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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 616 / 24.5.2016

Die Anti-Schockstrategie

International Die französische Regierung nutzt den Ausnahmezustand, um die Arbeitsgesetze zu verschärfen. Nuit debout könnte das verhindern

Von Aurélie Audeval

Nuit debout (Nacht auf den Beinen) - seit Ende Februar hat sich in Frankreich eine breite soziale Bewegung entwickelt. Zweimal pro Woche finden große Demonstrationen in den meisten Städten statt, und überall werden Plätze besetzt. Die Platzbesetzungen sind aber nicht die einzige Besonderheit dieser Bewegung.Der Funke dafür war ein neues Arbeitsgesetz, das den bisher existierenden Code du Travail grundlegend reformieren soll. Das Loi Travail ist mit dem Namen der Arbeitsministerin, Myriam El Khomri, verbunden; es handelt sich um eine Reform der Arbeitsverhältnisse nach klassisch neoliberaler Bauart. (ak 615) Der wichtigste Punkt ist das Vorhaben, dass Vereinbarungen innerhalb einer Firma größeres Gewicht haben sollen als die allgemeinen Gesetze. Das betrifft zum Beispiel die Ausdehnung der Arbeitszeit auf bis zu zwölf Stunden pro Tag und 60 Stunden pro Woche, die jetzt in innerbetrieblichen Abkommen verankert werden kann. Das Gesetz ist ein Angriff auf kollektive Standards und soll das Kraftverhältnis zwischen Lohnarbeiter_innen und Kapital zugunsten der Unternehmen verschieben.

Eine so grundlegende Änderung des französischen Sozialpakts kann nur in einem sehr speziellen Kontext stattfinden, der sich nicht durch die allgemeine Tendenz zum Neoliberalismus erklären lässt. Dieser spezielle Kontext sind die Terroranschläge des IS vom 13. November 2015 in Paris. (ak 611) Die Attentate haben viele Leute in eine Art Schockstarre versetzt, ein Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit erzeugt. Man fühlt sich unweigerlich an das erinnert, was Naomi Klein in ihrem Buch »Die Schock-Strategie« beschreibt: Der Schock und die Lähmung, die Kriege oder Katastrophen auslösen, werden genutzt, um neoliberale Reformen durchzusetzen und Freiheitsrechte zu beschneiden.

Die Erklärung des Ausnahmezustands durch die französische Regierung unmittelbar nach der Terrorattacke war der erste Schritt. Die Macht der Exekutive wurde gestärkt, die polizeilichen Machtbefugnisse wurden erweitert. Im Dezember prägte diese Situation den Ablauf der Klimakonferenz COP 21 in Paris. Die geplanten Demonstrationen wurden unter Verweis auf den Ausnahmezustand kurzerhand verboten, 400 Hausarreste verhängt. Nun ist er schon zweimal verlängert worden - fast ohne jeden Widerstand. Selbst die linken Abgeordneten der Front de Gauche haben zugestimmt.

Reformen und Schockstrategie

Der zweite Schritt in diesem Prozess sind die neoliberalen Reformen, das Loi Travail. Unter normalen Umständen hätte die Regierung diesen Frontalangriff auf das Arbeitsrecht nicht ohne weiteres wagen können. Die anhaltende Mobilisierung gegen das Gesetzesprojekt kann nun als erster Rückschlag für diese unter Ausnutzung des kollektiven Schocks initiierte Reformstrategie gelten. Bei den Protesten handelt es sich tatsächlich um eine Antwort von unten auf die Terroranschläge und ihre politischen Folgen. Das Ohnmachtsgefühl, das durch die Wahlergebnisse des Front National noch verstärkt wurde, ist einer sehr lebendigen Protestdynamik gewichen. Die soziale Bewegung hat in der öffentlichen Debatte, die sich bislang nur um die Terrorgefahr und die nötige starke Antwort des französischen Staates drehte, einen dritten Pol eröffnet. Plötzlich kann wieder über soziale Rechte und ökonomische Verhältnisse gesprochen werden.

Wie ist dieses Erwachen zu erklären? Ein wichtiger Faktor ist die soziale Zusammensetzung der Bewegung. Die Hauptakteure in Paris sind genau jene sozialen Gruppen, die von den Terroranschlägen des 13. November besonders betroffen waren, die im weitesten Sinne linken urbanen Milieus. Viele haben Freunde und Verwandte, die im Konzertsaal Bataclan oder in den Bars und Restaurants, denen die Anschläge galten, gestorben oder verletzt worden sind. Dass die französische Regierung die Toten und Verletzten instrumentalisiert hat, um politische Ziele zu verfolgen, die im Widerspruch zu deren sozialen und politischen Orientierungen stehen, hat viele Leute wütend gemacht. Es ist daher kein Zufall, dass der Place de la République, der zentrale Ort der kollektiven Trauer nach den Anschlägen, zum Ort der politischen Platzbesetzung von Nuit debout wurde.

Ein weiteres Beispiel für die Verbindung zwischen dem 13. November und der aktuellen Bewegung war bei der ersten Demonstration zu erleben. Als der Marsch am Konzertsaal Bataclan vorbeizog, der zufällig an der Demoroute lag, hatten viele Teilnehmer_innen Tränen in den Augen. Es war nicht nur wegen der traurigen Erinnerungen ein emotionaler Moment. Das Gefühl bei vielen war, endlich eine eigene Antwort auf den Terror zu geben - besser als die Hundertschaften schwerbewaffneter Polizei, die in den Wochen nach den Anschlägen Wehrhaftigkeit demonstrieren sollten.

Wie der Protest begann

Die Wiederbelebung des linken Spektrums bahnt sich schon seit längerem an. Dennoch war die Lähmung noch so groß, dass die traditionellen Strukturen der Linken unfähig waren, auf das Arbeitsgesetz zu reagieren. Die Bewegung hat durch zwei Initiativen jenseits der klassischen Organisationen Schwung bekommen. Alles begann Ende Februar mit einer Unterschriftenliste gegen das Gesetzesvorhaben. Innerhalb von nur zwei Wochen hatten eine Million Menschen unterschrieben. Nach einer Mobilisierung in den sozialen Netzwerken wurde schnell eine erste Demonstration organisiert. Die Mobilisierung lief gut, aber die Gewerkschaften verhielten sich sehr zögerlich.

Im März begann dann die Mobilisierung der Jugendlichen, Schüler_innen und Student_innen. Üblicherweise sind es die Jugendlichen, die durch Aktionen die Dynamik von Bewegungen prägen. Leider war das dieses Mal nicht der Fall. Besonders die Schüler_innen haben eine extrem gewalttätige Polizei zu spüren bekommen. Viele Videos im Internet dokumentieren brutale Polizeiübergriffe, Lehrer_innen berichten schockiert von den Erlebnissen ihrer Schüler_innen. Die Abschreckungsstrategie der Polizei ging auf, Schüler_innen haben sich weitgehend aus der Mobilisierung zurückgezogen. Einige Student_innen sind noch dabei, aber auch die Mobilisierung in der Universität hat durch die Polizeigewalt einen großen Dämpfer erhalten.

Ein zweites Ereignis hat der Bewegung dann aber neuen Schwung und auch Kontinuität verschafft: Nuit debout, die nächtlichen Platzbesetzungen, die sich von Paris aus über ganz Frankreich ausgebreitet haben. Die Idee entstand bei einem Meeting Ende Februar, bei dem mehrere Aktivist_innen vereinbart hatten, dass man am Ende der großen Demonstration am 31. März auf keinen Fall zurück nach Hause gehen würde. So ist der Place de la Republique besetzt worden. Die Vollversammlung, die Arbeitsgruppen, die Offenheit und die Methoden der politischen Entscheidungsfindung - die Ähnlichkeiten zu den Occupy-Protesten in den USA von 2011 oder zur spanischen Bewegung der Indignados sind frappierend. Nuit debout hat bisher zwar nicht die massenhafte Mobilisierung erreicht, die es vor fünf Jahren in Spanien gab, konnte aber dennoch eine beeindruckende Zahl von Menschen auf die Straßen und Plätze bringen.

Auch aus anderen Gründen spielt Nuit debout eine wichtige Rolle in der aktuellen Bewegung. Erstens ersetzt es, was die Bewegungsdynamik angeht, die Rolle der Jugend in den Protesten. Das bedeutet aber auch, dass die Aktivist_innen - genau wie bei Jugendbewegungen - unglaublich viel Zeit investieren müssen. Für viele andere, die diese Zeit nicht haben, wirkt das ausschließend. In der Folge sind nur bestimmte soziale Gruppen präsent: Autonome, deren Lebensschwerpunkt ohnehin außerhalb der Lohnarbeit liegt, Jugendliche, professionelle Aktivist_innen von NGOs und Vereinen, Arbeitslose und Leute mit flexiblen Arbeitsbedingungen.

Das hat auch ganz bestimmte Auseinandersetzungen um das Verhältnis zu Gewalt, zu Gewerkschaften und Medien, aber auch um die politischen Ziele von Nuit debout zur Folge. Stichwort Gewalt: Man merkt den Debatten eine gewisse fetischhafte Obsession mit der Gewaltfrage an - in die eine oder die andere Richtung. Entweder ist Gewalt ein Kernelement der eigenen politische Identität als »Radikale«, dann erscheint sie als der einzige Weg, um die Bewegung voranzubringen. Oder sie wird absolut verdammt, dann sind Aufrufe zu bedingungslosem Pazifismus die Folge.

Exzessive Polizeigewalt gegen Demonstrant_innen

Diese Debatte ist besonders wichtig in dem Moment, wo die staatliche Gewalt immer massiver wird, nicht nur gegenüber den Jugendlichen. Bei der 1.-Mai-Demonstration zum Beispiel wurden 100 Demonstrant_innen verletzt. Nun haben viele Aktivist_innen Angst zu demonstrieren. Die Bewegung, die wie eine Arznei gegen die Ohnmachtsgefühle nach den Terroranschlägen vom 13. November gewirkt hat, hat jetzt wegen der staatlichen Repression wieder mit den Gefühlen von Angst und Machtlosigkeit zu tun. Die neuen individuellen Demoverbote, die die Polizei Mitte Mai etwa 100 Menschen persönlich übermittelte, zeigen, dass die Reise weiter in Richtung eines immer repressiveren Staates geht.

Es ist wichtig, weiter politischen Druck auszuüben, möglichst ohne sich in der Auseinandersetzung mit der Polizei zu verlieren. Die Vielfältigkeit dieser Bewegung, die inzwischen auch Mobilisierungen in anderen Bereichen der Gesellschaft ausgelöst hat, könnte ein guter Ausgangspunkt sein. Die Bewegung der Künstler_innen, der intermittents du spectacle, die Theater besetzt haben, und die des prekären Forschungs- und Lehrpersonals an den Universitäten, die unter anderem die Vergabe von Prüfungsnoten blockieren, sind zwei Beispiele dafür, wie im Windschatten der Proteste gegen das Arbeitsgesetz eine neue soziale Protestdynamik entsteht. Die große Mobilisierung durch einen Generalstreik fehlt aber noch.

Da es auch im Parlament eine klare Opposition gegen das Arbeitsgesetz gibt, selbst innerhalb der regierenden Sozialistischen Partei, hat Premierminister Manuel Valls auf Artikel 49.3 der französischen Verfassung zurückgegriffen, der es der Regierung ermöglicht, das Gesetz auch ohne Zustimmung des Parlaments zu verabschieden. Dieses extrem undemokratische Manöver für ein Gesetz, das laut Umfragen 70 Prozent der Menschen in Frankreich ablehnen, hat die kollektive Wut nur noch weiter angefacht.Inzwischen bewegen sich auch die Gewerkschaften langsam in Richtung eines Generalstreiks. Die erfolgreichen Proteste im Jahr 2005 gegen den Contrat Première Embauche (CPE), ein Gesetz zu Lasten von Berufsanfänger_innen, das auch mit Hilfe des Artikels 49.3 verabschiedet worden war, ist das Vorbild.

Aber auch über das direkte Ziel, das Arbeitsgesetz zu verhindern, hinaus ist diese Bewegung ein wichtiges, Mut machendes Signal, dass die Schockstrategie scheitern kann. Die Fähigkeit von Nuit debout, Menschen zu politisieren und sich zu verbreitern, über die Grenzen Frankreichs hinaus und von den Städten bis in die Dörfer, lässt auf eine Politisierung und Aktivierung der Gesellschaft hoffen.

Aurélie Audeval lebt in Paris. In ak 601 schrieb sie über die Reaktionen auf den Anschlag auf die Satirezeitung Charlie Hebdo.