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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 616 / 24.5.2016

Mit einem Stein zwei Vögel treffen

International Die Absetzung von Ministerpräsident Davutoglu bringt Erdogan seinem Ziel eines Präsidialsystems näher

Von Ekrem Ekici

Das AKP-Erdogan-Regime unter der unumstrittenen Führerschaft von Recep Tayyip Erdogan ist schon lange auf dem Weg zum Neofaschismus. Rückblickend sind drei Phasen erkennbar. Zwischen 2002 und 2010 dominierte der Diskurs von Demokratie die konservative AKP, der ab 2010 vom Narrativ der »Neuen Türkei« abgelöst wurde. Seit 2013 geht es der Partei darum, ein neofaschistisches Regime unter der Alleinherrschaft Erdogans zu errichten.

In allen drei Phasen basierte die AKP-Herrschaft formal auf einer parlamentarischen Demokratie mit guten Beziehungen zum internationalen Kapital und zur NATO. Die politische und ökonomische Stabilität mit seiner starken Einparteienregierung machte das Land für ausländische Investoren attraktiv. Die hohen Wachstumsraten zwischen 2002 und 2008 stärkten die Macht der türkischen Wirtschaftszirkel. Nach drei Amtszeiten als Ministerpräsident erklärte Erdogan, bei den Präsidentschaftswahlen 2014 antreten zu wollen. 2014 wählte zum ersten Mal die Bevölkerung und nicht das Parlament den türkischen Präsidenten.

Die dafür notwendigen verfassungsrechtlichen Änderungen waren 2007 per Referendum beschlossen worden. Auf dieser gesetzlichen Basis wählten Erdogan 52 Prozent der Wähler_innen zum Präsidenten. Er unterstrich im Zuge dieser Wahl, dass er »kein gewöhnlicher Präsident« sein werde und nicht gedenke, die symbolische oder ausgleichende Rolle seiner Vorgänger einzunehmen. Die Äußerungen heizten die Diskussion um das Bestreben der AKP an, ein Präsidialsystem zu errichten. Ahmet Davutoglu wurde nach der Präsidentschaftswahl im August 2014 zum Premierminister und Parteichef von Erdogans Gnaden.

Davutoglu: Neo-Osmane mit Problemen

Der prominente AKP-Ideologe und Außenpolitiker orchestrierte die türkische Außenpolitik seit Jahren gemäß des Konzepts der »strategischen Tiefe« und nach dem Motto »Keine Probleme mit den Nachbarn«. Mit dem Ziel, führende Regionalmacht zu werden, propagierte Davutoglu eine Form der soft power, die sich vor allem auf kulturelle, ökonomische und politische Mittel stützt. Der Anhänger der Idee des Neo-Osmanismus fand sich nach seiner Wahl zum Parteichef und Premierminister jedoch inmitten grundlegender Umbrüche wieder.

Die sogenannte Flüchtlingskrise und der Aufstieg des IS in Syrien und im Irak waren zu einem Problem für Europa geworden. Ein Jahr später, im Juni 2015, nahm die Demokratische Partei der Völker (HDP) an den Parlamentswahlen teil. Linke Politiker_innen konnten zu den Wahlen 2007 und 2011 aufgrund der Zehn-Prozent-Hürde für Parteien nur als unabhängige Kandidat_innen, für die die Sperrklausel nicht gilt, ins Parlament einziehen. Im propagierten »Prozess einer Lösung« (çözüm süreci) der sogenannten kurdischen Frage kam die Beteiligung der HDP an den Wahlen nun einer innenpolitischen Zäsur gleich.

Die Meinungsumfragen vor der Wahl fielen für die AKP ungünstig aus und deuteten auf eine Gefährdung der Einparteienherrschaft hin. Mit einem Einzug der HDP ins Parlament stand die Mehrheit der AKP und damit auch die Einführung eines Präsidialsystems auf dem Spiel - diese ist nur mit einer Verfassungsänderung möglich, für die eine Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich ist. Deshalb hielt Erdogan neben dem Wahlkampf der Parteien auch eigene Wahlveranstaltungen ab, in denen er sich des Schlagworts vom »nationalen Willen« (milli irade) bediente. Dieser werde sich im November manifestieren. Erdogans eigenständige Aktivitäten im Vorfeld der Wahl unterminierten die Autorität Davutoglus als Parteichef und Premierminister.

Die sinkenden Umfrageergebnisse brachten Erdogan und seine Kreise auch dazu, die HDP in der Öffentlichkeit zu attackieren und einen türkisch-islamischen neonationalistischen Diskurs zu bedienen - wodurch ihre Anhängerschaft zusammenrückte. Im Parlament garantierte ihnen dies jedoch keine Mehrheit: Die HDP erhielt bei den Juni-Wahlen 13 Prozent der Stimmen, während nur 40 Prozent der AKP ihre Stimme gaben. Für das AKP-Erdogan-Regime bedeutete dies vorerst das Ende des Traums vom Präsidialsystem.

Ein Riss geht durch die AKP-Familie

Die Koalitionsverhandlungen nach der Wahl scheiterten, der türkische Staat erklärte das Ende des Lösungsprozesses, und erneut begann eine türkische Regierung einen Krieg in den kurdischen Gebieten. Erdogan stand im Zentrum dieses Krieges; auch hier reduzierte sich Davutoglus Rolle auf seine exekutive Funktion. Im November 2015 kam es erneut zu Wahlen, und dieses Mal erhielt die AKP fast 50 Prozent der Stimmen, während die HDP auf 10,7 Prozent absank. Im Parlament war die HDP nun mit 59 Abgeordneten vertreten. Die AKP besaß daher immer noch keine Zwei-Drittel-Mehrheit, um die Verfassungsänderung für ein Präsidialsystem herbeizuführen. Die Beziehung zwischen dem Klüngel um Erdogan und Davutoglu geriet sichtbar in die Krise, als der Premierminister öffentlich erklärte, dass »das Volk der AKP keine Berechtigung erteilt hätte«, ein Präsidialsystem zu installieren.

Inmitten dieser Auflösungserscheinungen kümmerte sich Davutoglu um die Verhandlungen mit der EU über den Flüchtlingsdeal und schrieb in Folge den »Erfolg« des Deals sich und seinen Kreisen gut. Es sah zunehmend danach aus, als würde er sich Erdogans Kontrolle entziehen und dessen Umlaufbahn verlassen.

Zwischen Davutoglu und Erdogan mangelte es nicht an Meinungsverschiedenheiten. Da gab es zum Beispiel die Frage, ob die gegen den Krieg protestierenden Akademiker_innen aufgrund ihrer Eigenschaft als »Staatsfeinde« inhaftiert (Erdogan) oder auch angeklagt (Davutoglu) werden sollten. Auch bezüglich der Verhandlungen mit der kurdischen Bewegung nahmen sie durchaus unterschiedliche Standpunkte ein: Während Davutoglu unter der Bedingung einer Akzeptanz des Verhandlungstands von Mai 2013 zu einer Wiederaufnahme der Verhandlungen mit der kurdischen Bewegung bereit war, wies Erdogan diese Möglichkeit rigoros zurück. Aus seiner Sicht gibt es keinen Weg zurück. Der Graben zwischen den beiden vertiefte sich.

Gegenspieler entmachtet, Immunität aufgehoben

Nachdem der AKP-Parteivorstand dem Parteivorsitzenden am 29. April 2016 das Recht entzogen hatte, Funktionäre auf Bezirks- und Provinzebene zu ernennen, trat Davutoglu am 5. Mai von seinen Ämtern zurück. Vor dem Hintergrund der angeschlagenen Beziehung zum Präsidenten handelte es sich dabei zweifellos nicht um eine gewöhnliche Amtsniederlegung, sondern vielmehr um eine Amtsenthebung. Am 22. Mai wurde der neue Parteichef auf dem Sonderparteitag der AKP gewählt, oder besser: eingesetzt. Die AKP nominierte als einzigen Kandidaten Verkehrsminister Binali Y?ld?r?m, der als Vertrauter Erdogans gilt. Neben dem Amt des Parteichefs soll der Gewählte auch Regierungschef werden.

Bei der Entmachtung geht es nicht um die Spaltung der AKP in Anhänger_innen einer moderaten Davutoglu-Linie und eine Hardliner-Fraktion, die Erdogan folgt. So war Davutoglu leidenschaftlicher Verfechter des Syrienkrieges und Unterstützer der islamistischen Gruppen, die dort kämpfen. Zweifellos repräsentierte er aber eine andere Linie in der Partei. Dass der Premierminister als eigenständig handelnder Akteur auftrat, wurde für Erdogan zu einem Hindernis auf dem Weg zum Präsidialsystem, das er nun beseitigt hat.

In der Zwischenzeit plante die AKP, durch eine befristete Verfassungsänderung die Immunität von Abgeordneten aufzuheben. Die Verabschiedung der Änderung mit der erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit am 20. Mai läuft auf eine Verfolgung der HDP-Abgeordneten heraus. Diesen wird unterstellt, der verlängerte Arm der PKK zu sein und damit terroristische Handlungen zu unterstützen.

Dieser politische Schachzug könnte auch auf erneute Parlamentswahlen nach der Entfernung der HDP aus dem Parlament hinauslaufen. Das AKP- Erdogan-Regime hat, um es mit einer türkischen Redewendung auszudrücken, »mit einem Stein zwei Vögel getroffen«: Die Aufhebung der Immunität bringt sie ihrem Ziel einer Verfassungsänderung und einer vollständigen Kriminalisierung der kurdischen Bewegung näher. Das deutet darauf hin, dass ab diesem Sommer die Endphase auf dem Weg zur Errichtung einer Herrschaftsform anbricht, die der Westen das letzte Mal zu Zeiten von Luis Bonaparte gesehen hat.

Ekrem Ekici schrieb in ak 615 über die AKP zwischen Autoritarismus und Faschismus.