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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 617 / 21.6.2016

Bestens integriert

Integrat-O-Mat Rechte Tendenzen unter Russlanddeutschen lassen sich nicht mit »Fremdheit« erklären

Von Jannis Panagiotidis

Anfang dieses Jahres sorgte die an Widersprüchen nicht eben arme deutsche Migrationsgesellschaft für eine Konfrontation, die von vielen Kommentator_innen auf den ersten Blick als besonders eigenartig empfunden wurde: »Migranten« demonstrierten gegen »Migranten«. Als Reaktion auf die angebliche Vergewaltigung eines russlanddeutschen Mädchens durch wahlweise »Ausländer«, »Araber« oder »Flüchtlinge« in Berlin gingen Ende Januar bundesweit an zwei aufeinanderfolgenden Wochenenden Tausende russlanddeutsche Spätaussiedler_innen gegen »Ausländergewalt« auf die Straße. Dass die Demonstrierenden zum Teil auf Russisch den »Erhalt deutscher Kultur« einforderten, sorgte beim bundesdeutschen Publikum für besondere Irritation.

Auf den zweiten Blick waren »die Russlanddeutschen« aber vielleicht prädestiniert für eine solche paradoxe Konstellation. Denn ihre Position in der deutschen Migrationsgesellschaft und -debatte ist durchaus ambivalent. So würden es nicht wenige von ihnen ablehnen, als »Migranten« gesehen zu werden.Im bundesdeutschen Diskurs werden »Migranten« und »Deutsche« nach wie vor meist als Gegensatzpaar gedacht. Da Russlanddeutsche ihrem Selbstverständnis nach Deutsche sind und anders als andere Zuwanderer_innen auch vom Staat so gesehen werden, können sie demnach keine Migrant_innen (lies: »Ausländer«) sein.

Trotz ihrer offiziellen Behandlung als Deutsche ordnete die deutsche Gesellschaft die russlanddeutschen Spätaussiedler_innen seit Beginn ihrer verstärkten Zuwanderung in den späten 1980er Jahren der Gruppe der »Anderen« zu. Wie der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer in seinen Studien zur »Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit« (GMF) schreibt, liefen »die Russlanddeutschen« in den 1990er Jahren zeitweise »den Türken« als Hauptobjekt der Fremdenfeindlichkeit den Rang ab.

Das »ethnische Privileg« der Aussiedler_innen sorgte wohl auch dafür, dass die deutsche Linke auf Distanz blieb. Die Aufnahme russlanddeutscher Migrant_innen durch die Bundesrepublik wurde als Fortsetzung deutschen Blutdenkens in Staatsbürgerschaftsfragen interpretiert und abgelehnt. Dass es in den entsprechenden Gesetzen vor allem um eine konkrete Verfolgungsgeschichte ging, wurde und wird dabei getrost ignoriert. Der Umstand, dass russlanddeutsche Wähler_innen aus Dankbarkeit für ihre Aufnahme in Deutschland überwiegend CDU wählten, machte es aus linker Sicht nicht besser.

Seit den Demonstrationen rund um den »Fall Lisa« steht für manche Beobachter_innen fest, dass wir es bei den Russlanddeutschen mit einer russischsprachigen »Parallelgesellschaft« zu tun haben, den russischen Staatsmedien ausgeliefert, eine »Fünfte Kolonne Putins«. Als Beweis hierfür musste der Umstand herhalten, dass die Demonstrationen durch einen Bericht des russischen Fernsehens über Lisas angebliche Vergewaltigung ausgelöst wurden und die Dementis der Berliner Polizei kein Gehör fanden. Offensichtlich, so folgerte mancher Kommentator messerscharf, seien die Demonstrierenden »schlecht integriert«.

Die »Fünfte Kolonne Putins«

Wenig Beachtung fand die Tatsache, dass in Folge der Kölner Silvesternacht vor allem deutsche Medien die Glaubwürdigkeit der hiesigen Sicherheitsorgane massiv in Frage gestellt hatten. Auch wurde übergangen, dass sich die Demonstrant_innen nicht als Russ_innen, sondern explizit als »Deutsche« identifizierten und sich durch ihre ausländerfeindliche Haltung ganz klar als Inländer_innen positionierten. Stattdessen wurde in der Hintergrundberichterstattung aus bekannten russlanddeutschen »Ghettos« wie Lahr im Schwarzwald ihr vermeintliches Anderssein betont - sei es in Bezug auf das dort im Imbiss angebotene »Schaschlik mit Brot, Zwiebel und Essiggurke«, welches ein FAZ-Reporter zielsicher als eine »nicht gerade badische Spezialität« identifizierte, sei es, als deutsche Journalist_innen auf die Fremdartigkeit kyrillischer Schriftzeichen in russisch-deutschen Supermärkten hinwiesen.

Neben der automatisch unterstellten Nähe russischsprachiger Demonstrant_innen zu Russlands Präsident Wladimir Putin steht seit dem »Fall Lisa« zudem der Verdacht im öffentlichen Raum, dass wir es bei den Russlanddeutschen quasi mit einer natürlichen Klientel der Alternative für Deutschland (AfD) zu tun hätten. Zuallererst scheint es die AfD selbst zu sein, die diese Ansicht vertritt, wie sich schon 2014 an der russischen Übersetzung ihres Brandenburger Parteiprogramms zeigte. Die Landtagswahlen in Baden-Württemberg im März dieses Jahres, bei denen die AfD in Stadtteilen mit hohem Spätaussiedleranteil besonders gute Ergebnisse erzielte - etwa in Pforzheim, Lahr, Wertheim und Mannheim - schienen den Befund zu bestätigen. Sind die Russlanddeutschen »besonders rechts«?

Spätaussiedler_innen als typische AfD-Wähler_innen

Ein isolierter - und damit fast zwangsläufig ethnisierter - Blick auf »die Russlanddeutschen« und ihre vermeintlichen Besonderheiten hilft hier nicht weiter. Da sich AfD-Ergebnisse von zwölf bis 25 Prozent bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt offensichtlich nicht alleine mit dem »Faktor Russlanddeutsche« erklären lassen, muss eine sinnvolle Analyse dieser Frage beim allgemeineren sozialen und politischen Profil der AfD-Wähler_innen ansetzen. In Baden-Württemberg zeigten Untersuchungen beispielsweise, dass die Partei vor allem bei Arbeiter_innen und Arbeitslosen besonders gut abschnitt. Analysen zur Wählerwanderung verdeutlichten außerdem, dass die Partei ihre Wähler_innen vornehmlich aus den Gruppen der Nicht-Wähler_innen, CDU-Wähler_innen und den Wähler_innen von Kleinparteien rekrutierte. Als Hauptmotivation der Wähler_innen machten Umfragen Enttäuschung, Protest und Verunsicherung aus.

Das durch die Forschung herausgearbeitete Sozialprofil der Russlanddeutschen beziehungsweise der Spätaussiedler_innen entspricht diesem Muster des »typischen AfD-Wählers« in hohem Maße. Der Anteil der Arbeiter_innen unter ihnen liegt laut der repräsentativen Befragung Mikrozensus aus dem Jahr 2011 bei fast der Hälfte der Erwerbstätigen und ist damit etwa doppelt so hoch wie unter der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Zugleich sind Spätaussiedler_innen im Vergleich zu den »Einheimischen« noch immer überdurchschnittlich oft von Arbeitslosigkeit betroffen. Insbesondere diejenigen, die in den 1990er oder in den 2000er Jahren nach Deutschland migrierten, sind heute oft prekär. Ihnen wurden Sprachkurse und Eingliederungsleistungen gekürzt und im Ausland gearbeitete Rentenjahre nicht mehr voll angerechnet. Das gleiche gilt für durch das Bildungsraster gefallene junge Spätaussiedler_innen. Die traditionelle - wenn auch zuletzt rückläufige - Nähe zur CDU und die allgemeine Positionierung im konservativen Bereich des politischen Spektrums kommen als verstärkende Faktoren hinzu. So ergibt sich ein Profil, das einen überdurchschnittlichen Zuspruch russlanddeutscher Wähler_innen zur AfD wahrscheinlich werden lässt.

Dieser Befund zeigt aber eben auch, dass die Neigung russlanddeutscher Wähler_innen zur AfD primär sozial und nicht gleichsam ethno-kulturell bedingt ist. Anders gesagt: Russlanddeutsche wählen AfD als oft prekär Beschäftigte, von Erwerbslosigkeit bedrohte oder betroffene Menschen mit konservativen politischen Einstellungen - und nicht »als Russlanddeutsche«.

Reaktionär sind immer die anderen

Es wäre wünschenswert, dass es gelingt, bei der Analyse des Phänomens AfD ethnisierenden Erklärungsansätzen zu widerstehen. Wie beim »Fall Lisa« ergeben sich solche Ansätze nicht zuletzt aus der Tendenz, Probleme zu externalisieren: So wie manche den Rechtspopulismus in Deutschland und Europa für einen russischen Import halten, so werden in einem scheinbar logischen Schritt »die Russen« im Land als dessen primäre Anhänger_innen ausgemacht. Das ist bequem und sorgt dafür, dass sich die Mehrheitsgesellschaft in ihrer vermeintlichen Aufgeklärtheit gut fühlen kann. Es geht aber am eigentlichen Problem vorbei.

Und das Problem besteht darin, dass nach Jahren der »alternativlosen« Politik eine Partei offensichtlich allein schon deshalb massiven Wählerzuspruch erhält, weil sie sich »Alternative« nennt. Worin diese Alternative besteht, scheint dabei zunächst zweitrangig - anders als etwa Donald Trump in den USA verspricht die AfD ihrer sozial prekären Klientel ja nicht einmal die scheinbare Sicherheit eines nationalen Protektionismus. Das Eigentümliche ist außerdem, dass sich viele Wähler_innen an der »Alternativlosigkeit« offensichtlich erst beim Thema der Migration von Flüchtlingen stören, also genau dort, wo die humanitär und nicht zuletzt völkerrechtlich vertretbaren Alternativen tatsächlich sehr begrenzt sind - auch wenn Europa nun wieder verstärkt auf sie zurückgreift, in Form von Zäunen, »Flüchtlingsdeals« und erneut steigenden Opferzahlen im Mittelmeer.

Jannis Panagiotidis ist Historiker und Juniorprofessor für die Migration und Integration der Russlanddeutschen an der Universität Osnabrück.

Der »Fall Lisa«

Am 11. Januar 2016 verschwand die 13-jährige Russlanddeutsche Lisa F. aus Berlin-Marzahn auf dem Weg zur Schule, die Eltern meldeten sie als vermisst. Am folgenden Tag tauchte sie wieder auf. Das Mädchen berichtete zunächst, dass sie von drei Unbekannten verschleppt, in einer Wohnung festgehalten und vergewaltigt worden sei. Bei den angeblichen Entführern handle es sich um »Südländer«. Bei weiteren Vernehmungen durch die Polizei rückte das Opfer von seiner ersten Version ab und schilderte insgesamt vier verschiedene Versionen zu ihrem Verschwinden. Anhand der Handydaten rekonstruierte die Polizei schließlich, dass sich Lisa in der fraglichen Nacht bei ihrem 19-jährigen Freund aufgehalten hatte. Der russische Außenminister Sergej Lawrow warf den deutschen Behörden vor, die Vergewaltigung durch Migranten bewusst vertuschen zu wollen. Am 18. Januar abends demonstrierten etwa 250 Menschen in Berlin-Marzahn. Am 23. Januar 2016 kam es zu einer Demonstration von rund 700 Russlanddeutschen vor dem Berliner Kanzleramt. Am 24. Januar 2016 demonstrierten außerdem mehrere Hundert Russlanddeutsche in verschiedenen Städten Bayerns und Baden-Württembergs.