierarchischen« sich durchsetzende Form. Man könnte sagen, er knüpft an die Diskussion an, die Marx in seinen Briefentwürfen an die russische Sozialistin Vera Sassulitsch andachte. Sassulitsch hatte Marx gefragt, ob die ursprünglichen Dorfgemeinschaften der russischen Bäuerinnen und Bauern zuerst vom Kapitalismus aufgelöst werden müssten oder ob sie selbst Ausgangspunkt einer sozialistischen Entwicklung werden könnten. In seinem Brief deutete Marx an, dass seiner Auffassung nach die »Dorfgemeinde sich nach und nach von ihren primitiven Wesenszügen befreien und sich unmittelbar als Element der kollektiven Produktion in nationalem Maßstab entwickeln« könne.
Genau das ist im Grunde das Projekt der »demokratischen Autonomie«. Die PKK und die anderen - zivilen wie militärischen - Organisationen der kurdischen Bewegung knüpfen an in der kurdischen Gesellschaft ohnehin vorhandene Formen (vorkapitalistischen) solidarischen und kollektiven Lebens an und versuchen, sie von ihren »primitiven Wesenszügen« (patriarchale und religiöse vor allem) zu befreien. Ohne die vorpolitischen sozialen Familien- und Nachbarschaftsbeziehungen, Formen des Teilens und gemeinsamen Arbeitens/Lebens hätte die kurdische Bewegung die Kraft nicht entfalten können, die sie heute hat.
Die Institutionen der »demokratischen Autonomie« nehmen diese sozialen Beziehungen auf und geben ihnen eine politische Form: die halk meclise (Volksversammlungen), die als Rätestrukturen von unten nach oben funktionieren, die Kulturzentren, Frauenhäuser und die Hilfs- wie Versorgungsinstitutionen für Nahrung, Wohnung und ähnliches.
Soziale Beziehungen und politische Form
Was bedeutet das für uns? Sicherlich können wir das, was in Kurdistan geschieht, nicht als Schablone auf eine gesellschaftliche Wirklichkeit anwenden, die von der in Bakur und Rojava ziemlich verschieden ist. Und sicherlich müssen wir an diesem Konzept vieles kritisieren: In der Überbetonung moralischer, kultureller und politischer Faktoren bei gleichzeitiger Vernachlässigung ökonomischer Faktoren hat es sicherlich eine Schwachstelle, auch wenn hier und da kollektive Formen des Produzierens einfließen.
Aber lernen können wir vieles über die Wichtigkeit vorpolitischer sozialer Beziehungen und wie diesen eine politische Form zu geben ist. In modernen (urbanen) kapitalistischen Gesellschaften sind die nachbarschaftlichen Beziehungen weitestgehend einer Vereinsamung und Individualisierung gewichen, die gemeinsames politisches Handeln ungemein erschwert. Wir kennen uns kaum als Menschen, wie sollten wir das Vertrauen haben, im Kampf füreinander einzustehen? Erst wenn wir solidarisches und kollektives Zusammenleben im Alltag - im Kiez und am Arbeitsplatz - wiederherstellen können, werden wir die Basis für mehr haben. Ansätze gibt es dafür: Die breite »Helferbewegung«, die von ihrer »primitiven« Form als »Willkommenskultur« befreit werden müsste; die Bündnisse zur Verhinderung von Zwangsräumungen; die verschiedenen - politisch reformistischen - Streikbewegungen (Amazon, Bahn, Erzieher_innen, Mall of Shame usw.) oder die Ultra-Kultur in den Stadien. Zu überlegen wäre auch, ob man die »Freiräume« der Bewegung nicht der Nachbarschaft öffnen und attraktiver für »normale« Menschen machen könnte.
Sich in diese Alltagskämpfe ohne Besserwisserei und moralinsaure Akademikerattitüde zu begeben und zu versuchen, politische Formen zu finden, die sie verstetigen und zum Bruch mit Kapitalismus und Staat leiten, wäre ein Anfang. Hätte man dann Orte und Milieus der Gegenmacht, müsste man vielleicht eine weitere Lektion aus Kurdistan lernen: Wer nicht in der Lage ist, das Erreichte militant zu verteidigen, wird es nicht lange behalten..
Peter Schaber ist Redakteur beim Lower Class Magazine und war im Januar in den umkämpften kurdischen Städten in der Türkei.
Lower Class Magazine
Das Lower Class Magazine, est. 2014, versucht, linksradikalen Reportagejournalismus von der Straße für die Straße mit der Lust an Polemik und Kritik im Handgemenge zu verschmelzen. Vorlieben: Krawall & Kommunismus, Basisbewegungen & Beer, Proletkultur & Pflastersteine. -> lowerclassmag.com