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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 616 / 24.5.2016

Reflexion statt Reflexe

Diskussion Der innerlinke Streit um Antisemitismus und Antizionismus gleicht einem Stellungskrieg

Von Peter Ullrich

Die aktuellen Debatten um Antisemitismus von links folgen einem altbekannten Skandalisierungsmuster: Es gibt Antisemitismusvorwürfe; diese werden von der anderen Seite sofort empört als substanzlos zurückgewiesen: Ein Antisemitismusproblem liege nicht vor. In diesem Muster - ja oder nein, schwarz oder weiß - vollzieht sich die Debatte als Stellungskrieg, in dem jedes Zurückweichen als Gewinn für die andere Seite erscheint. Viele Positionierungen erscheinen reflexhaft, kategorisch und absolut. Sie werden im Brustton der Überzeugung und in moralischer Eineindeutigkeit in die Debatte gekotzt, Räume für kritischen Austausch und solidarische Reflexion (bei der man auch einmal etwas »Falsches« sagen kann) gibt es kaum. Wer unsicher ist, schweigt lieber ganz oder enthält sich der Stimme.

Deshalb soll hier noch einmal ein Vorschlag zur Klärung grundlegender Begriffe gemacht werden. Es geht zum einen um die Frage des Zusammenhangs und (je nach Kontext) auch Nichtzusammenhangs von Antisemitismus, Antizionismus und Kritik an Israel sowie - zum zweiten - um die damit verbundenen Debatten und deren jeweilige Eigendynamiken, die sich vom Streitgegenstand teilweise recht weit ablösen können. Ziel der Überlegungen ist es, die Möglichkeit einer sprechortsensiblen Reflexion anzudenken, ohne grobschlächtig zu kategorisieren.

Unter Antisemitismus im weiteren Sinne können alle Formen eines Negativverhältnisses zwischen einer Wir-Gruppe und einer als jüdisch definierten oder wahrgenommenen Sie-Gruppe verstanden werden. Im semantischen und historischen Kern ist er eine Art der Welterklärung, die Jüdinnen und Juden für abgelehnte, ungeliebte oder unverstandene soziale Verhältnisse verantwortlich macht.

Entstehungskontexte und Äußerungsformen

Wie alle sozialen Verhältnisse ist Antisemitismus wandelbar und tritt nicht isoliert auf. Seine Formen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Entstehungskontexte, Motive oder Ausdrucksformen: z.B. christlicher Antijudaismus, Rasseantisemitismus, Vernichtungsantisemitismus oder nach dem Völkermord an den europäischen Jüdinnen und Juden der Schuldabwehrantisemitismus.

Anders als die verbreitete vereinheitlichende Rede von dem Antisemitismus suggeriert, müssen antisemitische Phänomene auch hinsichtlich ihrer »Gefährlichkeit« unterschieden werden: von Differenzkonstruktion, sozialer Distanz über Stereotype bis hin zu Diskriminierungspraxen und physischer Gewalt. Aufgrund der öffentlichen Tabuisierung in Deutschland bleibt Antisemitismus oft latent und wird nur in Anspielungen und Verschiebungen, also über Umwege kommuniziert.

Antizionismus ist die grundlegende Ablehnung des jüdischen Nationalismus oder Nationalstaats/Israels. Auch er hat unterschiedliche Entstehungskontexte und Äußerungsformen. Es gibt (bzw. gab) ihn als universalistische Klassenkampforientierung in der Geschichte der Arbeiterbewegung, die nationale Differenzierungen - trotz sehr unterschiedlicher Leidenserfahrungen - als bürgerlichen Umweg im Kampf für die klassenlosen Weltgesellschaft verstand. Und es gibt Antizionismus als ethnozentrische Ideologie der Feindschaft, die aus dem realen, jahrzehntelangen, blutigen Konflikt um Land und Ressourcen u.a. zwischen Israel und den Palästinenser_innen resultiert, einem Konflikt, der von den Akteuren dominant als Konflikt zwischen Nationen bzw. Nationalbewegungen gedeutet wird. Antizionismus kann damit auch eine ideologisch verfestigte Ausdrucksform des Leidens an den gewaltförmigen Aspekten des Zionismus sein.

Auch der Antizionismus kann einen weltbildhaften Charakter annehmen und den Zionismus zu dem Übel schlechthin stilisieren. In solchen Weltbildern, vertreten u.a. bei traditionskommunistischen und anderen antiimperialistischen Gruppen, fungiert der Zionismus gleichrangig mit Kapitalismus, Imperialismus oder Krieg als Kern allen Übels. In Teilen der Palästinasolidarität reicht er sogar als singuläres Übel. Dabei finden häufig Motive und semantische Strukturen des Antisemitismus Anwendung. Ein Beispiel dafür ist die Gegenüberstellung der »guten« (werktätigen) Völker und der (imperialistischen, rassistischen) Zionist_innen (die nicht als Volk anerkannt und geschätzt werden). Denn im Antisemitismus sind die Juden ein »Nicht-Volk«, das quer zur »normalen« nationalen Ordnung der Welt steht. Der Zionismus wird dann nicht mehr als jüdischer Nationalismus kritisiert, sondern als jüdischer Nationalismus. In diesem Fall ist von antisemitischem Antizionismus zu sprechen.

Ein aktuell wichtiger Exponent dieses antisemitischen Antizionismus ist Jürgen Elsässer, der findet, dass Zionismus und Imperialismus verantwortlich für einen Kampf der Kulturen seien, in den die »Völker« getrieben würden. Doch auch Vorkommnisse auf der Revolutionären Mai-Demo in Berlin passen in dieses Schema: Während »Zionismus ist Rassismus« skandiert wurde, rief ein aufgebrachter Teilnehmer »Hamas, Hamas« und »Al-Quassam« (das ist der militärische Arm der Hamas). Hier wird die Asymmetrie in der Bewertung unterschiedlicher nationalistischer Akteure deutlich, die ein Charakteristikum antisemitischer Semantiken darstellt, zugleich aber auch Ausdruck eines konkreten nationalistischen Konflikts ist.

Dabei ist es nicht immer möglich, klar zu bestimmen, welchen Anteil »normale« nationalistische oder gesonderte antisemitische Komponenten haben. Daraus folgt für Analysen und Bewertungen: Antisemitismus und Antizionismus haben eine je eigene Geschichte und Existenz (als aus Europa kommende Verschwörungsideologie und als nationalistisch gedeutete Konflikterfahrung), können sich aber bis zur Untrennbarkeit miteinander verbinden.

Der Antizionismus ist wahrscheinlich der derzeit wichtigste Entstehungskontext von Antisemitismus. Er ist, auch wegen der Definitionsschwierigkeiten und weit verbreiteten Bemühungen, ihn von legitimer Kritik an Israel abzugrenzen, und wegen seiner Verankerung auch in der politischen Linken omnipräsent in der öffentlichen Debatte. Dies sollte nicht vergessen lassen, dass Antisemitismus in allen politischen Lagern, sozialen Schichten und Altersklassen vorkommt, aber weiterhin dominant ein Signum der (extremen) politischen Rechten ist, die für einen Großteil antisemitischer Vorfälle verantwortlich ist und in deren Weltbild Antisemitismus seinen originären Platz hat. Trotzdem ist das genuin soziale, überindividuelle, kulturell verankerte und damit die Gesamtgesellschaft tangierende Phänomen Antisemitismus als Problem für Jüdinnen und Juden, für Demokratie und Menschenrechte zumindest in Befindlichkeiten, Befangenheiten, Einstellungsmustern, sozialen Praxen usw. übergreifend vorhanden.

Im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik hat Antisemitismus zudem eine hohe negative Symbolbedeutung. In dem Maße wie der Holocaust zentral für die deutsche NS-Erinnerung wurde, wurde die Abkehr von Antisemitismus zur Messlatte politischer Legitimität. Dies spiegelt sich in darauf bezogenen Gesetzen (Strafbarkeit der Auschwitzleugnung), in Programmen der politischen Bildung speziell gegen Antisemitismus und im besonders engen deutschen Verhältnis zu Israel. Mehr als Rassismus wird Antisemitismus aus diesem (Legitimierungs-)Grund auch von politischen Eliten skandalisiert und bekämpft und zumindest in der öffentlichen Meinung (im Gegensatz zur Bevölkerungsmeinung) weitestgehend ausgeschlossen.

»Deutsche Verantwortung«

Die Kehrseite dieser besonderen Sensibilität war jedoch eine Verdinglichung, eine rituelle Erstarrung und inhaltliche Entleerung dieser »Lehren aus der Geschichte«. Ausdruck dafür ist die Beliebigkeit in der Definition dessen, was »deutsche Verantwortung« bedeutet und die weit verbreitete schamhafte Befangenheit, die in der Auseinandersetzung auch immer wieder extreme Bekenntniszwänge und Identifikationsbedürfnisse hervorgebracht hat. Dies gilt nicht zuletzt auch für die politische Linke, die in der Geschichte der BRD zwischen radikaler Identifikation mit Israel/den Jüdinnen und Juden auf der einen und den Palästinenser_innen auf der anderen Seite pendelte und niemals darauf verzichtete, die jeweils abgelehnte Seite mit dem Nationalsozialismus zu identifizieren; das gilt für »antideutsche Kritik« an den Palästinenser_innen genauso wie für die antiimperialistische »Israelkritik«.

Wird die symbolisch überdeterminierte Antisemitismuswahrnehmung auf den Nahostkonflikt übertragen und Israel mit den Opfern der Deutschen, den Jüdinnen und Juden, gleichgesetzt, entsteht ein Problem, wenn die »Opfer« im Kontext des israelisch-palästinensischen Konflikts auch »Täter« werden. Aus dieser moralisch überfrachteten Situation entflieht man gewöhnlich, indem die Widersprüchlichkeit einseitig aufgelöst wird. Man betont entweder den Antisemitismus - und schätzt die Problematik der unter Besatzung und Erniedrigung lebenden Palästinenser_innen als gering ein - oder sieht nur die Besatzung und neigt zur Bagatellisierung von Antisemitismus bei Konfliktakteuren oder ihren Unterstützer_innen.

Der eingangs beschriebene »Stellungskrieg« zwischen antisemitismuskritischen und palästinasolidarischen Gruppen ist Resultat dieser unterschiedlichen einseitigen Auflösungen der Dissonanz. Die Komplexität, die aus dem realen Nahostkonflikt und seinen ideologischen Überbauten (u.a. auch Rassismus und Antisemitismus, Nationalismus, Ethnozentrismus usw.) resultiert, die eine ganz eigene Realität konstituieren, wird zur Konkurrenz zweier Gruppen, die jeweils einen exklusiven Opferstatus in Anspruch nehmen. Die in der ausagierten Opferkonkurrenz verharrenden Protagonist_innen der Debatte reduzieren den mehrdimensionalen Konflikt auf die Frage Rassismus/für Palästina oder Antisemitismus/für Israel. Aus der Tatsache, dass Antisemitismus und Antizionismus (oder grundsätzliche Kritik an Israel) zusammenfallen können und es bisweilen tun, leitet die »antisemitismuskritische« Seite mittlerweile völlig selbstverständlich einen zwingenden Zusammenhang ab. Die Möglichkeit des Nichtzusammenfallens von Antisemitismus und Antizionismus wird von der palästinasolidarischen Seite oft als Persilschein missverstanden und als Argument gegen die Notwendigkeit der kritischen Hinterfragung eigener Position gebraucht.

Mehrdeutigkeiten und Grauzonen

Dies zeigt sich an der Wahrnehmung der BDS-Kampagne (Boykott, Desinvestition und Sanktionen). Für viele ist es schon ein Allgemeinplatz, dass es sich um die »antisemitische BDS-Kampagne« handelt. Wie antisemitisch diese mittlerweile immer mehr vor allem von linken Jüdinnen und Juden getragene Kampagne ist, ist nicht an einem Wesenszug des Boykotts, sondern u.a. aus dem Kontext zu bestimmen. Der deutsche Kontext erhöht die Wahrscheinlichkeit einer antisemitischen Interpretation.

Noch deutlicher wird die Wichtigkeit des Kontextes bei Holocaustvergleichen, die sehr unterschiedliche Funktionen haben können, wenngleich sie immer sachlich unangemessen bleiben. So ist der Vergleich im deutschen Diskurs ein Verweis auf das »eigene« Verbrechen; der Vergleich hat also eher eine Entlastungsfunktion durch die Deutungsmöglichkeit der antisemitischen Täter-Opfer-Umkehr. Im US-amerikanischen Diskurs referenziert er das Verbrechen der »anderen«; er dient also eher der besonders starken moralischen Diffamierung eines Gegners.

Irreführend wäre es in dieser Situation, dem verbreiteten Bedürfnis nach Definition einer immer zu 100 Prozent klaren Grenze zwischen legitimer und antisemitischer Kritik an Israel nachzugeben. Viel wichtiger wäre es, neben dem Ausschluss von manifestem Antisemitismus, die Anschlussmöglichkeiten und Deutungsaffinitäten in genau dem gleichen Sinne zu reflektieren, wie wir uns selbstkritisch auf rassistische oder sexistische Muster hin befragen, von denen wir nicht per se frei sind, auch wenn wir uns grundlegend als antirassistisch und antisexistisch begreifen. Dabei wird man auf manifesten Antisemitismus ebenso stoßen wie auf Grauzonen, in den Handlungen und Äußerungen mehrdeutig sind (verbreitet ist in der israelkritischen bis -feindlichen Linken, bei der Wahl seiner »palästinasolidarischen« Bündnispartner_innen nicht so genau hinzusehen und deren Antisemitismus nicht ernst zu nehmen) oder auch auf Aktionen, die auch aus ganz anderen Gründen als Antisemitismus problematisch sind (etwa im Frauendeck der Mavi Marmara eingesperrte Feministinnen). Bei antizionistischen Aktiven (aber immer mal wieder auch bei israelsolidarischen) ist besonders der ostentative Nationalismus ein echtes Bündnisproblem und bedürfte gesonderter Analyse.

Bei der Bewertung von israelkritischen Positionen müssen also immer mindestens zwei Fragen beantwortet werden: Ist die Kritik treffend/angemessen (und da gibt es naturgemäß auch unterschiedliche Ansichten), und hat sie einen antisemitischen Gehalt oder ist sie anschlussfähig für antisemitische Lesarten? Auch hier herrscht oft Mehrdeutigkeit vor. Der Bericht über ein von israelischen Soldaten getötetes Kind kann (sowohl von den Intention des Verfassers her als auch in der Rezeption) ein schlichter Tatsachenbericht sein, die (berechtigte) Skandalisierung eines Kriegsverbrechens oder das Aufwärmen der antisemitischen Kindsmordlegende. Oft werden sich möglicherweise mehrere Aspekte vermischen.

In vielen Fällen ist die reflexhafte Reduktion der Komponenten und Deutungsmöglichkeiten auf eine Antisemitismusproblematik, beispielsweise in antideutschen Polemiken, unangemessen. In vielen Fällen rabiaten Antizionismus' gibt es aber ein graduell unterschiedlich ausgeprägtes Antisemitismusproblem.

Angezeigt wäre nun eine Diskussion über diese Fragen außerhalb der Muster des Stellungskrieges Antirassismus versus Anti-Antisemitismus. Dabei wäre zu diskutieren, unter welchen Bedingungen auf den Zionismus als Gegner fokussierte Gruppen Bündnispartner in linken Demonstrationen sein können und welche Marginalisierungserfahrung im deutschen erinnerungspolitisch überdeterminierten Diskurs deren Zuspitzungen geradezu mitproduzieren.

Peter Ullrich ist Autor von »Deutsche, Linke und der Nahostkonflikt« (Göttingen 2013) und »Antisemitismus als Problem und Symbol« (Berlin 2015).