Unser Beitrag zum Fall der Festung Europa
Aktion In Lübeck ist aus einer Anlaufstelle für Menschen im Transit ein Solidaritätszentrum für alle Geflüchteten und Migrant_innen entstanden
Von Maike Zimmermann
Als ich vom Lübecker Hauptbahnhof Richtung Holstentor gehe, lacht die Sonne vom Himmel, ein schöner warmer Tag im Mai. War das Holstentor in meiner Kindheit auch schon so schief, denke ich noch, bevor ich abbiege Richtung Wallhalbinsel. Dort liegt die Walli, wie die alternative e.V. wegen ihrer Lage auch genannt wird. Um sie herum hat sich eine Menge verändert, seit sie als selbstverwaltetes Zentrum 1978 ihre Türen öffnete. Heute ist die Walli umzingelt von Parkplätzen, modernen Hotels und der Musik- und Kongresshalle, strahlend weiß und riesengroß.
Ganz schöner Kontrast, denke ich mir, als ich die Stufen zum Café Brazil am zur Straße gelegenen Teil der Walli hochsteige. Wo das Solizentrum ist, frage ich drinnen am Tresen - denn ich muss gestehen, seit dessen Öffnung im September 2015 noch kein einziges Mal hier gewesen zu sein. »Das ist bei der Werkstatt, eine Einfahrt weiter«, erfahre ich, und kaum setze ich mich in diese Richtung in Bewegung, höre ich es auch schon sägen und hämmern, begleitet von Reggaemusik. Als ich um die Ecke biege, treffe ich auf zwei Wandergesellen, die gerade einen mächtigen Balken bearbeiten. »Ich bin auf der Suche nach Pit«, sage ich etwas schüchtern. »Hallo, das bin ich. Dann bist du Maike.«
Der Balken, an dem die beiden arbeiten, soll später Teil einer Nottreppe werden. Pit deutet auf eine zugenagelte Tür oben an dem Gebäude, vor dem wir stehen. »Von dort geht es dann bis hier runter.« Mein Blick fällt auf ein Holzschild an dem etwas heruntergekommenen Haus. »Solizentrum« steht darauf. Um uns herum eine Menge Holz, ein paar Dixi-Klos und allerlei Werkzeug. »Ich zeig dir am besten erstmal alles«, sagt Pit, und wir gehen seitlich an dem Haus vorbei einen schmalen Gang entlang. Weitere Wandergesellen blicken von ihrer Arbeit auf und grüßen freundlich.
Es ist kein Zufall, dass sie hier sind. »Wir Wandergesellen sind Fremde in der Fremde«, erklärt Pit. »Das machen wir zwar freiwillig, aber das ist zuweilen ganz schön hart. Vor allem erlebt man die Menschen sehr aus der Nähe - beim Trampen zum Beispiel - und kriegt mit, wie die so drauf sind. Ich musste feststellen, dass der Ton im letzten Jahr rauer geworden ist und habe gedacht: Es wird Zeit, dass wir was machen.« Er und andere Wandergesellen machten sich auf die Suche nach selbstorganisierten Projekten, die für und mit Geflüchteten arbeiten und die Unterstützung brauchen. »Da war ziemlich schnell klar, dass das Solizentrum mit dabei sein wird.«
Hilfe für über 14.000 Menschen im Transit
Hinten, unter ein paar Bäumen treffen wir auf Ratze. »Ich mach hier die Werkstatt«, sagt er. Neben uns ist der etwas verwilderte Durchgang zum »alten Teil« der Walli. Ratze erzählt, was hier in den letzten Monaten los war. Im Herbst letzten Jahres begann die Unterstützungsarbeit für Geflüchtete im Transit. Die meisten Menschen kamen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak und haben sich trotz vieler Hürden nicht von ihrem Weg abbringen lassen. Seit dem 10. September 2015 fuhren täglich mehrere Fähren mit Geflüchteten nach Schweden und Finnland. Das Solizentrum half über 14.000 Menschen bei der Weiterfahrt, Fährtickets wurden gebucht, bis Ende November rund 440.650 Euro bezahlt. Die Hälfte wurde von Geflüchteten selbst übernommen, die andere Hälfte durch Spenden finanziert. Rund 300 Menschen waren jeden Tag hier im Solizentrum.
»Am Anfang wurde das alles drüben in der alternative gestemmt«, erinnert sich Ratze. »Alles platzte aus den Nähten, es kam kein Geld mehr rein, weil der Veranstaltungbetrieb praktisch nicht mehr möglich war.« Das Grundstück, auf dem wir stehen, war dann so etwas wie die Rettung. »Das gehörte früher der Freiwilligen Feuerwehr, als Garage für die Fahrzeuge«, erzählt Ratze. »Die sind aber schon längere Zeit weg«. Die Stadt erlaubte daher die Nutzung durch die Walli. »Aber nur zum Ruhen, nicht zum Schlafen! War ja Transit!« Dieser Transit konnte durchaus auch mal 36 oder 48 Stunden dauern, und natürlich wurden daher auch Betten besorgt.
Durch die verschärften Grenzkontrollen, durch die Abschottung an Europas Außengrenzen, ist heute eine Weiterreise nach Skandinavien kaum mehr möglich. In den ersten Wochen haben alle einfach funktioniert und rund um die Uhr zusammengearbeitet. Als immer weniger Geflüchtete nach Lübeck kamen, traten die Unterschiede zwischen den Ünterstützer_innen zu Tage. »Das hat zum Teil ordentlich gekracht«, erinnert sich Ratze. »Wenn Leute plötzlich einen Tannenbaum aufstellen wollen oder die Bibel verteilen - da merkt man, dass wir einfach einen ganz anderen politischen Anspruch haben. Da kommt man dann unter Umständen an einen Punkt, da geht das nicht mehr zusammen.« Anfang des Jahres haben sich dann einige der Helfer_innen vom Solizentrum getrennt. »Aber die haben sofort weitergemacht, das fand ich super«, sagt Ratze. Momentan sind es etwa 50 Alt- und Neu-Lübecker_innen, die das Solizentrum am Laufen halten.
Es ist so etwas Ähnliches wie eine Verschnaufpause. Jetzt ist die Zeit da, um aus dem aus der Not geborenen Provisorium etwas Fundiertes, etwas Dauerhaftes zu machen. »Genau das finde ich so toll hier«, sagt Pit. »Hier ist nichts fertig, es ist keine offizielle Institution, in die du dich einbringst, sondern es entwickelt sich - und zwar nicht einfach nur karitativ für, sondern gemeinsam mit Geflüchteten.« Ratze ergänzt: »Wir als Linke müssen ja auch erstmal lernen, wie sowas wie Integration mit einem bestimmten politischen Anspruch überhaupt funktionieren kann.« Hier beim Solizentrum läuft das sehr praktisch, über die gemeinsame Arbeit. Jede und jeder kann mitmachen: »Wenn man zusammen was baut, spielen Sprachbarrieren auch keine so große Rolle.«
Justus stößt zu unserer kleinen Gruppe, er war auch von Anfang an mit dabei beim Solizentrum. Gemeinsam mit ihm und Pit gehe ich durch die Tür vor uns in die Fahrradwerkstatt, eine klassische Selbsthilfewerkstatt. Ungefähr 25 Leute kommen jeden Tag hierher, um ihr Rad wieder flott zu machen. Eine Tür weiter ist die Kleiderkammer. »Das war am Anfang echt wichtig«, erzählt Justus. »Die Leute hatten zum Teil nicht mal eine lange Hose.« Aus den beiden Räumen mit den Regalen, den Schuhen, den Klamotten, dem Babybrei und dem Spielzeug soll so eine Art selbstorganisierter Umsonstladen werden. »Für alle, nicht nur für Neu-Lübecker.«
Betten aus'm Knast
Wir gehen weiter in die Halle, in der früher die Feuerwehrfahrzeuge standen. »90 Doppelstockbetten hatten wir hier«, sagt Justus, »aus der JVA Fuhlsbüttel.« Wie bitte? Aus dem Hamburger Knast? »Ja, irgendeiner kannte einen und hat irgendwo angerufen, und dann sind ein paar Leute in die JVA gefahren, direkt auf den Hof, und die Insassen haben ihnen dann beim Aufladen geholfen.« Die Betten sind mittlerweile verschwunden, jetzt ist es ein Veranstaltungsraum mit Stuhlreihen. Hier finden regelmäßig Veranstaltungen statt, die immer gut besucht sind und bei Bedarf übersetzt werden. »Perspektivisch wollen wir auch Sportmatten besorgen, damit man den Raum auch für Selbstbehauptungskurse nutzen kann oder zum Turnen oder für anderen Sport.«
Wir gehen einmal um das Haus herum. Vorne ist ein winziges Büro. Hier wurde das Booking gemacht, also die Überfahrt mit der Fähre organisiert. Heute finden hier die Einzelberatungen statt. Auf dem Gelände gibt es genau eine Dusche. »Jetzt ist das okay, aber bei 300 Leuten war das schon hart.« Hier im Haus wird auch medizinische Beratung und Hilfe angeboten. »Das betrifft nicht nur Geflüchtete, das nehmen auch andere in Anspruch«, erzählt mir Justus auf dem Weg nach draußen. Schräg gegenüber ist ein weiteres Gebäude, es gehört dem Grünflächenamt. Als die alternative im Oktober 2015 an ihre Kapazitätsgrenze kam, wurde es symbolisch in Betrieb genommen, der Bürgermeister Bernd Saxe sprach von einer Hausbesetzung, die nicht akzeptiert werde. Am gleichen Tag begannen Vertreter_innen des Lübecker Flüchtlingsforums und der alternative mit der Stadt über eine schnelle Lösung für die Unterbringung der Geflüchteten zu verhandeln.
Das Ergebnis ist ein Mietvertrag, befristet auf ein halbes Jahr mit einer symbolischen Miete von einem Euro. Justus und Ratze sind sich einig: Ohne die kluge Strategie der kleinen, stetigen Schritte würde es das Solizentrum so heute nicht geben. Trotzdem gibt es zwei Haken an der Sache: Zwar wurde der Mietvertrag inzwischen um weitere sechs Monate verlängert, aber er ist nach wie vor befristet. Außerdem muss das Solizentrum zwar keine Miete zahlen, wohl aber die Nebenkosten tragen. Und die beliefen sich in der kalten Jahreszeit durch das extrem schlecht isolierte Gebäude auf rund 30.000 Euro.
Ich lasse Justus und Pit allein und werfe einen Blick in das Café - denn heute ist Frauentag. Vor der Tür sitzt eine gesellige Runde aus Alt- und Neu-Lübeckerinnen, es wird geredet, gelacht und offensichtlich das eine oder andere erklärt. Ich will gar nicht weiter stören und treffe vor dem Haus wieder auf Justus und Pit. Oben unter dem Dach ist mittlerweile ein Seminarraum entstanden, abgeschliffener Fußboden, Stühle, Tische, eine Tafel. Hier finden verschiedene Sprachkurse statt - Deutsch und Arabisch.
Wir sprechen darüber, was die Wandergesellen in der Zeit, in denen sie hier sind, gemeinsam mit Geflüchteten bauen wollen. »Neben der Nottreppe«, sagt Pit, »sind das vor allem Teile des Dachs, eine Gaube und die Kehle.« Ich habe keine Ahnung, was eine Kehle ist. »Komm ich zeig's dir.« Wir gehen hinter die beiden Häuser und stehen plötzlich in einer Idylle direkt am Kanal, es ist total ruhig, in einiger Entfernung sitzen ein paar Leute am Wasser im Gras. »Das ist fast ein bisschen wie unser privater Garten hier«, sagt Justus. Weiter hinter dem Haus erfahre ich dann, was eine Kehle ist: Ein Blech an der Stelle, wo zwei Dächer aufeinander treffen und eine Ecke bilden. »Wieder was gelernt«, sage ich. Das stimmt nicht ganz. Denn in Wirklichkeit habe ich heute noch sehr viel mehr gelernt.
Eins sagt Justus während meines Besuchs immer wieder. Im Moment, da sei es ruhig hier. »Aber wir bereiten uns darauf vor, dass sich das jeder Zeit wieder ändern kann. Alles, was wir hier machen, ist immer auch darauf ausgelegt, dass wieder mehr Menschen über die Grenzen kommen.« So ist das Projekt Ausdruck praktischer Solidarität, sowohl für Menschen im Transit als auch für Neu-Lübecker_innen. »Und es ist eben auch unser Beitrag zum Fall der Festung Europa.«
Doch auch in dieser vermeintlichen Ruhephase gibt es viel zu tun. »Es hat immer alles zwei Seiten. Die Leute, die jetzt hier sind, bleiben für länger - leider nicht unbedingt dauerhaft, aber länger als die paar Stunden im Transit. Dadurch wird es möglich, wirklich zusammen zu arbeiten und Sachen zu entwickeln. Eine wirkliche Beziehung aufzubauen, das schaffst du nicht in ein paar Stunden.«
»Wie geht's denn bei euch jetzt weiter?«, will ich von Pit wissen. »Also das nächste Projekt startet Ende Mai in der Nähe von Berlin. Es geht zum Projektehof Wukania im brandenburgischen Biesenthal, das auch auf selbstorganisierte Art und Weise Geflüchtete unterstützen will.« Ich sehe mich nochmal um: »Aber es sieht gar nicht so aus, als dass hier bald alles fertig ist.« Pit stimmt mir zu. »Naja, da wir auf Wanderschaft sind, treffen alle von uns immer auch andere Gesellen. Und da spricht man natürlich über das, was man erlebt hat. Dadurch kann sich auch so eine Idee wie dieses Projekt weitertragen.« Das wäre natürlich super, wenn Wandergesellen und Wandergesellinnen, die es nach Lübeck verschlägt, ihr Können für eine Zeit hier einbringen und den Alt- und Neu-Lübecker_innen beim Bauen helfen. Allerdings gilt das eigentlich gar nicht nur für Leute auf Wanderschaft, sondern für alle.
Um die Nebenkosten zusammenzubekommen gibt es die Spendenkampagne »Ein Jahr Wärme, Licht und Wasser für das Solizentrum in Lübeck« bei www.betterplace.org. Informationen unter solizentrum.de.