Türgida
Deutschland und die Türkei - Komplizen bei Mord und Totschlag
Von Hannah Schultes
Die deutschen Medien haben durch ihr geringes Interesse für den Krieg in den kurdischen Gebieten der Türkei eines erneut gezeigt: Der Liberalismus unterwirft seinen Menschenrechtshumanismus bereitwillig der Rationalität politischer und ökonomischer Gewalt, wo immer es nötig erscheint. Die deutsche Pressefreiheit verteidigen Journalist_innen gegenüber einer autoritär bis faschistischen Regierung eines peripheren Staates hingegen mit großer Leidenschaft (»unser Böhmi!«).
Empathielosigkeit deutscher Medien gegenüber der kurdischen Zivilbevölkerung wurde insbesondere im Vergleich mit der Syrien-Berichterstattung deutlich. Im Januar waren mindestens 400.000 Menschen in syrischen Städten von Regierungstruppen und ihren Verbündeten belagert, zum Teil bereits seit Jahren. Die Zustände in den belagerten Städten, das Elend in Madaja und die steigende Zahl von Hungertoten in der »Geisterstadt« (Die Welt) bestimmten die Nachrichten. Nun waren laut Menschenrechtsorganisationen ab August 2015 eineinhalb Millionen Kurd_innen von Ausgangssperren betroffen, die der türkische Staat in Nordkurdistan über Bezirke verhängt, die mit der linken HDP sympathisieren. Berichte über Hinrichtungen und gezielte Angriffe auf Zivilist_innen in diesen Vierteln waren zwar öffentlich zugänglich, die Journalist_innen, die sonst Menschenrechtsverletzungen weltweit anprangern, interessierte das wenig. In ihren seltenen Berichten stellten sie die Operationen in den Geisterstädten der Türkei als »Kampf gegen die PKK« dar.
In den letzten Wochen empörten sich Medien in Deutschland über die Einmischung Erdogans in die Pressefreiheit. Das türkische Außenministerium hatte am 22. März aufgrund eines Satire-Videos in der Sendung extra3 den deutschen Botschafter einbestellt. Mit einer türkischen Übersetzung des Grundgesetzes bewaffnet, erläuterte dieser, dass die deutsche Regierung wegen der Pressefreiheit leider keinen Einfluss auf die Verbreitung des Videos nehmen könne. Erdogans Versuche der Einflussnahme boten in der darauf folgenden Debatte einen guten Anlass für deutsche Medien, sich ihrer Unabhängigkeit gegenüber der türkischen Regierung zu versichern. Nach Erdogans Forderung einer Bestrafung Jan Böhmermanns für seine »Schmähkritik« wird diese Debatte noch leidenschaftlicher geführt. Worüber nicht gesprochen wird, ist, dass sich die betreffenden Journalist_innen durch ihr Schweigen über den Krieg in Kurdistan an einer Demontage der Pressefreiheit beteiligten, als Erdogans Interesse an dieser noch gar nicht geweckt war.
Indem sie den Krieg in Kurdistan als Randnotiz behandeln, blenden Journalist_innen nicht nur die Gewalt des türkischen Staates aus, der die Zahl seiner Spezialeinheiten von Polizei und Gendarmerie im Kriegsgebiet einem Militärexperten zufolge demnächst verdoppeln will. Die Ankündigung Erdogans, den »Feind im Inneren« zu bekämpfen, ist durch den EU-Türkei-Deal untrennbar mit der Verabredung zur Bekämpfung des »Feindes« an Europas Außengrenzen verbunden. Der Beobachtung, dass Europa bei diesem Krieg zuschaue, lässt sich nur die Frage entgegensetzen, welche moralischen Impulse von einem Staatsprojekt zu erwarten sind, dessen Politiker_innen für Zehntausende Tote an den Außengrenzen verantwortlich sind. Die EU verteidigt ihr Territorium seit langem mit Morden, auch wenn sie diese im Unterschied zum AKP-Regime nicht ankündigt. Der Opportunismus der Medien ist auch für Linke überraschend gewesen. Dabei gehört die Ausblendung der Gewaltverhältnisse zum politischen Programm des Liberalismus.