Spaltung mit System
Wirtschaft & Soziales Die Hartz-IV-Reform schafft neue Unterschiede zwischen Leistungsempfänger_innen
Von Lutz Achenbach
Unter dem schönen Namen »Rechtsvereinfachungsgesetz« befindet sich im Gesetzgebungsverfahren ein Vorschlag des Sozialministeriums zur Änderung von Hartz IV. Nach Worten des Ministeriums soll dadurch unnötige Bürokratie vermieden und das Gesetz bürgerfreundlicher werden. Leider ist die Erfüllung dieser hehren Ziele nicht zu erwarten.
Öffentliche Aufmerksamkeit erhielt besonders der Aspekt der Neuregelungen für Kinder, die bei getrennt lebenden Eltern aufwachsen. Alleinerziehende sind besonders armutsgefährdet in Deutschland. Diese leiden bereits unter der vollständigen Anrechnung von Kinder- und Elterngeld. An ihnen geht auch wirtschaftlicher Aufschwung vorbei, da die Betreuungsmöglichkeiten für Kinder nicht ausreichen. So sind konstant über ein Drittel aller Alleinerziehenden Hartz-IV-Empfänger_innen. Für diese Gruppe sind nun weitere gravierende Kürzungen geplant.
Die Kürzungen sind auch noch mit einer erheblichen Bürokratisierung verknüpft, da Eltern nun nachweisen müssen, wann sich das Kind wo aufgehalten hat, denn nur für diese Tage sollen Leistungen gewährt werden. Darüber hinaus soll, wenn das Kind weniger als die Hälfte der Zeit bei einem Elternteil verbringt, diesem der sogenannten Mehrbedarf für Alleinerziehende vollständig gekürzt werden. Die geplanten Änderungen stellen somit einen originären Beitrag zur Verschärfung von Kinderarmut dar. Dass die Änderungsentwürfe ausgerechnet aus dem von der Alleinerziehenden Andrea Nahles geleiteten Ministerium kommen, zeigt den lebensweltlichen Abstand, der zwischen der Sozialdemokratie und ihrer ursprünglichen Wählerschaft besteht - und der einer der vielen Gründe für den Absturz der Partei ist. Neben dieser »absurden« Änderung (Die Welt) sind aber noch weitere Verschärfungen geplant.
Nicht nur Alleinerziehende sind betroffen
Neben den Änderungen für Alleinerziehende ist die Verschärfung des Paragraphen zum sogenannten sozialwidrigen Verhalten besonders drastisch. Dies ist bislang wenig öffentlich beachtet. Bisher ist die Regelung so, dass diejenigen, die ihr Geld »verschleudern«, um danach von staatlichen Leistungen zu leben, diese staatlichen Leistungen nur als Darlehen erhalten. Sie müssen diese Leistungen ersetzen, da sie den Bedarf selbst vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht haben. Für die Jobcenter war dies aber schwierig nachzuweisen, so dass dieser Paragraph bislang wenig angewandt wurde. Dies könnte sich durch seine Neufassung aber ändern. Denn nunmehr bezieht sich das »sozialwidrige Verhalten« nicht mehr nur auf die Frage, ob überhaupt ein Bedarf an Sozialleistungen verursacht wurde, sondern auch auf die Frage, ob durch das Verhalten der Hartz-IV-Bezug aufrechterhalten oder der Bedarf erhöht beziehungsweise nicht gemindert wurde.
Wer also eine vom Jobcenter vorgeschlagene Stelle nicht annimmt, riskiert neben der Sanktion auch noch einen Erstattungsanspruch wegen »sozialwidrigen Verhaltens«, da er seinen Bedarf aufrechterhalten beziehungsweise nicht gemindert hat. Das Jobcenter würde dann Leistungen in Höhe des entgangenen Lohns nur noch als Darlehen gewähren und zugleich als »Tilgung« 30 Prozent vom Regelsatz einbehalten. Im Gegensatz zur Sanktion wäre dies auch zeitlich unbeschränkt. Der durch das Sanktionssystem institutionalisierte Arbeitszwang wird erheblich verschärft. Hartz IV würde nun tatsächlich die Maschinerie zur Fabrikation des verschuldeten Menschen, da es Sozialleistungen nunmehr nur noch auf Pump gäbe.
Das konservative Modell: stigmatisieren und spalten
Nach dem klassischem Text über die »drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus« des Soziologen Gøsta Esping-Andersen handelt es sich beim deutschen Sozialstaatsregime um den Prototyp des sogenannten konservativen Regimes (im Gegensatz zum liberalen und sozialdemokratischen). (1) Während das liberale Modell nur geringfügige Leistungen mit hohen Zugangsschranken gewährt und damit den Arbeitszwang für die Vermögenslosen aufrechterhält, werden im sozialdemokratischen Modell hohe Leistungen universal, was mit hohen Steuern einhergeht. Hier wird die Ware Arbeitskraft weitgehend de-kommodifiziert, das heißt der Verwertungs- beziehungsweise Arbeitszwang ist erheblich gemindert. Das konservative Modell zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass es zwar auch de-kommodifiziert, aber Statusunterschiede aufrechterhält - sie »konserviert«: Dem Modell liegt die Bismarcksche Sozialversicherung zugrunde, bei der im Gegensatz zu steuerfinanzierten Modellen Leistungen nur abhängig von der Höhe gezahlter Beiträge gewährt werden.
Das konservative Regime ist patriarchal geordnet und verlangt Unterordnung unter Staat und Familie. So waren Frauen ursprünglich kaum als Leistungsbezieherinnen vorgesehen, sondern Ehemann oder Vater untergeordnet, die für ihren Unterhalt zu sorgen hatten. Daher ließe sich die Kürzung bei den Alleinerziehenden als Ergebnis einer pfadabhängigen Entwicklung eines familialistischen Wohlfahrtregimes verstehen. Darüber hinaus spielt im konservativen Modell auch die Stigmatisierung von Leistungsempfänger_innen eine Rolle für die Aufrechterhaltung von Statusunterschieden. Durch die Änderung des Paragraphen zum sozialwidrigen Verhalten wird die Stigmatisierung weiter institutionalisiert.
Statusunterschiede zwischen den Arbeitslosen zeigen sich insbesondere beim Zugang zu Leistungen: ALG I steht den als würdig erachteten Arbeitslosen, die in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben, zu, ALG II erhalten die unwürdigen. Dies sind aber nicht die einzigen Statusunterschiede. Bei Bedürftigen mit nicht-deutscher Staatsbürgerschaft bekundet der deutsche Staat ein besonderes Interesse daran, Unterschiede durchzusetzen (siehe ak 613). Am bekanntesten ist der Versuch, Geflüchteten ein geringeres Existenzminimum als deutschen Staatsbürger_innen zuzugestehen. Das Bundesverfassungsgericht erklärte zwar am 18. Juli 2012 die Einschränkung des Existenzminimums aus migrationspolitischen Erwägungen im Asylbewerberleistungsgesetz für unvereinbar mit der Menschenwürde. Dies hielt die Bundesregierung jedoch nicht davon ab, in den Änderungen zum Asylbewerberleistungsgesetz im letzten Jahr wieder gravierende Unterschiede einzuführen.
Ein weiterer Versuch der Produktion von Unterschieden anhand von Staatsbürgerschaft ist die Frage des Zugangs von Bürger_innen aus anderen EU-Staaten zu Sozialleistungen in Deutschland. Das Bundessozialgericht hat im Dezember 2015 (im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts) festgehalten, dass auch EU-Bürger_innen, die sich legal in Deutschland aufhalten, nicht vollständig von Leistungen ausgeschlossen werden dürfen. Auch hier will die sozialdemokratische Ministerin mit einem weiteren Gesetz die Vorgaben des Bundessozialgerichts unterlaufen und die Statusunterschiede aufrechterhalten. So sollen nunmehr EU-Bürger_innen, die in Deutschland noch nie oder schon länger nicht mehr gearbeitet haben, nur Überbrückungsleistungen von maximal vier Wochen bis zur Ausreise erhalten.
Neues Gesetz soll EU-Migrant_innen entrechten
Dieses Aushungern ist selbst verfassungsrechtlich zweifelhaft. Konsequenterweise müsste der Zugang von EU-Bürger_innen über das Aufenthaltsrecht gelöst werden. Das heißt: Solange sie sich rechtmäßig in Deutschland aufhalten, sind ihnen auch Leistungen zu gewähren. Ansonsten wäre ihnen der Aufenthalt zu entziehen und sie müssten im Zweifel auch abgeschoben werden - was aber politisch dann doch nicht durchsetzbar ist. Das Ergebnis von Nahles Vorschlag ist, dass es nunmehr EU-Bürger_innen in Deutschland geben soll, die zwar einen geduldeten Aufenthalt, aber keine sozialen Rechte haben. Sie werden damit in eine rechtliche Grauzone gedrängt, die sie sehr verletzlich für ausbeuterische Arbeitsverhältnisse macht. Der Arbeitsmarkt wird damit weiter segmentiert, um das wohlfahrtschauvinistische Privileg deutscher Staatsangehörigkeit zu produzieren und zu erhalten.
Die aktuellen Neuerungen fügen sich ein in die Tradition des konservativen Sozialstaatsmodells, das eben nicht nur Status - und damit Statusunterschiede - erhält, sondern auch produziert. Es ist das Modell eines aktiv spaltenden Sozialstaats.
Lutz Achenbach ist Rechtsanwalt für Sozialrecht in Berlin.
Anmerkung:
1) Gøsta Esping-Andersen: The Three Worlds of Welfare Capitalism. Cambridge 1990.