Titelseite ak
ak Newsletter
ak bei Diaspora *
ak bei facebookak bei Facebook
Twitter Logoak bei Twitter
Linksnet.de
Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 615 / 19.4.2016

Ziemlich beste Freunde

Türgida Deutschland und die Türkei kooperieren seit mehr als 100 Jahren bestens - daran wird sich so bald nichts ändern

Von Anselm Schindler

Auch wenn Erdogans Türkei in der deutschen Öffentlichkeit zunehmend in die Kritik gerät und sich in Syrien strategische Differenzen zwischen dem AKP-Regime und der NATO auftun: An der deutschen Unterstützung für das Regime am Bosporus wird das nichts ändern. Denn entwickelt haben sich der türkische Staat und sein Hegemonieanspruch im Nahen Osten in Wechselwirkung mit geostrategischen und ökonomischen Interessen deutscher Staaten. Die gegenseitigen Abhängigkeiten wirken weiter.

Die enge Verzahnung deutsch-türkischer Interessen gilt nach wie vor als das Patentrezept für die Durchsetzung politischer Ziele der Bundesrepublik im Mittleren Osten. Diese Einschätzung teilen deutsche Militärs, Ökonom_innen und Politiker_innen seit mehr als 100 Jahren. »Einzig und alleine eine politisch und militärisch starke Türkei« ermögliche es dem Deutschen Reich, »die großen Aussichten, welche sich in den Ländern am Euphrat und Tigris für die Vergrößerung unseres Nationalvermögens und die Verbesserung unserer wirtschaftlichen Bilanz bieten«, in die Tat umzusetzen. Das schreibt der deutsche Kolonialstratege Paul Rohrbach im Jahr 1902. »Für eine schwache Türkei keinen Pfennig, für eine starke, soviel nur irgend gewünscht wird.«

Als sich das 19. Jahrhundert dem Ende zuneigt, drängt die deutsche Wirtschaft auf einen »Platz an der Sonne«, wie es ein Staatssekretär des Auswärtigen Amtes 1897 im Reichstag formulierte. Das deutsche Großmachtstreben war lange eher auf Europa fixiert, im Nahen Osten haben längst Frankreich und England das Sagen. Im Wettlauf um die Kolonialisierung der nichteuropäischen Welt ist das Deutsche Reich zu Beginn des 19. Jahrhunderts weit abgeschlagen.

Die Bagdad-Bahn, Türöffner für deutsche Unternehmen

Mit dem Bau der Bagdad-Bahn zwischen Konya (heute Türkei) und der Hauptstadt des heutigen Irak, die den leichteren Transport von Rohstoffen sowie verstärkten Einfluss versprechen, wittern deutsche Industrielle, Banker und Politiker eine Chance, sich ihren Platz an der Sonne doch noch zu sichern. Seit Anfang der 1880er Jahre sind deutsche Ingenieure mit der Entwicklung von Plänen zum Bau der Bahn beauftragt. Für die Übernahme der Konzessionen bietet sich die Deutsche Bank an. Bis dato war das Osmanische Reich stark von französischen Großbanken abhängig, welche auch die Banque Impériale Ottomane kontrollierten.

Auch auf militärischem Gebiet macht das Deutsche Reich Offerten: 1882 sucht der Osmanische Herrscher Sultan Abdülhamid II. einen neuen Stab militärischer Berater. Der preußische Offizier Graf von Moltke, der den Osmanen bereits bei der Niederschlagung kurdischer Aufstände beratend zur Seite gestanden hatte, entsendet Otto Kähler, einen preußischen General, nach Konstantinopel (heute Istanbul). Kähler soll dem Sultan bei der Umstrukturierung des osmanischen Heeres behilflich sein.

Die militärische Unterstützung des Osmanischen Reiches, auf dessen Kerngebiet sich einige Jahrzehnte später der moderne türkische Staat konstituieren wird, ist freilich nicht der Selbstlosigkeit der preußischen Strategen geschuldet: Otto Kähler ist seinerseits eng mit der Rüstungsfirma Krupp (heute ThyssenKrupp AG) verbandelt. Deutsche Rüstungskonzerne wittern in der Aufrüstung des Osmanischen Reiches eine große Chance, und auch im zivilen Bereich hoffen Großindustrielle am Bosporus auf neue Absatzmärkte. »Das wichtigste Operationsfeld des deutschen Imperialismus wurde die Türkei«, sollte die Marxistin Rosa Luxemburg einige Jahre später analysieren, »sein Schrittmacher hier die Deutsche Bank und ihre Riesengeschäfte in Asien, die im Mittelpunkt der deutschen Orientpolitik stehen«.

Als 1902 der Bau der Bagdad-Bahn unter deutscher Federführung beginnt, sichert sich eine Aktiengesellschaft der Deutschen Bank zugleich Schürfrechte im mesopotamischen Ölgebiet um Mossul und Basra .

Wenige Jahre später, wir schreiben das Jahr 1908, putscht sich die Bewegung der Jungtürken an die Macht. Sie tritt an, um das Osmanische Reich in eine moderne türkische Republik zu verwandeln. Die Jungtürken orientieren sich an Europa, bereits seit ihrer Gründung wird die Bewegung auch von nationalliberalen Publizisten und Ökonomen aus Deutschland unterstützt. Die türkisch-nationalistischen Revolutionäre wissen, dass eine neue Ideologie her muss, um den politischen Islam zu verdrängen und eine moderne, säkulare Türkei zu schmieden.

Zur türkischen Nation mit Genozid und deutscher Hilfe

Wie auch in vielen anderen Teilen der Welt löst mit der Industrialisierung der Nationalismus die Religion als herrschende Deutungsmacht ab. In der türkisch-nationalen Staatwerdung ist kein Platz für Minderheiten. Auf einem Drittel des türkischen Staatsgebietes leben zur Zeit der Machtergreifung der Jungtürken mehrheitlich Armenier_innen, Kurd_innen und andere Minderheiten. Sie passen nicht ins Bild einer homogenen Türkei. In den Folgejahren wird die kurdische Sprache verboten, Dörfer werden umbenannt, Namen türkisiert. Das Ziel einer einheitlichen Nation endet für hunderttausende Angehörige der alevitisch-kurdischen und armenischen Minderheit mit dem Tod.

Der beginnende Erste Weltkrieg liefert für die Vernichtungspolitik den perfekten Deckmantel. Für den Bau der Bagdad-Bahn stellt die osmanische Heeresleitung den Deutschen Ingenieuren tausende armenischer Zwangsarbeiter_innen zur Verfügung. Die Arbeiter_innen werden in Lagern entlang der Bagdad-Bahn interniert. Ziel der Jungtürken ist es, dass auf türkischem Staatsterritorium keine nicht-türkische Ethnie mehr als sechs Prozent an der Gesamtbevölkerung bilden soll.

Deutschland ist im Weltkrieg der wichtigste Verbündete des Osmanischen Reiches und übt über eine Militärmission erheblichen Einfluss auf die osmanische Heeresleitung aus. Etwa 800 deutsche Offiziere sind integraler Bestandteil der türkischen Armee, gehören ihrem Kommando und ihrem Generalstab an. Im Laufe des Weltkrieges verwandelt sich der Staat der anfänglich demokratisch gesinnten jungtürkischen Bewegung mehr und mehr in eine Diktatur.

Ab Frühjahr bis zum Winter 1916 werden die am Bau der Bagdad-Bahn beteiligten armenischen Zwangsarbeiter_innen durch Massenverbrennungen - teils in Höhlensystemen - systematisch ermordet. Dem Völkermord fallen bis zu 1,5 Millionen Menschen zum Opfer. Die Vernichtungspolitik gegen die Armenier_innen wird von der deutschen Öffentlichkeit verschwiegen oder gebilligt. Als »hart, aber nützlich« bezeichnet Hans Humann, Marineattaché an der deutschen Botschaft in Konstantinopel, den Genozid. Widerstand gegen die deutsche Unterstützung des Völkermordes gibt es im Deutschen Reich kaum. Nur aus der Arbeiterbewegung wird Kritik laut. So befasst sich der sozialistische Reichstagsabgeordnete Karl Liebknecht in einer Rede mit dem Genozid: »Die türkische Regierung hat ein furchtbares Gemetzel unter den Armeniern angerichtet; alle Welt weiß davon - und in aller Welt macht man Deutschland verantwortlich, weil in Konstantinopel die deutschen Offiziere die Regierung kommandieren.«

Der Erste Weltkrieg endet für das Osmanische Reich - wie für seine deutschen Verbündeten - in einem Desaster. Die Siegermächte England und Frankreich zerteilen das ehemalige Großreich in Einflusssphären. Die Gebiete des heutigen Syriens und des Libanon gehen an Frankreich, der heutige Irak und Jordanien an England. Auch das anatolische Kerngebiet des Osmanischen Reiches wollen die Alliierten zerstückeln - und stoßen damit auf erbitterten Widerstand seitens der Jungtürken. Im Vertrag von Sèvres beschließen die Siegermächte Frankreich und England die Zerteilung des Osmanischen Reiches, inklusive des Kerngebietes Anatoliens.

1919 beginnt der Türkische Befreiungskrieg gegen Armenien, Griechenland und die französische Besatzungsmacht. Er endet 1923, ihm folgt die Gründung der Türkischen Republik. Für die kurdischen und armenischen Autonomiegebiete, die im Vertrag von Sèvres vorgesehen waren, ist in dieser Republik kein Platz. Ein Jahr nach dem Ende des Befreiungskrieges verbietet eine Verordnung alle kurdischen Schulen, Vereinigungen und Veröffentlichungen. Auch die Ausübung der kurdischen Sprache wird unter Strafe gestellt.

Enge Kooperation zwischen Nazi-Deutschland und Türkei

Der Kampf der Jungtürken gegen den von den Alliierten aufgezwungenen Vertrag von Sevres übt auch auf deutsche Nationalist_innen große Faszination aus. Die entstehende NSDAP blickt Ende der 1920er Jahre mit Neid nach Ankara. In Mustafa Kemal, dem Führer der Jungtürken, sehen die Nazis einen völkischen Modernisierer, der das erreicht hat, wovon sie träumen: die Schaffung eines starken homogenen Nationalstaates gegen den Willen der Siegermächte des Weltkrieges. Es ist deshalb keine Überraschung, dass sich mit der Machtübernahme der Nazis die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei verstärken. Betrug der deutsche Anteil türkischer Importe im Jahr der Machtübernahme knapp 26 Prozent, kletterte er bis zum Jahr 1938 auf 43 Prozent.

Als sich der Beginn des Zweiten Weltkrieges abzeichnet, wirbt Deutschland um die Unterstützung der Türkei. Mit einem Schlingerkurs schafft es der Präsident der Türkischen Republik, Ismet Inönü, sein Land weitestgehend aus dem Krieg herauszuhalten. Nach Kriegsende tritt die Türkei der NATO bei, auch ökonomisch erfolgt die weitere Anbindung an den Westen. Schnell wird die Bundesrepublik wieder der wichtigste Handelspartner Ankaras. Ab 1961 kommen türkische Gastarbeiter_innen in großer Zahl nach Deutschland. Auch militärisch - als Teil der NATO - orientiert sich die Türkei am Westen. Als 1990 der Zweite Golfkrieg der USA gegen Saddam Hussein beginnt, stellt sich Ankara auf die Seite der USA.

Einen qualitativen Sprung erleben die Beziehungen zwischen der Türkei und dem westlichen Machtblock mit dem Aufstieg der rechtskonservativen AKP. Die Partei setzt kurz nach der Jahrtausendwende das um, was in Zentraleuropa schon seit Margaret Thatcher auf der Tagesordnung steht: den Neoliberalismus. Unter dem Liberalisierungsdruck aus Europa werden massenhaft Staatsbetriebe privatisiert, an allen Fronten, vom Arbeitsrecht bis hin zu Handelsbeschränkungen, werden staatliche Regularien abgebaut. Die Investitionen für Kredite und den Aufkauf von ehemals staatlichem Eigentum kommen zu großen Teilen aus Europa, genauer gesagt aus Deutschland. Seit der AKP-Ära sind hunderte Milliarden ausländisches Kapital ins Land geflossen. Dem krassen Wirtschaftswachstum der Türkei liegt die Abhängigkeit von Kapitalströmen aus Europa und den USA zugrunde.

Einzig der Krieg in Syrien vernebelt seit einigen Jahren die Schönwetterlage der deutsch-türkischen Beziehungen. In Syrien gerät die sunnitische Machtachse (Türkei/Saudi-Arabien) zunehmend in Widerspruch zu den Interessen der EU und USA. Das zeigt sich etwa an der offenen Unterstützung, welche der Islamische Staat (IS) durch die Türkei und die Golfmonarchien erfahren hat. Doch die Streitereien zwischen dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und den Führungskräften westlicher Staaten können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Interessen der beiden Machtblöcke im Dreieck Balkan-Kaukasus-Naher Osten in den meisten anderen Fragen decken. Das einzige, was sich in den Beziehungen zwischen der Türkei und dem Westen geändert hat, ist die stärkere Verhandlungsposition der AKP gegenüber der EU. Als Verhandlungsmasse setzt die Türkei rund zweieinhalb Millionen syrische Flüchtlinge, die auf ihrem Staatsgebiet überleben, ein.

Angesichts der wechselseitigen Abhängigkeiten ist es kaum verwunderlich, dass sich die deutsche Regierung in ihrer Kritik an den Menschenrechtsverletzungen in türkisch-Kurdistan und an der Unterstützung des Erdogan-Regimes für den IS zurückhält. Auf den Punkt bringt es Murat Çak?r in der aktuellen Ausgabe des Kurdistan Report: Es sei falsch, schreibt Çak?r, die Türkei-Politik der Bundesregierung als verantwortungslos zu charakterisieren. Denn mit dem Gewährenlassen Erdogans setzten die westlichen Eliten nur ihre »Klassenpolitik konsequent durch und verfolgen genau das, wofür sie stehen: die Wahrung der ökonomischen, politischen, strategischen Interessen des Kapitals«.

Die Zusammenarbeit mit dem AKP-Regime ist für Deutschland und den Rest der EU aus inneren Sachzwängen heraus alternativlos. Im Umkehrschluss bedeutet das: Die Kämpfe für die demokratische Autonomie der kurdischen Siedlungsgebiete und für eine Demokratisierung der Türkei können nur gegen die kapitalistischen Hegemoniebestrebungen westlicher Staaten geführt werden.

Anselm Schindler ist freier Journalist und beschäftigt sich mit dem Geschehen in Kurdistan und dem Nahen Osten. In ak 612 beschrieb er den Beitrag des europäischen Imperialismus zum Aufstieg des Islamischen Staates.