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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 615 / 19.4.2016

Vom Privileg, über anderer Leute Realität zu philosophieren

Diskussion Eine Replik auf den Beitrag von Anja Hertz in ak 613

Von Sandra Laczny

Voraussetzung für produktives Streiten ist, dass man sich über dieselbe Sache unterhält. Man sollte also, bevor man losstreitet, sicherstellen, dass man mit einem Wort dasselbe meint. »Privileg« zum Beispiel steht laut Wörterbuch für ein Recht oder einen Vorteil, der einigen Menschen gegeben wird und anderen nicht, insbesondere aufgrund von Gruppenzugehörigkeit. Anja Hertz mochte daran nicht wirklich ein Problem erkennen und formulierte unter dem Titel »Recht hat, wer am unterdrücktesten ist« in ak 613 eine vernichtende Kritik einer »Privilegientheorie«, die außerhalb der vorwiegend antifeministischen Kritik kaum jemand so kennt.

Keine Privilegien für niemand!

In seinem Comic »On a Plate« hat Toby Morris sehr schön zusammengefasst, wie Privilegien funktionieren. In dem Comic beschreibt er das Leben von Richard, dessen Eltern es gut geht, und Paula, deren Eltern nicht so gut dastehen. In Richards Zuhause ist es warm, der Kühlschrank immer voll, es gibt Regale voller Bücher. Bei Paula wohnen viele Leute, es ist kalt, sie wird oft krank. Richards Eltern haben Zeit, sich um ihren Sohn zu kümmern. Paula sitzt vor dem Fernseher, während die Eltern arbeiten. Richard geht in eine gute Schule mit entspannten Lehrer_innen. In Paulas Schule sind die Lehrer_innen überlastet. Richards Eltern finanzieren ihm Nachhilfe, später die Uni. Paula geht zur Berufsschule und muss nebenher arbeiten. Richard bekommt durch Beziehungen ein Praktikum. Paula pflegt ihren kranken Vater. Am Ende sehen wir Richard und Paula im selben Setting. Er ist Partygast, sie Kellnerin. Sie hält ihm ein Tablett Austern hin, während er darüber schwadroniert, dass Leute es viel zu einfach hätten und ihm nie irgendwas auf dem Silbertablett serviert worden wäre.

Meritokratie ist ein Mythos, wie Morris' Comic anschaulich illustriert. Wenn Anja Hertz die Bezeichnung unverdienter Privilegien als »unverdient« in einen moralischen Vorwurf verdreht, übersieht sie dabei, dass die Bezeichnung Bezug nimmt auf dieses herrschende Narrativ vom sozialen Status, der allein durch Leistung verdient würde. Es ist richtig, dass der Begriff »Privileg« die Vorteile beleuchtet, die es hat, einer dominanten gesellschaftlichen Gruppe anzugehören. Das erweitert aber den Fokus und verengt ihn nicht, wie die Autorin annimmt. Sich selbst als Teil diskriminierender Strukturen zu erkennen und damit umzugehen, ist ein Teil der Arbeit gegen Diskriminierung und nicht Ersatz für alle anderen.

Wenn die Autorin kritisiert, das »Konzept« würde »inzwischen« neben Rassismus auch auf eine Reihe weiterer Formen sozialer Ungleichheit angewandt, ist dies insoweit irreführend, als das unter anderem schon in Peggy McIntoshs Essay »Unpacking the Invisible Knapsack« der Fall war, auf den auch Anja Hertz Bezug nimmt. McIntosh hat sich das Konzept des »weißen Privilegs« über Erkenntnisse aus der Frauen- und Geschlechterforschung erschlossen - darüber, dass Sexismus das Kollektiv »Männer« privilegiert. Soweit Hertz also andeutet, es habe sich eine Theorieströmung entwickelt, die ein aus dem Wissen über Rassismus hergeleitetes Konzept durch Übertragung auf andere Formen von Diskriminierung überstrapaziere, ist dies schlicht falsch.

Auch der Hinweis, dass doch zu fragen wäre, »ob es wirklich ein Privileg und nicht vielmehr der anzustrebende Normalzustand« sei, von verdachtsunabhängigen Polizeikontrollen verschont zu bleiben, hätte sich durch genauere Lektüre des Essays erübrigt: McIntosh erklärt dort, dass es unterschiedliche Arten von Privilegien gibt, die nicht alle zwingend schädlich sind, und dass einige - wie etwa die Erwartung, von Nachbar_innen anständig behandelt zu werden oder dass vor Gericht die Hautfarbe nicht gegen eine_n verwendet wird - in einer gerechteren Gesellschaft selbstverständlich sein sollten. McIntosh fand den Begriff »Privileg« selbst unglücklich. Für sie sind damit Bedingungen gemeint, die systematisch darauf hin arbeiten, bestimmte Gruppen übermäßig zu ermächtigen.

Ein Privileg kann gleichermaßen im besseren Zugang zu Ressourcen bestehen wie darin, von etwas verschont zu bleiben. Technisch gesehen ist ein »Normalzustand« Privileg, wenn er einer dominanten gesellschaftlichen Gruppe vorbehalten ist. Kritik an Privilegien bezieht sich darauf, dass etwas Privileg ist und nicht zwingend auf den Inhalt dieses Privilegs.

Das Mitdenken der eigenen Position als individualisierend zu kritisieren, macht ebenfalls keinen Sinn. Tatsächlich werden damit nicht gesellschaftliche Probleme zu privaten gemacht, sondern im Gegenteil: Das Individuum wird zurück in den Bezug zur Gesellschaft gesetzt. Rassismus besteht nicht nur in ein paar Nazis und Rassist_innen, mit denen man nichts zu tun hat. Rassismus informiert das Wissen in rassistischen Gesellschaften. Wir alle integrieren diskriminierende Strukturen in unser Denken, Fühlen und Handeln.

Betroffenheit versus Expertise?!

Was kann die von Hertz so bezeichnete »Privilegientheorie« etwa in Bezug auf die Silvesternacht von Köln erklären? Zum Beispiel, dass staatsfixierte Lösungsversuche gegen sexualisierte Gewalt zu kurz greifen. Dass nicht allen Opfern der Rechtsstaat zur Verfügung steht. Dass man in einem Land, in dem People of Color, Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, Menschen, die transgender sind, Sexarbeiter_innen und andere unter staatlicher Aufsicht Gewalt erfahren oder ihnen die Abschiebung droht, nicht einfach so auf den Rechtsstaat und seine Strafverfolgung verweisen kann. Dass man nicht davon ausgehen kann, dass alle Opfer sich selbst oder die (überwiegend männlichen) Täter_innen diesem System aussetzen wollen.

Da sie es bei der bloßen Behauptung belässt, erschließt sich nicht, wieso Anja Hertz glaubt, dass der Ansatz, Betroffene für sich selbst sprechen zu lassen und in Kämpfen, die nicht die eigenen sind, nicht den Ton angeben zu wollen, »eine einheitliche Position der Marginalisierten unterstellt«. Es steht zu vermuten, dass sie dabei die Bezugnahme auf die Expertise von Betroffenen als reine Alibi-Aktion interpretiert. Anders als die Autorin unterstellt, gehört es aber nicht zu den verbreiteten Praxen moderner Rassismuskritik, Betroffene vorzuschieben (»tokenism«), da »Recht hat, wer am unterdrücktesten ist«. Der oft erfundene marginalisierte Freund tritt vielmehr vor allem dort in Erscheinung, wo es gilt, eine privilegierte Ansicht zu bestätigen und Marginalisierungserfahrung herunterzuspielen. Von einem einzelnen Betroffenen auf die gesamte Gruppe zu schließen, wäre rassistisch. In der rassismuskritischen Praxis auf Betroffene und deren gelebte Erfahrungen zu verweisen, ist es nicht.

Wenn die Autorin glaubt, eine »Verabsolutierung der Marginalisierungserfahrung« zu erkennen, durch die eine Aussage nicht aufgrund ihres Inhalts wahr sei, sondern aufgrund der gesellschaftlichen Position der Sprecher_in, geht sie zudem von der verbreiteten falschen Dichotomie von Betroffenheit versus Expertise aus. Diese spricht von Rassismus betroffenen Expert_innen die Objektivität und damit die Qualifikation ab, während weiße Expert_innen scheinbar außerhalb rassistischer Strukturen in einem Wölkchen aus Objektivität schweben. So etwas nennt man Doppelstandard und dieser spezielle zeigt, dass Weißsein privilegiert.

Schließlich delegitimiert die Autorin die Kritik an kultureller Aneignung, indem sie so tut, als handle es sich dabei um Kritik an schlichtem kulturellem Austausch. Es ist aber nicht einfach Austausch, wenn jemand die Anspruchshaltung vertritt, sich an jeder Kultur bedienen zu dürfen, ohne dafür kritisiert zu werden. Es ist kein Austausch, sich nach einer langen Geschichte von Kolonialismus und Sklaverei Widerstandsstandsymbole anzueignen, diese auf T-Shirts zu drucken und zu trivialisieren. Gegen Beyoncés »Formation« gab es Proteste, während Modemagazine Black-Panther-Outfits für weiße Frauen entpolitisiert und zum Fashion Statement degradiert haben. Schwarzes Empowerment ist nicht für Weiße. Martin Luther King Jr. hat nicht für weiße Liberale gekämpft. Macklemore ist nicht der King of Hip Hop.

Erschossenwerden als Ressource

Wenn die Autorin moderner Rassismuskritik unterstellt, gesellschaftliche Machtverhältnisse umdrehen zu wollen, und Marginalisierung zu symbolischem Kapital erklärt, zeigt sich, dass ihr Zugang zu Rassismus völlig lebensfremd ist. Deray McKesson hat den Begriff der »weaponized blackness« (»zur Waffe gemachtes Schwarzsein«) geprägt für den Umstand, dass es in den USA ausreicht, schwarz zu sein, um als gefährlich zu gelten und auf der Straße erschossen zu werden. Wenn man hier Hertz' Denkpirouette von Marginalisierung als Ressource anwendet, wäre der Nutzen, den man daraus zieht, schwarz zu sein, dass man für Erschossenwerden in die Nachrichten kommt.

Spätestens wenn die Autorin »privilegientheoretisch operierenden Milieus« unterstellt, sie würden »gern mit einem der Psychopathologie entlehnten Vokabular von posttraumatischen Belastungsstörungen und Triggern operieren«, wird klar, dass man bei diesem Text vor einem Salat aus Äpfeln, Birnen und »out-group homogeneity bias« (also der Neigung, anderen gesellschaftlichen Gruppen als der eigenen eine hohe interne Homogenität zuzuschreiben) sitzt. Es ist kein Argument gegen Ansätze aus der postkolonialen Theorie, dass einige ihrer Anhänger_innen auch Inhaltswarnungen benutzen. Man würde ja auch nicht Wurst verwerfen, weil einige ihrer Fans auch Käse mögen. Speziell zu Triggerwarnungen besteht schon in Kreisen, die solche Inhaltswarnungen sinnvoll finden, große Uneinigkeit. Den »privilegientheoretisch operierenden Milieus« hier einerseits eine große Überschneidung und innerhalb dieser dann auch noch Einigkeit zu unterstellen, scheint äußert abwegig.

Menschen Spaltung vorzuwerfen, für deren Interessen man sich gar nicht einsetzen will, ist ein ziemlich alter Hut. Und stures Wiederholen längst widerlegter Argumente scheint dafür auch kein guter Lösungsansatz. Es sei denn, man will die davonschwimmende Deutungshoheit dadurch zurückgewinnen, dass man die nachwachsende Linke zu Tode langweilt.

Sandra Laczny ist Blogger_in und Netzaktivist_in und schreibt auf sanczny.blogsport.eu unter anderem über Queer-Feminismus.