»Es ist möglich zu gewinnen«
Konkurrenz Ein Gespräch mit der Filmemacherin Bärbel Schönafinger über die Streiks migrantischer Arbeiter_innen im italienischen Logistiksektor
Interview: Hannah Schultes
Seit 2008 und verstärkt seit 2011 bestreiken Arbeiter_innen den italienischen Logistiksektor. Bärbel Schönafinger macht seit 16 Jahren Filme über soziale Bewegungen und Kämpfe am Arbeitsplatz. 2011 gründete sie labournet.tv, eine Webseite, auf der Filme aus der Arbeiterbewegung gesammelt werden, um sichtbar zu machen, dass sich Menschen jeden Tag und rund um den Globus gegen ihre Ausbeutung zur Wehr setzen. Und dabei auch oft Erfolg haben. 2014 hat sie die Kämpfe der Logistikarbeiter_innen für ihren Film »Die Angst wegschmeißen« dokumentiert.
Du hast einen Film über die Streiks der Logistikarbeiter gemacht, die in den letzten Jahren in Norditalien stattgefunden haben, in den Warenlagern von IKEA, bei UPS und anderen Unternehmen. Die Beteiligten waren überwiegend Migranten und Migrantinnen. In welcher Situation sind diese Streiks entstanden?
Bärbel Schönafinger: Vermittelt durch sogenannte »Kooperativen« stellen Logistikunternehmen wie TNT, DHL oder GLS und Handelsriesen wie IKEA Migranten ein und lassen sie unter Bedingungen der Überausbeutung in ihren Warenlagern arbeiten. Diese Kooperativen sind Leiharbeitsfirmen, die Arbeiter und Arbeiterinnen als »Genossen« behandeln und ihnen dadurch wesentliche Arbeitnehmerrechte vorenthalten können. Daneben gibt es ein Set an illegalen Praktiken: Die Kooperativen melden nach Belieben Konkurs an, um aufmüpfige Arbeiter loszuwerden und ausstehende Löhne nicht zu zahlen, Lohnabrechnungen werden systematisch gefälscht.
Mehrmals erzählen Leute im Film, dass sie vom Unternehmen »wie Zitronen« ausgepresst und dann weggeworfen wurden. Sie sprechen von »Sklaverei«, »Mafia« und dass sie »wie Tiere« behandelt worden seien. Entsprechend viele Probleme kommen zur Sprache: schlechte Bezahlung, nicht ausbezahlte Löhne, gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen, sexuelle Belästigung von Arbeiterinnen. Was war denn genau der Auslöser dieser Kämpfe?
Arbeiter mussten stundenlang vor den Toren warten, ohne zu wissen, ob sie arbeiten würden oder nicht, gewalttätige und rassistische Vorarbeiter trieben sie mit Stöcken an. Wenn sie krank wurden oder keine Lust hatten, ihrem Vorarbeiter einen zu blasen, wurden sie versetzt oder verloren ihren Job. Haarsträubende Zustände. Irgendwann hat eine Belegschaft angefangen, ihre Wut zu organisieren. In einem Warenlager in Origgio in der Nähe von Mailand haben sich 2008 einige Arbeiter zusammengetan. Sie haben Hilfe gesucht: Zunächst vergeblich - der örtliche Verband der CGIL, einer der drei großen italienischen Gewerkschaftsdachverbände, hat sie abblitzen lassen. Dann kamen sie in Kontakt mit einer Handvoll älterer Genossen, die seit den 1970er Jahren politisch aktiv sind. Diese Leute haben den Arbeitern sofort ihre Unterstützung zugesagt. Und sie haben ihrerseits Hilfe geholt. Sie kannten die ganze linke Szene in Mailand, die Leute aus den verschiedenen sozialen Zentren, die Ex-Terroristen der Brigate Rosse. Und als die Arbeiter zum ersten Mal gestreikt haben, standen um fünf Uhr morgens 150 externe Leute vor dem Tor, die aus Mailand gekommen waren, um die Arbeiter zu unterstützen. Das ist die Urszene dieser Streikbewegung: diese 150 Leute vor den Toren. Am Ende hatten alle Arbeiter 400 Euro mehr Lohn im Monat.Die Nachricht, dass es möglich war zu gewinnen, verbreitete sich von alleine in den migrantischen Communitys, und das war die Grundlage für alles weitere. Der wichtigste Kampf, der eigentliche Durchbruch, war der bei TNT in Piacenza, ein krachender Erfolg. Und dann wollten alle streiken. Die Streikwelle hält bis heute an. Die Gewerkschaft wuchs explosionsartig auf 10.000 Mitglieder an, und jede Woche gibt es drei Blockaden.
Die Gewerkschaft, die diese Kämpfe organisiert hat, heißt S.I. Cobas - Sindacato Intercategoriale Cobas (Branchenübergreifende Gewerkschaft Basiskomitees). Ein Vertreter von S.I. Cobas sagt im Film, dass sie das Konzept »gewerkschaftlicher Selbstorganisation« verfolgen würden. Was heißt das, und welche Erfahrungen bezüglich Organisierungsform und Strategie haben die Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen eingebracht?
Als es losging, gab es zunächst keine Organisation, keine Struktur, nur ein paar Rentner mit viel Erfahrung und viel Freizeit. Der S.I. Cobas wurde erst 2010 gegründet, als die Streikwelle schon losgetreten war, und er entstand als Gewerkschaft der Delegierten aus den Warenlagern. Die Leute in den Warenlagern, die sich zusammentun, organisieren den Streik im Betrieb. Die meist einheimischen Aktivisten und Aktivistinnen von S.I. Cobas steuern ihr Know-how bei, beraten die Delegierten, kommen zu den Blockaden, verhandeln mit Polizei und lokalen Behörden und machen eben das, was die Delegierten selber nicht können oder zunächst noch nicht können. Das Besondere an der gewerkschaftlichen Strategie ist neben dieser Art von Selbstorganisation auch die Idee, dass die Delegierten nicht nur in ihrem eigenen Betrieb kämpfen, sondern mobil sein müssen. Wenn eine Belegschaft in den Kampf tritt, kann sie darauf zählen, dass Kollegen und Delegierte aus anderen Warenlagern bei den eigenen Blockaden aufkreuzen. Der wichtigste Unterschied zu herkömmlichen Gewerkschaften ist aber, dass es eine Klassenkampfgewerkschaft ist. Niemand zögert, den Unternehmen weh zu tun. Es gibt keine Standortlogik, kein Co-Management, und man denkt nicht im Traum daran, die Mütze abzunehmen, wenn man mit dem Management spricht.
Was haben die Arbeiter und Arbeiterinnen erreicht?
Die Arbeiter und Arbeiterinnen setzen in etlichen großen Logistikunternehmen die Einhaltung des Nationalen Tarifvertrages durch. Das ist ein Mindeststandard, der für die Branche gesetzlich festgelegt ist, an den sich aber trotzdem vor der Streikwelle niemand gehalten hat - auch dann nicht, wenn eine der großen Gewerkschaften im Betrieb präsent war! Da wo der S.I. Cobas gewonnen hat, werden die gewalttätigen Vorarbeiter abgesetzt, und die Leute, die gefeuert wurden, weil sie in den S.I. Cobas eingetreten sind, werden wieder eingestellt. Dass die Gewerkschaft im Betrieb präsent ist, bedeutet in der Praxis auch gemäßigtes Arbeitstempo und keine gefälschten Lohnabrechnungen mehr. Das alles bedeutet für manche Belegschaften, dass sich der de facto ausgezahlte Lohn bei gleichbleibender Stundenzahl verdreifacht hat!
Viele der »Facchini« erzählen, dass sie von einem auf den anderen Tag gekündigt werden konnten und eine große Konkurrenz herrschte, dass es immer die Drohung gab: Draußen warten 1.000 andere Leute darauf, deinen Job zu machen. Auch der rechtliche Status vieler Arbeiter und Arbeiterinnen ist sehr prekär. Der Film heißt »Die Angst wegschmeißen«. Was hat es den Beteiligten möglich gemacht, ihre Angst »wegzuschmeißen«?
Sie haben ihre Angst weggeschmissen, weil sie gesehen haben, dass es möglich ist zu gewinnen und dass sie nicht alleine sind. Neben den Delegierten aus den anderen Warenlagern und den Leuten vom S.I. Cobas kommen auch Aktivisten aus den sozialen Zentren, wenn die Tore blockiert werden. Außerdem haben sie gesehen, dass sie die Macht haben, die Unternehmen an den Verhandlungstisch zu zwingen, weil sie einen riesigen finanziellen Schaden anrichten, wenn sie für ein paar Stunden die Tore blockieren.
Für den Film hast du mit bemerkenswert vielen Leuten gesprochen. Es gibt beeindruckende Aufnahmen von den Streiktagen, von Demos, Werksblockaden, aber auch viele Interviews mit Arbeitern und Arbeiterinnen, teils am Arbeitsplatz, teils bei ihnen zu Hause. Wie sind all diese Aufnahmen zustande gekommen?
Wir waren im September 2014 zehn Tage vor Ort und haben viele Leute interviewen können, weil wir die ganze Zeit mit Karim unterwegs waren, einem dieser Delegierten, die in der Bewegung aufgehen, nie schlafen und jede Woche zu drei Blockaden fahren. Den Rest des Materials haben wir bei Youtube gefunden. Die Arbeiter haben alle Kämpfe mit ihren Smartphones dokumentiert. Zu jeder beliebigen Kampfaktion in jedem Betrieb findet man etwas auf Youtube! Das scheint mir ein sehr wichtiges Phänomen zu sein: Smartphones und Social Media sorgen dafür, dass kämpfende Arbeiter nie mehr so unsichtbar sein werden, wie die bürgerlichen Medien sie immer gemacht haben.
Im Film wird deutlich, dass die sozialen Zentren eine wichtige Rolle für die politische Mobilisierung spielen. Was können Linke aus den Streiks der Logistikarbeiter über Solidarität mit Beschäftigten lernen? Hältst du einen solchen Kampf auch hier für möglich?
In den sozialen Zentren in Bologna kommen die Leute miteinander in Kontakt und verabreden sich regelmäßig zu Demos, Aktionen und Hausbesetzungen. Auch in der BRD müssen wir unbedingt aufhören, uns in unseren akademisch-linken Milieus abzuschotten, und stattdessen Kontakt suchen zu Migranten und anderen entrechteten Lohnabhängigen und uns ihnen und ihren Kämpfen anschließen. Ich finde, die Kampagne der FAU zur Mall of Shame in Berlin ist da schon ein leuchtendes Vorbild. Es hätten nur noch viel mehr Unterstützer kommen müssen. Wir brauchen eine Bewegung, die uns alle zusammenbringt und von Erfolg zu Erfolg schreitet. In Italien war die Streikwelle in der Logistik ein Katalysator der vorhandenen Kräfte, weil sie die linken Gruppen zusammen gebracht hat. So was brauchen wir auch, und natürlich ist das auch in der BRD möglich. Wir haben alle Ingredienzien: die migrantischen Arbeiterinnen und Arbeiter, die teilweise unter genauso unmenschlichen Bedingungen arbeiten wie in Italien, die sich gegenseitig ignorierenden linken Gruppen, und es gibt Genossen und Genossinnen, die seit Jahrzehnten linke Betriebsarbeit machen. Wir müssen nur irgendwann mal in nächster Zukunft alle diese Zutaten in denselben Topf schmeißen. Wenn es einen Kontakt zu entrechteten Arbeitern gibt, die kämpfen wollen, und ein Solidaritätsappell rausgeht, muss die Linke zur Stelle sein und ihr Wissen und ihre Fähigkeiten einbringen! Ich habe noch nie so viele extrem mobilisierte und über sich selbst hinauswachsende Menschen getroffen wie in den zehn Tagen in Bologna. Es war ein unbeschreibliches Hochgefühl, Teil einer Bewegung zu sein, die die althergebrachten Unterdrückungsverhältnisse frontal angreift. Ich hoffe, dass dieses Hochgefühl in dem Film wahrnehmbar ist, und dass er den Zuschauern Lust macht, etwas Ähnliches auch hierzulande anzuzetteln.
Deutsche Arbeitgeberverbände engagieren sich gegenwärtig für eine Absenkung von Standards durch die Beschäftigung von Geflüchteten. Das wird unter der Schlagzeile »Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt« diskutiert. Wie sollte die Linke in diese Debatte intervenieren?
Die Aufgabe der Linken ist es, unmissverständlich klarzumachen, dass wir uns zusammen mit den Geflüchteten in einem Klassenkonflikt befinden mit Leuten, die sich unsere Arbeitskraft aneignen und uns dafür nicht mehr als das rein physische Überleben zugestehen wollen. Der Flüchtlingsrat hat kürzlich einen klaren Klassenstandpunkt eingenommen, als er gefordert hat: »Bezahlbaren Wohnraum für alle, die ihn brauchen, nicht nur für die Geflüchteten!« Diesen klaren Klassenstandpunkt brauchen wir alle.
Labournet.tv
ist eine stetig wachsende Webseite mit Filmen über Kämpfe von Lohnabhängigen. Die derzeit über 600 Videos aus 50 Ländern stehen kostenlos zur Verfügung. Im Juni beginnt labournet.tv eine Öffentlichkeitskampagne: Gesucht werden Fördermitglieder, die durch ihren monatlichen Beitrag den Fortbestand des Projektes sichern wollen. Bankverbindung: Content e.V. / Stichwort: labournetTV / IBAN: DE82100100100006814102