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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 616 / 24.5.2016

Die Wohnungskrise in Zeiten der Migration

Konkurrenz Die Probleme der Flüchtlingsunterbringung machen den desaströsen Zustand des deutschen Wohnungsmarkts deutlich

Von Philipp Mattern

Es fehlen bezahlbare Wohnungen für breite Schichten der Bevölkerung in den deutschen Ballungszentren. Der erhöhte Zuzug von Flüchtlingen verschärft die Konkurrenz, er ist aber keineswegs die Ursache für die strukturellen Probleme der Wohnraumversorgung. Die heute zu beobachtende Krise der Flüchtlingsunterbringung macht einmal mehr die wohnungspolitischen Fehler der Vergangenheit deutlich.

Man kann diese Entwicklung am Beispiel Berlins illustrieren. Seit Mitte der 2000er Jahre erfährt die Stadt einen enormen Bevölkerungszuwachs, während der Wohnungsbau so gut wie zum Erliegen kam. Heute leben über 270.000 Menschen mehr in Berlin als noch vor zehn Jahren; die Flüchtlinge, die vergangenen Jahres in die Stadt kamen, sind hier noch nicht mitgezählt. Bei einer durchschnittlichen Haushaltsgröße von 1,8 Personen ergibt das einen Bedarf an etwa 150.000 zusätzlichen Wohnungen. In derselben Zeit wurden jedoch nicht einmal 40.000 Wohneinheiten fertiggestellt. Gut die Hälfte davon befindet sich in Ein- und Zweifamilienhäusern. Zieht man diese sowie die zahlreichen Eigentumswohnungen im Mehrgeschossbau ab, so bleibt eine fast schon verschwindend geringe Anzahl neuer Mietwohnungen übrig. Und über die Höhe der Miete ist dabei noch nichts gesagt. Zieht man noch in Betracht, dass auch Wohnhäuser nicht ewig leben, dass sie abgerissen oder dass Mietwohnungen in Eigentum oder Gewerberaum umgewandelt werden, so wird klar, dass diese Bautätigkeit nicht viel mehr als eine bestandserhaltende Funktion erfüllt.

Vor diesem Hintergrund erschließt sich, warum sich auf dem Mietwohnungsmarkt ein eklatantes Missverhältnis von Angebot und Nachfrage eingestellt hat. Dieses Missverhältnis wird nicht nur bei der Wohnungssuche spürbar, sondern es übt auch einen enormen Druck auf die Bestandsmieten aus. Wenn auch nicht in dieser Dramatik, so gilt diese Entwicklung in der Tendenz und erst recht von ihrem Resultat her für so gut wie alle deutschen Ballungszentren: Es fehlen schlichtweg bezahlbare Wohnungen für breite Schichten der Bevölkerung - und zwar in einer Zahl, die sich bundesweit im hohen sechsstelligen Bereich bewegt. Dabei handelt es sich nicht um irgendwelche Wohnungen, sondern vorrangig um kleine bis mittelgroße Mietwohnungen im unteren Drittel des Preissegments. Dort besteht die größte Nachfrage und ein strukturell zu geringes Angebot. Um diese Wohnungen schlagen sich die Wohnungssuchenden gegenseitig die Köpfe ein.

Es gehört zu den Bewegungsgesetzen der Marktwirtschaft, dass sich dieses Missverhältnis ohne staatliche Interventionen nicht beheben lässt. Der dringend nötige Neubau günstiger Wohnungen wird privatwirtschaftlich nicht erfolgen, weil er sich schlicht nicht rechnet. Im Bestand wird niemand billig vermieten, wenn er teuer vermieten kann. Und auf der Nachfrageseite gibt es immer einen Überhang, weil auch zahlungskräftigere Haushalte möglichst günstige Wohnungen nachfragen.

Der Staat zieht sich zurück

Der heute zu beobachtende Zustand ist das Ergebnis einer seit Jahren verfehlten Wohnungspolitik, die darauf abzielte, die Wohnraumversorgung zunehmend einem Markt zu überlassen, der sie seinen eigenen Gesetzen folgend gar nicht gewährleisten kann. Die Neubauförderung im sozialen Wohnungsbau wurde sukzessive abgeschafft. An die Stelle dieser Objektförderung trat die Aufwertung der sogenannten Subjektförderung, etwa in Form von Wohngeld oder der Kosten der Unterkunft im Rahmen von Hartz IV. Statt Wohnraum zu schaffen, wurden so mit öffentlichen Mitteln steigende Mieten subventioniert, was wiederum eine regelmäßige Erhöhung der Subjektförderung nötig machte.

Zu guter Letzt wurden landeseigene und kommunale Bestände vielerorts in großem Umfang verscherbelt, um leere Haushaltskassen kurzfristig zu füllen. Der politisch gewollte Rückzug des Staates aus der Wohnraumversorgung hat dazu geführt, dass heute kaum noch Instrumente existieren, um auf Entwicklungen, wie sie sich in den letzen Jahren in den Ballungszentren abspielten, angemessen reagieren zu können. Das Ergebnis ist eine Mangelversorgung mit Wohnraum, die sich inzwischen nicht mehr nur auf das günstige Segment beschränkt, sondern weite Teile des Wohnungsmarktes erfasst hat. Während man in der wohnungswirtschaftlichen Fachwelt Leerstandsquoten von etwa drei Prozent als notwendige Fluktuationsreserve für Wohnungswechsel und Instandhaltungen voraussetzt, herrschen in einigen Berliner Bezirken inzwischen Leerstände von weniger als einem Prozent. Diese Wohnungsmärkte funktionieren nicht mehr, sie versagen schlichtweg, weil sie sich selbst überlassen wurden.

Wohnungskrise statt »Flüchtlingskrise«

Es ist diese drückende Enge auf dem Wohnungsmarkt, die Studierende dazu treibt, sich zu zweit ein WG-Zimmer zu teilen oder sich von einer Zwischenmiete zur nächsten zu hangeln, die erwachsene Kinder zwingt, bei ihren Eltern wohnen zu bleiben, die es jungen Familien verwehrt, sich bei der Geburt eines Kindes eine größere Wohnung zuzulegen und die umgekehrt Senioren an oft viel zu große Wohnungen fesselt, die alles andere als altersgerecht sind. Von jenen, die gerne umziehen würden, weil sie den sprichwörtlichen Tapetenwechsel nötig hätten, einmal ganz zu schweigen.

Was hat all dies mit Flüchtlingen zu tun? Erst einmal überhaupt nichts. Und genau das muss immer wieder betont werden. Die reale Situation auf dem Wohnungsmarkt muss Ausgangspunkt einer jeden Debatte über die Krise der Flüchtlingsunterbringung sein. Denn erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum das Flüchtlingsproblem überhaupt zu einem Problem wird und warum der Staat diesem Problem völlig nackt gegenübersteht.

Im letzten Jahr kamen unerwartet etwa 50.000 Flüchtlinge nach Berlin. In jüngster Vergangenheit wächst die Bevölkerung in Berlin um fast genauso viele Menschen pro Jahr an. Das Problem fängt nicht da an, wo man plötzlich Flüchtlinge in größerer Zahl unterbringen muss, sonders es endet gewissermaßen dort. Der Staat ist gezwungen, diese Menschen irgendwie unterzubringen, da sie qua ihres Status unter seiner Obhut stehen. Er reagiert darauf mit den Mitteln, die ihm bleiben - und das sind nicht viele. Zum einen greift er zum massiven Ausbau der Notunterbringung während des Asylverfahrens. Diese umfasst nicht nur öffentliche Liegenschaften wie Turnhallen oder dergleichen, sondern im größeren Maße Behelfsunterkünfte in Zelten oder Containern, die von privaten Akteur_innen betrieben und mit satten Tagespauschalen vergütet werden. Zum anderen wird krampfhaft versucht, private Wohnflächen zu mobilisieren, die man irgendwo in der Stadt vermutet. In Berlin etwa wurden Tagespauschalen von bis zu 50 Euro pro Person für die sogenannte Hostelunterbringung eingeführt. Es war freilich nicht nur das Hotelgewerbe, das sich darüber freute, sondern auch so mancher Immobilieneigentümer stieg von der normalen Vermietung auf Flüchtlingsunterbringung im Wohnbestand um. Hier lohnt es sich, einmal auszurechnen, was die eigene Wohnung bei einer Belegung mit vier Personen pro Zimmer im Monat an Geld bringen kann.

Angesichts eines mangelnden Wohnungsangebotes Teile der Nachfrageseite mit solch einer selektiven Form der Subjektförderung zu stärken, ist nicht nur wirkungslos, sondern angesichts des alltäglichen Konkurrenzkampfes auch brandgefährlich. Es gehört zu den großen Rätseln des Rechtspopulismus, warum seine Vertreter_innen solche Zusammenhänge noch nicht tiefergehend ergründet und in ihrem Sinne auszuschlachten versucht haben.

Zu den Eigenarten der Linken hingegen gehört es, die drängendste wohnungspolitische Herausforderung - nämlich den Neubau bezahlbarer Wohnungen - über Jahre hinweg mit beharrlichem Desinteresse quittiert, ja häufig sogar geleugnet zu haben. Entsprechend schwer fällt es heute, realitätstaugliche Perspektiven für eine fortschrittliche Wohnungspolitik zu entwerfen - und dabei wären sie so nötig.

Mit der Bereitstellung von Solizimmern ist es nicht getan, und der permanente Ruf nach dem Mietshäusersyndikat wirkt verlegen. Auch die oft geforderte Nutzbarmachung von Leerstand kann, so sympathisch sie auch klingen mag, nicht mehr sein als ein Tropfen auf den heißen Stein angesichts von Fehlbeständen in der Größenordnung mittlerer Großstädte.

Ein Subwohnungsmarkt für die Armen

In den nächsten Monaten wird sich das Problem des Wohnungsmangels und damit der Konkurrenzkampf um Wohnraum verschärfen, wenn nach Abschluss der Asylverfahren Geflüchtete in großer Zahl als Anerkannte oder Geduldete aus der Erstaufnahme auf die regulären Wohnungsmärkte entlassen werden. Schon heute gibt es eine beachtliche Zahl, die in Sammelunterkünften ausharrt, obwohl sie eigentlich ein Anrecht auf eine Wohnung hätte.

Um das abermalige Anwachsen der nicht zahlungskräftigen Nachfrage abzudämpfen, greift die Politik zu einer Angebotserhöhung der besonderen Art. In Berlin etwa plant der Senat an bis zu 60 Standorten die Errichtung »modularer Unterkünfte für Flüchtlinge« (MUFs), in denen jeweils rund 500 Menschen leben sollen. Es handelt sich dabei um Funktionsbauten, die von Grundriss und Bauweise her keineswegs mit einem normalen Wohnhaus vergleichbar sind: dunkle und innenliegende Flure, von denen keine abgetrennten Wohneinheiten, sondern winzige Mehrpersonenzimmer abgehen. Gemeinschaftsküche und Sanitäreinrichtungen liegen getrennt vom Zimmer auf dem Gang. Die Fassaden sind lieblos, Balkone gibt es nicht. Die Standorte sind wahllos und nach rein funktionalen Kriterien gewählt. Sie folgen keinem städtebaulichen Konzept. Eine stadtplanerische Integration in bestehende Nachbarschaften findet nicht statt. An ihre Stelle tritt die Segregation und Isolation einer Bevölkerungsgruppe, die vom normalen Wohnungsmarkt ausgeschlossen ist.

Bei den MUFs handelt es sich um einen Wohnungsbau zweiter Klasse. Diese Unterkünfte mögen nicht nur menschenunwürdig sein, sie werden auch langfristig fatale Folgen für den Wohnungsmarkt haben. Denn die Lebensdauer dieser Gebäude soll mindestens 60 Jahre betragen und die Nachnutzung ist heute schon eingeplant. Unverhohlen wird damit geworben, dass Studierende oder Wohnungslose dort einziehen können, wenn die Räume nicht mehr für Flüchtlinge gebraucht werden.

So bitter es klingt, aber hier geht es um nicht weniger als um die Weichenstellung für einen zukünftigen sozialen Wohnungsbau unter neoliberalen Vorzeichen, der statt auf Massenversorgung auf die Abfertigung zahlungsschwacher Bevölkerungsgruppen zielt. Das ist die historische Dimension des Problems. Wenn in Deutschland über den Wohnungsbau diskutiert wurde, so ging es bisher immer um »normale« Wohnungen. Diese Prämisse steht nun zur Disposition. Unter dem Handlungsdruck, die Unterbringungskrise der Flüchtlinge zu beheben, droht die Etablierung eines neuen Substandards in Schlichtbauweise, die zumindest hierzulande lange als überwunden galt. Gemeint ist damit die bewusste Unterschreitung gängiger Flächen- und Ausstattungsstandards sowie architektonischer und städtebaulicher Ansprüche, um Unterkünfte für diejenigen bereitzustellen, die sich am normalen Wohnungsmarkt nicht mehr versorgen können. Wenn sich dieses Modell erst einmal für Flüchtlinge etabliert hat, ist es nur eine Frage der Zeit, bis es auch auf andere Bevölkerungsgruppen ausgedehnt wird. Die Ausweitung eines Subwohnungsmarktes auf Erwerbslose, Geringverdienende oder sonst wie zahlungsschwache Haushalte wäre die Folge, wie dies bereits in verschiedenen europäischen Nachbarländern zu beobachten ist. Die Standardabsenkung bei der Flüchtlingsunterbringung wird auf lange Sicht zu einer Verschlechterung der Wohnverhältnisse breiter Schichten führen.

Bei den Problemen der Flüchtlingsunterbringung handelt es sich um kein Flüchtlingsproblem, sondern um ein Wohnungsproblem, welches die Mehrheit der Bevölkerung betrifft. Wer heute zulässt, dass Unterkünfte zweiter Klasse gebaut werden, darf sich nicht wundern, wenn er morgen selbst drin wohnt. Der heutige Wohnungsmangel ist das Produkt einer falschen Wohnungspolitik, und er lässt sich nur beheben durch eine richtige: durch ein öffentlich finanziertes Neubauprogramm, das ausreichend gute und bezahlbare Wohnungen für alle schafft.

Philipp Mattern ist Redakteur beim MieterEcho, der Zeitung der Berliner MieterGemeinschaft e.V. (www.bmgev.de).