Überleben ist keine Straftat
International Barcelonas Straßenhändler_innen organisieren sich gegen Polizeigewalt und fühlen sich von der linken Stadtregierung betrogen und hintergangen
Von Naemi Gerloff
Auf den Ramblas von Barcelona gehören Straßenhändler_innen seit Jahren zum Alltag. Die sogenannten Manteros, die ihre Ware auf Decken (»Mantas«) auslegen, sind überall dort, wo touristische Aufmerksamkeit gute Verkaufsquoten verspricht. Etwa zwei Drittel von ihnen leben ohne regulären Aufenthaltsstatus und nutzen den Straßenhandel als selbstbestimmte Einnahmequelle. Ihre Tätigkeit ist begleitet von ständiger Polizeirepression und dem Risiko staatlicher Gewalt - bis hin zum Abschiebegefängnis.
»Seit einigen Monaten können wir nicht mal mehr unsere Wohnung verlassen«, sagt Aziz Faye, einer der Sprecher des Sindicato Popular de Vendedores Ambulantes, der Gewerkschaft der informellen Straßenhändler_innen. Die enorme Polizeipräsenz verunmöglicht den Verkauf in der Innenstadt, und die polizeilichen Kontrollen haben das Stadtviertel erreicht, in dem die meisten Manteros wohnen: »Sie warten auf uns an der Metro-Station von Besos Mar und beschlagnahmen unsere Ware. Wenn du schwarz bist und ein Bündel oder einen großen Rucksack auf dem Rücken hast, lassen sie dich nicht in die Metro«. (1)
Am Gebäude des Stadtparlaments prangt derweil ein Banner mit der Aufschrift »Refugees Welcome«. Seit einem Jahr regiert hier die Erste Bürgermeisterin Ada Colau. Die langjährige Sprecherin der Plataforma de Afectados por la Hipoteca (PAH) setzte sich gegen Zwangsräumungen und für ein soziales, basisdemokratisches Barcelona ein. Mit dem Wahlsieg ihrer Partei Barcelona en Comu (BeC), die der spanienweiten Podemos nahesteht, zogen Intellektuelle und Aktivist_innen ins Stadtparlament ein, die mit den sozialen Bewegungen der Stadt vertraut waren. In ihrem Programm standen unter anderem eine umfassende Polizeireform und die Abschaffung des viel kritisierten munizipalen Gesetzes der zivilen Ordnung (»ordenanza del civisme«), das seit 2005 als Repressionsinstrument gegen alles »Unerwünschte« auf den Straßen gilt. Doch die Hoffnung auf eine Verbesserung der Situation wurde enttäuscht. Seit vergangenem Sommer hat sich ein handfester Konflikt um die illegalisierte Tätigkeit des informellen Straßenhandels entwickelt. Das hat Bürgermeisterin Colau und der BeC und Colau viel politischen Rückhalt gekostet.
Geschickt nutzte die rechte Opposition nach Colaus Amtsantritt im Juni 2015 die Medienaufmerksamkeit auf die wegen der sommerlichen Hochsaison gestiegenen Zahlen der Manteros. Obwohl sich diese nicht wesentlich von vorigen Jahren unterschieden, wurde eine regelrechte Hetzkampagne gegen den Straßenhandel gestartet. Rechte Medien und Handelsvertretungen stärkten einen Diskurs, der die Manteros als Teil krimineller Mafiastrukturen und Colau ihnen gegenüber als nicht handelnd darstellte.
Gleichzeitig wurde der Verkauf gefälschter Produkte im nationalen Strafrecht von einer Ordnungswidrigkeit zur Straftat erhoben und der Straßenhandel somit faktisch (re)kriminalisiert. (2). Als kurz darauf im August ein Mantero bei einer Polizeirazzia im Süden Kataloniens zu Tode stürzte, gründete sich in Barcelona die Solidaritätsinitiative Tras la Manta (hinter der Manta), um gegen die Kriminalisierung des Straßenhandels zu mobilisieren. »Unser Anliegen war es, den Leuten klarzumachen, dass es sich hier um eine politische Entscheidung und nicht um Sicherheitsbedenken handelt. Denn die Guardia Urbana wurde zu dieser Zeit nicht bei Räumungen oder anderen Aktionen eingesetzt, ihr Fokus lag auf den Manteros«, erklärt Áurea von Tras la Manta. (3) Colau allerdings erklärte das »Problem« der Manteros zu einer sozialen und keiner politischen Frage und veranlasste eine Forschung über Zahlen und Lebensverhältnisse der Straßenhändler_innen.
Die Manteros, die sich aufgrund der kontinuierlichen Polizeipräsenz aus der Innenstadt zurückziehen mussten und fortan auf die Hafenpromenade Port Vell beschränkt waren, gründeten im Oktober 2015 ihr eigenes Sprachrohr, die Gewerkschaft Sindicato Popular de Vendedores Ambulantes. »Die Jahre unter Trias (4) haben uns gelehrt, uns zu verteidigen und zu organisieren. Die Gewerkschaft haben wir gegründet, damit es nicht so weitergeht«, sagt Pape Diop, einer der Sprecher. »Wir wollen den Leuten zeigen, dass wir keine Kriminelle sind«. (5) Inzwischen sind mehr als 250 Manteros in der Gewerkschaft organisiert. Kollektiv wollen sie ihre Rechte verteidigen und den täglichen Rassismus, die Verfolgung und Misshandlung durch die Polizei aufzeigen.
Damit wehren sie sich auch gegen den von Colau eingesetzten Sicherheitsbeauftragten Amadeu Recasens, der im November 2015 verkündete, man wolle »eine klare Botschaft senden, dass es keine Gebiete in der Stadt gibt, wo sich illegaler Straßenhandel betreiben lässt«. (6) In einer polizeilichen Großaktion wurden die Manteros schließlich auch aus dem Port Vell vertrieben und die Böden fortan nass gespritzt, um das Auslegen der Ware zu verhindern. Die substanzielle Forderung des Sindicato - die Legalisierung bestimmter Zeiten und Orte für den Straßenhandel - wurde somit ignoriert. Stattdessen lud Colau zu einem runden Tisch ein, um mit den Manteros sowie Unterstützergruppen zu verhandeln. Die Manteros folgten der Einladung und diskutierten über die Wintermonate am runden Tisch, während ihr Weihnachtsgeschäft weitgehend verhindert wurde.
Der »soziale Plan« der Stadt
Der Konflikt eskalierte erneut, als im März 2016 das Stadtparlament auf einer Pressekonferenz angebliche Ergebnisse des runden Tisches verkündete, ohne dies mit den anderen beteiligten Gruppen abzusprechen oder diese einzuladen. »Mich hat morgens ein Pressevertreter angerufen und gefragt, was sich Tras la Manta von der Konferenz heute verspräche, und ich fragte: Was für eine Konferenz?« so Áurea. Vertreter_innen der Stadt stellten einen »sozialen Plan« vor, nach dem Manteros mit irregulärem Aufenthaltsstatus in Weiterbildungen oder Arbeitsplätze vermittelt würden, um eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Gesprochen wurde von 80 bis 90 Arbeitsplätzen bei etwa 400 Manteros in der Stadt. Weiterhin wurde jedoch behauptet, das Sindicato hätte keine konstruktiven Vorschläge eingebracht. Daher wolle man, neben den vorgestellten »Alternativen«, konsequent gegen den Straßenhandel vorgehen. Die Stadt drohte außerdem mit Polizeieinsätzen gegen die von Tras la Manta regelmäßig veranstalteten »mercadillo rebelde«, Kundgebungen die gleichzeitig ein Schutzschild für den Straßenhandel bilden. Als am Samstag nach der Pressekonferenz zu einem weiteren mercadillo rebelde eingeladen wurde, versammelten sich Hunderte auf den Ramblas im Zentrum von Barcelona in Solidarität mit den Manteros und hielten Schilder mit der Aufschrift »Sobrevivir no es un delito« (Überleben ist keine Straftat), dem Leitspruch der Bewegung.
Die Fronten zwischen Straßenhändler_innen und Stadtparlament haben sich verhärtet. Gegen Aziz, den öffentlich bekanntesten Sprecher des Sindicato, läuft ein Strafverfahren, und die Metro-Eingänge werden von den Manteros wegen Polizeikontrollen gemieden. Von den versprochenen Arbeitsplätzen der Stadt sind gerade einmal zehn Personen in ein unbezahltes Praktikum vermittelt worden.
Über die Arbeit des Sindicato hat sich der Kampf der Straßenhändler_innen, der seit Jahren außerhalb der Wahrnehmung der Öffentlichkeit stattfand, zum Stadtgespräch gewandelt. Die Bewegung der Manteros zeigt Kontinuität, immer wieder gibt es Demonstrationen. Sie haben Kontakt zu linken Gruppen aufgebaut und organisieren sich zusammen gegen Abschiebegefängnisse und Illegalisierung. Ada Colau allerdings hat seit ihrem Amtsantritt nicht nur das Vertrauen der Straßenhändler_innen, sondern auch das vieler Anhänger_innen der sozialen Bewegungen in der Stadt verloren. Diese werfen der Regierung von BeC institutionellen Rassismus vor und machen deutlich: Dem Straßenhandel ist nicht mit sozialen Arbeitsprogrammen zu begegnen, sondern mit einer Entkriminalisierung der Verhältnisse im öffentlichen Raum.
Naemi Gerloff ist Masterstudentin der Friedens- und Konfliktforschung und beschäftigt sich mit Straßenhandel und Illegalisierung im städtischen Raum.
Anmerkungen:
1) Aziz Faye, Sindicato Popular de Vendedores Ambulantes. In: La Directa. Un manter a la presó a petició de la Guàrdia Urbana i la fiscalia, 20.5.2016.
2) Von 2006 bis 2009 saßen insgesamt 540 Manteros wegen Vergehen an intellektuellen Eigentum in spanischen Gefängnissen. Im Jahre 2010 wurde nach jahrelangen Protesten und Kampagnen zur Dekriminalisierung des Straßenhandels eine Gesetzesänderung erwirkt, welche diesen nur noch als Ordnungswidrigkeit einstufte.
3) Áurea, Initiative Tras la Manta, Interview 23.5.2016.
4) Xavier Trias (Partei Convergència i Unió), Bürgermeister Barcelonas von 2011 bis2015.
5) Pape Diop, Sindicato popular de Vendedores Ambulantes, Interview 18.5.2016.
6) Amadeu Recasens. In: El Diario. Nueva ofensiva policial contra los vendedores ambulantes en Barcelona, 9.11.2015.