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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 617 / 21.6.2016

Aufgeblättert

Datensparsamkeit

Ein zweites Heft des Capulcu-Kollektivs (das türkische Wort capulcu bedeutet Wegelagerer oder Nichtsnutz) befasst sich mit Datensicherheit und gibt Hinweise, wie wir uns der totalen Überwachung im digitalen Zeitalter entziehen können. Im ersten Band war die Technologie zur sicheren Computernutzung Tails vorgestellt worden. Nun werden Facetten einer neuen Welle des »technologischen Angriffs« nachgezeichnet. Ins Zentrum rückt die Information als wichtigstes Gut der digitalen Gesellschaft. Facebook, Amazon, Google und Co. haben sich mit ihren Anwendungen und Diensten Werkzeuge geschaffen, und die Nutzer_innen machen mit - die Freiwilligkeit beschert den Konzernen gigantische Gewinne. Deshalb müsse man »jetzt aus der Zukunft ausbrechen«. Ein Gegenangriff auf die Praxis und die Ideologie der totalen Erfassung sei zwingend notwendig. Da ein Umgang mit den Datenkraken ohne negative Auswirkungen nicht möglich sei, plädiert Capulcu für eine radikale Verweigerung: »Was praktisch erscheint, abschalten, wegwerfen, zerstören.« Noch sei ein Leben »ohne Google, Facebook und Apple vorstellbar, wenn auch für viele nicht erstrebenswert«. Das Kollektiv gibt praktische Tipps, insbesondere zur Verschlüsselung von Computern sowie von Mails oder beim Surfen im Internet. Favorisiert wird Datensparsamkeit. Von Smartsphones rät das Capulcu-Kollektiv grundsätzlich ab, weil die Geräte zumeist durchgehend Signale via WLAN, Bluetooth oder GPS senden.

Florian Osuch

Disconnect! Hefte zur Förderung des Widerstands gegen den digitalen Zugriff. Band II, 2015. 60 Seiten, kostenloser Download als PDF: capulcu.blackblogs.org.

Schwedischer Bahö

Der Wiener Verlag bahoe books (Bahö ist Wienerisch für Tumult, Wirbel, Aufsehen) hat in den letzten Jahren einige linksradikale Schmankerl neu aufgelegt, von Louise Michels »Aneignung« bis zu Nanni Balestrinis »Carbonia«. Mit Zaschia Bouzarris Buch präsentiert er eine kurze und spannende Analyse der Aufstände in den schwedischen Vorstädten, die zwischen 2009 und 2013 das Land erschütterten. Die Autorin zeichnet zunächst präzise die Veränderung der Zusammensetzung der schwedischen Arbeiterklasse, das Ende des Wohlfahrtsstaates sowie die Rolle der Migration(spolitik) dabei nach. Geschult an den Theorien der französischen Gruppe Théorie Communiste führt dies mitunter zu einer etwas kategorischen Herangehensweise an gesellschaftliche Prozesse, dennoch gerät der Text nie in Gefahr, dogmatisch zu werden. Die Autorin weist die weit verbreitete Kritik an den Riots als »unpolitisch« mit Recht zurück. Vielmehr versucht sie aus der Dialektik zwischen organisierten Aktivist_innen - etwa der Gruppierungen Megafonen oder Pantrarna - und den spontanen Ausschreitungen mögliche Auswege aus dem rassistischen Kapitalismus aufzuzeigen. Eric Hobsbawm schrieb einst über den Aktivismus der frühkapitalistischen Maschinenstürmer_innen, dass es sich dabei um frühe Formen von »Kollektivvertragsverhandlungen mittels Ausschreitungen« handelte. Diese Tradition greift Zaschia Bouzarri in ihrem Text wieder auf und aktualisiert sie für eine Zeit nach der Arbeiterbewegung. Gut so!

Martin Birkner

Zaschia Bouzarri: Die schwedischen Ausschreitungen. Brandstiftungen mit Folgen. bahoe books, Wien 2016. 85 Seiten, 7,80 EUR.

Familienroman

Der Roman »In anderen Herzen« des indisch-britischen Autors Neel Mukherjee spielt in Westbengalen, Indien, Ende der 1960er Jahre. Die Familie Gosh besitzt mehrere Papierfabriken, bewohnt ein recht komfortables dreistöckiges Haus und ist in der Nachbarschaft angesehen. In diesem Haus leben mehrere Generationen der Familie Gosh und ihre Bediensteten zusammen. Die Hierarchien sind starr und die Konflikte heftig: Kann Sona, das Mathe-Wunderkind, den repressiven Konventionen entkommen? Gelingt es, die durch einen Bachelor-Abschluss nun als Ehefrau überqualifizierte Chhaya doch noch zu verheiraten? Wie bekommt man die streikenden Arbeiter in der Papierfabrik unter Kontrolle? Die Familie droht auseinanderzubrechen, als herauskommt, dass sich Supratik, eigentlich Student in Kalkutta, kommunistischen Guerillas angeschlossen hat. In eingeschobenen Passagen aus dem Tagebuch Supratiks berichtet dieser schonungslos vom Leben im Untergrund. Mukherjee beschränkt die Handlung auf die Jahre 1967 bis 1970. Weniger beschränkt hat er sich jedoch beim Casting: Konfrontiert mit einer Vielzahl an detailreich geschilderten Charakteren und ihren Geschichten, von der Dienerin bis zur Matriarchin, fragt sich die Leser_in manchmal, wer hier nochmal wer war. Das Nachschlagen im beigefügten Familienstammbaum und Glossar ist unverzichtbar. Belohnt wird die Leser_in dafür mit einem vielschichtigen Einblick in die indische Gesellschaft in einer Zeit des Umbruchs.

Markus Berg

Neel Mukherjee: In anderen Herzen. Verlag Antje Kunstmann, München 2016. 640 Seiten, 26 EUR.

Verstörungsgenerator

Sascha Machts Debütroman »Der Krieg im Garten des Königs der Toten« ist ein ungewöhnlicher und origineller Beitrag zur deutschen Gegenwartsliteratur. Erzählt wird die Geschichte von Bruno Hidalgo, dessen Hippie-Eltern sich einen Tag vor seinem 17. Geburtstag aus dem Staub gemacht und den Jugendlichen nicht nur seinem Faible für miese Horrorstreifen, sondern auch den revolutionären Umbrüchen in seiner Heimat überlassen haben. Bruno wohnt auf einer Aussteigerinsel »an einem vergessenen Ende der Welt«, die in den 1940er Jahren durch Erdbeben infolge von Atomwaffentests des US- Militärs entstanden ist. Erschütternd, verstörend und, ja, auch ein bisschen verstrahlt geht es auch im Roman zu. Denn auf seiner Reise zu den Republikanischen Filmfestspielen der Insel begegnet Bruno nicht nur allerlei merkwürdigen Gestalten, er verstrickt sich auch immer mehr in seine überhitzten Horrorfantasien. Erwachsenwerden als anarchistisches Chaos, Coming of age als Horrortrip, Jugend als einsames Partisanentum - so kann man den Roman durchaus lesen. Dabei besticht Machts Roman weniger durch ausgeklügelte Figurenpsychologien oder einen stringenten roten Faden als vielmehr durch die düsteren, fantastischen Bilder, die er auf der inneren Leinwand der Leser_innen entstehen lässt. Story, Figuren, Setting: »Der Krieg im Garten des Königs der Toten« liest sich wie die Ausgeburt eines schrillen Fiebertraums, bei dem Absurdität zum Programm und Prosa zum Verstörungsgenerator wird.

Stephanie Bremerich

Sascha Macht: Der Krieg im Garten des Königs der Toten. DuMont Buchverlag, Köln 2016, 272 Seiten, 19,99 EUR.