Vive la commune!
International Was wir von der Theorie des Kommunalismus und den rebellischen Städten in Spanien lernen können
Vom Malaboca Kollektiv
Am 15. Mai 2011 und in den Wochen danach verlangten Zehntausende Menschen in Spanien gesellschaftlichen und politischen Wandel. Im ganzen Land entstanden soziale Bewegungen und Ansätze zur Selbstorganisierung, Platzbesetzungen wurden ein Massenphänomen, weite Teile der Gesellschaft haben sich in der Folge politisiert. Ein Ergebnis dieser Politisierung ist nun die Bewegungspartei Podemos. Nach dem Totalversagen von SYRIZA in Griechenland scheint sie für viele die letzte Hoffnung für einen »europäischen Frühling« zu sein.
Die Fokussierung der strategischen Debatte auf Podemos ist jedoch nicht nur trügerisch, sie versperrt auch den Blick auf die eigentlich spannenden Prozesse in Spanien: die Selbstorganisierung im Alltag, wie sie etwa von der Plataforma de Afectados por la Hipoteca (PAH, ein spanienweites Netzwerk gegen Zwangsräumungen und für bezahlbaren Wohnraum) betrieben wird, soziale Kämpfe wie die MAREAS (1) und den Aufbau alternativer Institutionen in den Vierteln der Städte. (ak 612 und 613) Kaum beachtet werden hierzulande auch die munizipalistischen Bündnisse, die seit Sommer 2015 in zahlreichen Städten und Gemeinden Spaniens regieren. Die »rebellischen Städte«, wie sie sich selbst nennen, weisen in Form und Inhalt interessante Parallelen zum revolutionären Ansatz des »Kommunalismus« auf, wie ihn Murray Bookchin formuliert hat. Bookchins Versuch, ein zeitgemäßes Konzept einer revolutionären Veränderung der Gesellschaft zu entwickeln, spielt in der deutschen Debatte, wenn überhaupt, nur im Zusammenhang mit dem »demokratischen Konföderalismus« von Abdullah Öcalan eine Rolle, wird aber kaum auf die eigene linke Praxis bezogen. Bookchins Ansatz könnte dazu beitragen eine andere Perspektive in die hiesige Strategiedebatte zu bringen; eine, die sich den praktischen Herausforderungen einer emanzipatorischen Umgestaltung der Gesellschaft stellt, ohne sich Staat und Partei an den Hals zu werfen oder sich auf nihilistische Tabula-rasa-Fantasien zurückzuziehen.
Falsche Freunde: Staat und Partei
Von einer parteizentrierten Veränderungsstrategie, wie sie Podemos verfolgt, lässt sich wenig Gutes erwarten - jedenfalls keine Transformation der Gesellschaft. Das zeigt schon ein kurzer Blick auf die Entwicklung der Partei. Angetreten ist Podemos 2014 mit dem Anspruch, eine grundlegende Veränderung der Politik und ihrer Institutionen herbeizuführen. Die »politische Kaste« sollte abgesetzt und die staatlichen Institutionen so angepasst werden, dass sie »99 Prozent« der Bevölkerung dienen. In der Realität vollzieht sich dieser Anpassungsprozess schon seit geraumer Zeit in entgegengesetzter Richtung. Bereits vor dem Einzug ins Parlament, im Dezember 2015, gab die Partei grundsätzliche Positionen zugunsten einer breiten Wählbarkeit auf, entmachtete die eigene Basis und konzentrierte die Macht in einem kleinen Zirkel um den Parteiführer Pablo Iglesias. (2)
Was passiert, wenn Linke auf eine Partei als Vehikel gesellschaftlicher Veränderung setzen, davon zeugt auch die Geschichte der Bewegungsparteien mit SYRIZA als aktuellstem Beispiel. Die von Podemos verfolgte linkspopulistische Strategie mag die enorme Geschwindigkeit erklären, mit der sich die Partei an den politischen Betrieb anpasst. Die Ursache liegt jedoch tiefer, wie Dario Azzellini kürzlich in der Zeitschrift PROKLA feststellte. Dass »demokratische Parteien eine nahezu pathologische Tendenz haben, sich in bürokratische und oligarchische Organisationen zu verwandeln«, liegt nicht an der Verkommenheit ihres Personals, wie reformistische Kritiker_innen gerne behaupten, sondern schlicht daran, dass es sich bei Parteien um Apparate zur Integration der politischen Willensbildung in den Staat handelt. Wer angesichts dieser nicht gerade neuen Erkenntnis (3) immer noch so tut, als sei der Weg in die Institutionen die einzig mögliche Alternative zu einer angeblich folgenlosen Bewegung auf der Straße, offenbart damit nicht nur die eigene Geschichtsvergessenheit, sondern trägt aktiv dazu bei, die Sicht auf alternative Ansätze, wie den von Murray Bookchin, zu vernebeln.
Murray Bookchin (1921-2006) war als Sozialrevolutionär zeitlebens auf der Suche nach dem Schwachpunkt des kapitalistischen Systems und nach Möglichkeiten, es durch eine solidarische Gesellschaftsordnung zu ersetzen. Wichtiger Ausgangspunkt war seine Analyse moderner, kapitalistischer Metropolen und Nationalstaaten, denen er ein Modell dezentraler selbstverwalteter Kommunen entgegenstellte. Den von ihm entwickelten Ansatz zur gesellschaftlichen Veränderung nennt er »Kommunalismus«, die Bewegung, die diesen durchsetzt »libertären Munzipalismus«.
Bookchin kritisiert Marxismus, Syndikalismus und Anarchismus für ihr »irreführendes Verständnis von Politik«. Politik werde in diesen Ansätzen mit Staatsführung verwechselt, weshalb der Marxismus seine Politik dem Staat anpasse, während der Anarchismus Politik komplett verwerfe. Demgegenüber betont Bookchin die Notwendigkeit, eine andere Form des Politischen zu begründen. Er orientiert sich dabei an Formen direktdemokratischer Selbstverwaltung der Pariser Kommune und des revolutionären Syndikalismus der spanischen Revolution von 1936, die er in einem Gegensatz zum durch Machtkonzentration geprägten republikanischen Nationalstaat sieht. Nur im Rahmen einer kommunalen Selbstregierung sei es möglich, die im Kapitalismus herrschenden Unterdrückungsformen effektiv zu brechen und den Einzelnen Mitbestimmung über ihr Leben zu geben.
Im Kommunalismus, wie Bookchin ihn sich vorstellt, entscheiden die Menschen in Vollversammlungen selbst über die Gestaltung ihres direkten Umfelds, die Organisierung ihres Alltags und das gemeinsame Wirtschaften. In Vollversammlungen werden nicht nur alle wichtigen Entscheidungen gefällt, sie dienen auch als Foren der gegenseitigen Bildung und Politisierung. Sie sind als demokratischer Lernprozess hin zu einer Ethik des »Teilens und der Kooperation« angelegt. Ihre Funktion können die Vollversammlungen nur erfüllen, wenn es in ihnen politische Subjekte gibt, die eine gemeinsame Vorstellung eines guten und fairen Zusammenlebens teilen. Damit trägt Bookchin der Realität Rechnung, dass eine Emanzipation von Kapitalismus und Staat nicht nur neuer Strukturen und Verfahren, sondern einer ganz neuen kollektiven Subjektivität bedarf. Untereinander sind die autonomen Gemeinschaften durch eine lockere Konföderation verbunden.
Bookchin beschränkt sich jedoch nicht darauf, die Vision einer kommunalistischen Konföderation darzulegen, er gibt auch wichtige Hinweise, wie der Prozess der gesellschaftlichen Transformation aussehen könnte. Er geht von einem äußerst widersprüchlichen Prozess aus, angetrieben von einer libertären munizipalistischen Bewegung, die sich in ständigem Konflikt mit staatlichen Institutionen und der kapitalistischen Logik befindet. Eine solche Bewegung brauche neben dem »Maximalprogramm« (der gesellschaftlichen Vision) ein »Minimalprogramm« mit konkreten Schritten: Bei diesem gehe es einerseits um die Erfüllung grundlegender Bedürfnisse und einen verbesserten Zugang zu Ressourcen und andererseits um die Schaffung neuer verbindlicher Regeln und Praxen als Basis für eine weitergehende Veränderung.
Der zentrale Ort gesellschaftlicher Veränderung ist für Bookchin die Kommune. Nur im Lokalen lasse sich eine kollektive Subjektivität herstellen, die auf einer geteilten Lebenswirklichkeit beruhe. Aufgabe der Bewegung sei es, demokratische Räume in Opposition zur »dirigierenden Staatlichkeit« sowie alternative politische Institutionen aufzubauen. Trotz seiner grundlegenden Ablehnung des Staates hält Bookchin die Beteiligung an kommunalen Wahlen unter bestimmten Voraussetzungen für ein Instrument, das eine munizipalistische Bewegung stärken kann. Mit Vertreter_innen der Bewegung in der Stadtregierung sei es möglich, »diese dazu zu bewegen, Nachbarschaftsversammlungen aufzubauen, die gesetzgeberischen Einfluss haben«. Notwendig dafür sei aber eine revolutionäre munizipalistische Bewegung, die offen in Konflikt mit dem Staat geht und Klassenkonflikte austrägt, da sie sonst zum Erhalt des Bestehenden beiträgt.
Veränderung beginnt im Alltag
Eine Gefahr des Ansatzes von Bookchin liegt in der Überschätzung der realen Gestaltungsmacht von Gemeinderäten und Rathäusern und in der Unterschätzung des äußeren Drucks, der auf diese wirkt. Im Unterschied zu parteizentrierten oder nihilistischen Ansätzen birgt sein Konzept jedoch wesentliche Vorteile: Er verschweigt nicht die realen Widersprüche, mit denen sich jede revolutionäre Bewegung herumschlagen muss, sondern formuliert Vorschläge für einen produktiven Umgang mit diesen. Seine Veränderungsstrategie setzt im Hier und Jetzt, bei den alltäglichen Problemen der Menschen an. Kollektive solidarische Erfahrungen im Alltag und im Umfeld der Menschen sind der Motor für die gesellschaftliche Veränderung. Diese Einsicht, dass die aktive Veränderung des eigenen Alltags unabdingbar für die Politisierung von Menschen und für die Stärkung einer emanzipatorischen Bewegung ist, unterscheidet den kommunalistischen Ansatz grundlegend von der exklusiven Expertenpolitik linker Parteien und abgeschotteter Kleingruppen.
Wann eine munizipalistische Bewegung stark genug ist und was sie konkret tun muss, um sicherzustellen, dass eine kommunale Regierung ihre Macht dezentralisiert und der Bewegung zusätzliche Ressourcen und politische Legitimität verschafft, dazu bleibt Bookchin vage. Dass es genau diese Fragen sind, die über Erfolg und Misserfolg einer munizipalistischen Bewegung entscheiden, zeigt die Realität der munizipalistischen Bündnisse in den spanischen Städten, auf die wir im zweiten Teil des Artikels in ak 617 eingehen werden.
Das Malaboca Kollektiv besteht aus Aktivist_innen verschiedener sozialer Bewegungen, die ihr Interesse an einer umfassenden strategischen Debatte in Form journalistischer Arbeit verfolgen.
Am 30. und 31. Mai spricht das Malaboca Kollektiv in Leipzig und Chemnitz über die Krise und soziale Bewegungen in Griechenland und Spanien.
Anmerkungen:
1) Mareas (übers.: Fluten) sind Protestbewegungen für den universellen Zugang zu öffentlichen Gütern.
2) Vgl. Raul Zelik: Mit Podemos zur demokratischen Revolution? Krise und Aufbruch in Spanien. Bertz + Fischer, Berlin 2015.
3) Etwa John Mallory und Juan Miranda in ak 602.