Der Mensch als grenzenlos verwertbare Ressource
Wirtschaft & Soziales Der Widerstand gegen das Prinzip und die Vision Amazon muss weitergehen
Stell dir vor, europaweit finden Streiks in den großen Distributionszentren von Amazon statt. Die Zufahrtswege werden blockiert, LKWs kommen weder auf das Gelände noch können sie dieses wieder verlassen. Auf einem Banner steht: »Wir sind keine Roboter!« Solidarische Kund_innen verstärken die Auswirkungen der Streiks noch dadurch, dass sie an diesen Tagen vermehrt Bestellungen ab- und wieder zurückschicken und den Paketen solidarische Botschaften an die Belegschaft beilegen. Das verursacht nicht nur ein Bestellvolumen, das nicht bewältigt werden kann, sondern auch Kosten, die Amazon tragen muss.
Von der AG Amazon Attack
Kundgebungen vor der Unternehmenszentrale verweisen auf Unmut, weitere finden vor den Call-Centern von Amazon und neuen kleineren Versandlagern in den Innenstädten von Berlin, München oder Dortmund statt. Sie treffen das Unternehmen sensibel: mit schlechter Publicity und weil die Abläufe gestört werden, die auf Reibungslosigkeit »auf den letzten Metern« der Zustellung setzen.
Der Deutschland-Chef Ralf Kleber wird beim öffentlichen Auftritt getortet, die Homepage von Amazon gehackt, und für einen Moment kann das Unternehmen keine Informationen über seine Kund_innen speichern. Buchläden haben in ihren Schaufenstern Plakate gegen die Tyrannei von Amazon, und im Einzel- und Versandhandel stehen Beschäftigte solidarisch für die Verbesserung von deren Arbeitsbedingungen ein. Menschen tragen Buttons mit dem Spruch »support your local dealer«.
Die vielfältigen Proteste richten sich gegen ein Unternehmen, das weit mehr ist als ein Onlinehändler. Amazon ist auch ein äußerst erfolgreicher digitaler Dienstleister: Das Geschäft mit der Vermietung von Rechenkapazität und Festplattenspeicher (in der Cloud) sowie das Bereitstellen von Software für Web Services wächst derzeit noch schneller als der »klassische« Onlinehandel. Darüber hinaus ist Amazon ein äußerst aktiver Film- und Serienproduzent und Herausgeber der Washington Post. Auch als Logistiker ist das Unternehmen mit eigenen Fahrzeugen, regional orientierten Verteilzentren, in den USA neuerdings auch mit geleasten Flugzeugen und weiteren ambitionierten Plänen auf den Plan getreten, eine eigene weltumfassende Logistik aufzubauen. Das ist der Grund dafür, dass die Uni Global Union und nationale Gewerkschaften branchen- und länderübergreifend aktiv werden.
Nach außen erdrückt Amazon Marktkonkurrenten nach dem Prinzip der »tödlichen Umarmung« und schluckt diese mit hohen Investitionen, wie zum Beispiel am Kauf des ZVAB (Zentrales Verzeichnis Antiquarischer Bücher) deutlich wird oder aber der Schuhverkaufsplattform Zappos. Eine weitere Strategie ist das ständige Erschließen neuer Tätigkeitsfelder, die nicht unbedingt ertragreich und erfolgreich sein müssen - siehe Smartphones oder Versteigerungsplattform -, die dem Unternehmen jedoch Zugang zu den verschiedensten Branchen verschafft. Um als nächsten Schritt den Markt schnell einzunehmen, wird sehr schnell sehr viel Geld in die Hand genommen: Das Lesegerät kostet deutlich weniger als bei der Konkurrenz, Rücksendungen (Retouren) werden vom Unternehmen gezahlt, eigene Produkte subventioniert.
Die Strategie der hohen Investitionen und des globalen Verschiebens von Gewinnen führt nicht nur zu einem ständigen Wachstum, sondern spart Steuern, da das Unternehmen unter dem Strich seit Jahren rote Zahlen schreibt, während Amazon-Chef Jeff Bezos laut dem Wirtschaftsmagazin Bloomberg seit Oktober 2015 zu den zehn reichsten Männern der Welt zählt. Bezos hat mit Amazon den Einzelhandel mit seiner »disruptiven« (kreativ zerstörerischen) Strategie weltweit revolutioniert und wird dafür in der IT-Branche als großer Innovator und Visionär gefeiert.
Gnadenlos flexibel - und vom Staat gefördert
Nach innen steht das Unternehmen für Ausbeutung und schlechte bis skandalöse Arbeitsbedingungen der weltweit 230.800 Mitarbeiter_innen, die einen Teil des Erfolgs ausmachen. Auf dem Weltkongress des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB) wurde Bezos 2014 zum »schlimmsten Chef des Planeten« gewählt. In den USA, Großbritannien und Deutschland, Frankreich, Polen oder Spanien regt sich jedoch Widerstand, und es kam in den letzten Jahren zu Arbeitskämpfen. (1)
Die skandalösen Arbeitsbedingungen konkretisieren sich in vielem, zum Beispiel in der Kurzzeitausbeutung durch Befristungen, Saisonarbeit, Leiharbeit und Praktika. Das Einstellen von Saisonarbeitskräften bei Amazon hat System. Zur Weihnachtszeit verdoppelt sich allein in Deutschland die Zahl der ansonsten etwa 10.000 Amazon-Arbeiter_innen. Unter den Saisonarbeiter_innen finden sich dabei Personen aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen: Student_innen, Empfänger_innen von ALG II und gut ausgebildete Personen, die sich alle Hoffnungen auf einen (Wieder-)Einstieg ins Arbeitsleben machen. Aus »strukturschwachen« Regionen finden viele in den Distributionszentren, die einen riesigen Bedarf an angelernten Arbeiter_innen haben, einen befristeten Arbeitsplatz.
In den ersten drei Monaten können die Beschäftigten von heute auf morgen ohne Angabe von Gründen entlassen werden. In der darauf folgenden sechsmonatigen Probezeit kann ihnen innerhalb von 14 Tagen gekündigt werden. Entlassungen erfolgen häufig gruppenweise. Amazon feuert Arbeiter_innen oftmals nach den ersten drei Monaten, um sie danach »neu« einzustellen. Dafür nutzt das Unternehmen gezielt rechtliche Schlupflöcher im Teilzeit- und Befristungsgesetz. Vorarbeiter_innen wurden angewiesen, den Arbeiter_innen widerrechtlich kein Urlaubsgeld auszuzahlen und zu pokern, dass diese ihre Rechte nicht kennen. Im Amazon-Sprech werden die Mitarbeiter_innen, deren Vertrag nicht verlängert wird, menschenverachtend »Ramp Down« genannt. Der Begriff entstammt der US-amerikanischen Viehzüchtersprache und steht für »die Rampe runter schicken«.
In Deutschland sorgte Anfang 2013 eine ARD-Dokumentation für einen Skandal, in der die systematische Ausbeutung von Wanderarbeiter_innen aus Süd- und Ost-Europa gezeigt wurde. (2) Der Großteil der Leiharbeiter_innen wurde nach exakt drei Monaten hier, fern der Heimat, wieder auf die Straße gesetzt. Als wäre das nicht genug, wurden auch neofaschistische Sicherheitskräfte eingesetzt, um sie in den Unterkünften zu überwachen.
Der systematische Einsatz von befristeten Beschäftigten, Leiharbeiter_innen und Saisonarbeitskräften für das Weihnachtsgeschäft dauert bis heute an, wenn auch Saisonarbeitskräfte zumindest in Deutschland mittlerweile direkt eingestellt werden und aufgrund des öffentlichen Drucks auf Leiharbeit an den deutschen Standorten verzichtet wird. Anders ist das in den Distributionszentren in Polen, die erst 2014 eröffnet wurden und ausschließlich den deutschen Markt bedienen. Hier verdienen Beschäftigte rund drei Euro pro Stunde in täglichen Zehn-Stunden-Schichten. Sie werden fast ausschließlich über Zeitarbeitsfirmen eingestellt, um den lokalen Arbeitnehmerschutz gezielt zu schwächen.
Im November 2011 wurde publik, dass Amazon ausgiebig von einer schamlosen Kooperation mit deutschen Jobcentern profitiert. Zur »Aktivierung und beruflichen Wiedereingliederung« stellte Amazon in Nordrhein-Westfalen für die Distributionszentren Werne und Rheinberg Hunderte von so genannten Praktikant_innen ein, ebenfalls vornehmlich im letzten Quartal des Jahres. Gefördert wurde die nette Bescherung für Amazon von der Bundesagentur für Arbeit, die damit den »Drehtüreffekt« - eingestellt und bald wieder entlassen werden - staatlich finanzierte. Nach Jahren des Hire and Fire hat Amazon an nahezu allen deutschen Standorten Schwierigkeiten, Arbeitskräfte zu finden, so dass Menschen aus immer weiter entfernt liegenden Orten geholt werden.
Auf der Suche nach günstigen Arbeitskräften reagiert das Unternehmen schnell auf gesellschaftliche Debatten. Schon mit der neuen, erzwungenen Migration nach der Finanzkrise 2008 warb es gezielt mit »migrantischen Gesichtern« und auf Englisch für die Jobs. Seit mehreren Jahren werden in Deutschland Teams gebildet, die die neuen Arbeiter_innen auf Englisch anlernen. Als sich andeutete, Geflüchtete würden vom Mindestlohn ausgenommen oder ihre Einstellung durch Jobcenter querfinanziert, gab das Unternehmen bekannt, es würde Geflüchtete einstellen und arabischsprachige Teams bilden. Nachdem aber Ausnahme und Zuschüsse ausblieben, wurde es still um diesen Vorstoß.
Überwachung, Stress und Sicherheitschecks
Wie Amazon in seinen Distributionszentren durch Überwachung und Schikane besonders effizient die Menschen auspresst, lohnt eine genauere Betrachtung. Ein Bericht des britischen Fernsehkanals Channel 4 deckte 2013 auf, unter welchen unmenschlichen Arbeitsbedingungen die britischen Amazon-Angestellten arbeiten müssen. Die Bewegungen der Mitarbeiter_innen werden mit GPS-Sendern überwacht, die sie in den Handscannern mit sich tragen. Dabei nutzt das Unternehmen eine legale Grauzone, die zwar nicht die direkte Überwachung der Menschen selbst, jedoch die der Warenbewegungen gestattet. Bei Regelverstößen oder Leistungsabfall kommt es zügig zu Einzelgesprächen, in denen Vorgesetzte die Beschäftigten mit ihren Leistungen konfrontieren und unter Druck setzen, besser zu »performen«. Dies führt insbesondere bei Befristeten mit Hoffnungen auf eine Entfristung zu enormem Arbeitsdruck.
Ein Bericht der New York Times im August 2015 nannte weitere Details: Demnach werden Amazon-Mitarbeiter_innen systematisch überwacht, dadurch zueinander in Konkurrenz gesetzt, was eine denunziatorische Stimmung schafft. Mitunter reichen 100 Prozent Leistungen nicht mehr, wenn doch die persönliche Statistik zeigt, dass es auch schon mehr gewesen sind. Was mathematisch unmöglich ist, stellt das dynamische Prinzip kontinuierlicher Arbeitsverdichtung in Konkurrenz dar: Jede_r soll über dem Durchschnitt liegen.
Dies bedeutet die Umkehr des klassischen Mensch-Maschine-Verhältnisses mit der Folge einer zusätzlich gesteigerten Entfremdung: Nicht die Menschen sagen den Maschinen, was diese zu tun haben, sondern Maschinen errechnen optimale Laufrouten und bringen die Menschen damit auf Linie. Neben den drohenden Feedbackgesprächen mit Vorgesetzten wirken diese Regeln und Normen unsichtbar und effektiv durch den allgegenwärtigen Zwang zur Selbstoptimierung.
Die Zeiten für Toilettengänge und andere Pausen werden akribisch gezählt, um sicherzustellen, dass die Arbeiter_innen die Pausenzeit von 30 Minuten nicht überschreiten. Um während der Mittagspause zur Kantine zu gelangen, müssen die Mitarbeiter_innen in einem Logistikzentrum im englischen Rugeley zunächst das gesamte Lagerhaus durchlaufen - eine Entfernung entsprechend der Länge von neun Fußballfeldern. Bevor die Pause beginnt, müssen sie noch durch Sicherheitsschleusen, mit denen kontrolliert wird, dass sie auch nichts mitgehen lassen. Zum Essen oder gar zu Gesprächen bleibt praktisch keine Zeit mehr - und das, obwohl die Arbeit körperlich sehr anspruchsvoll ist. 2014 entschied ein US-Gericht, dass das Warten auf die Sicherheitschecks nicht zur Arbeitszeit zählt und deswegen nicht vom Unternehmen vergütet werden muss. Das hat mit dem gesetzlichen Anspruch auf eine Pause, in der man regeneriert, nichts mehr zu tun.
Alle Mitarbeiter_innen stehen unter permanentem Verdacht, zu klauen oder sich der gebotenen Effizienzsteigerung zu verweigern. Private Handys müssen beim Betreten des Hallenkomplexes registriert werden. Alle Arbeitsbereiche sind kameraüberwacht - zusätzlich zum GPS-Tracking der Mitarbeiter_innen. Das Sicherheitspersonal hat das Recht, jederzeit Durchsuchungen und Kontrollen durchzuführen - nicht nur an den Ein- und Ausgängen, sondern überall. Kürzlich deckte das Wirtschaftsmagazin Bloomberg auf, dass in den USA Videos gezeigt werden, die Arbeiter_innen bei einem Diebstahl zeigen, der dann der Grund ihrer Entlassung war. Dass viele Missstände bei Amazon erst spät oder gar nicht öffentlich werden, liegt an einer Verschwiegenheitsklausel, die es allen Mitarbeiter_innen untersagt, über ihre Erfahrungen am Arbeitsplatz zu sprechen - auch mit der eigenen Familie.
Amazon macht krank
Amazon-Mitarbeiter_innen sind gezwungen, unter enormem Stress zu arbeiten. Streng hierarchisch geben sogenannte Leads den Arbeitsdruck über Fehlerpunkte an die Picker und Packer ihres Teams weiter. Picker »picken« die bestellte Ware aus den Regalen und legen dabei täglich bis zu 20 Kilometer zurück - der GPS-Tracker misst die Laufleistung über das sekundengenaue Protokoll des Aufenthaltsortes, der Handscanner erfasst alle Arbeitsschritte. Kommt ein Picker in Verzug, löst das System Alarm aus: Sein Lead erhält automatisch eine Nachricht auf seinem Bildschirm. Dann kommt es zum Feedbackgespräch. Alles selbstverständlich »ausschließlich zur Prozessoptimierung«. Packer haben ebenfalls eine klare Mindestquote: Sie müssen jede Stunde 200 Einzelpäckchen oder 100 Multipakete (mit mehreren verschiedenen Versandgegenständen) packen. Diese Schikanen gibt es auch in Deutschland. Kontakte während der Arbeitszeit werden zur Kenntnis genommen und nach Möglichkeit unterbunden. Freundliche Leads werden versetzt. Beschäftigte müssen Teams wechseln, wenn sie einen aus Amazon-Sicht zu engen sozialen Kontakt zueinander aufbauen.
Hohe Krankenstände werden durch die bei ver.di organisierten Kolleg_innen auch immer benannt, zuletzt bei den Osterstreiks in diesem Jahr. Krank machen natürlich nicht nur Überwachung, Leistungsdruck und Stress, sondern auch körperlich belastende und einseitige Arbeit (wie am Fließband). Das Screening aller persönlich zuzuordnenden Abläufe, jeder getätigten und vor allem jeder ausgelassenen Bewegung macht Mitarbeiter_innen nachweisbar krank. Sie klagen über Angstzustände wie Gefangene im »Freigang« mit Fußfesseln. Die permanente Überwachung aller Schritte führt zu Unsicherheit, weil niemand weiß, wozu die Daten genutzt oder wie sie bewertet werden. Denn der Bewertungsschlüssel ist im Rahmen der Prozessoptimierung dynamisch; die Mitarbeiter_innen müssen sich ständig fragen, welches durch die Überwachung beobachtete Verhaltensfragment zukünftig nicht mehr ausreichend (über dem Durchschnitt) sein könnte.
Während Amazon also nicht zimperlich mit der eigenen Belegschaft umgeht, arbeitet es parallel an der weiteren Reduktion menschlicher Arbeit, zumindest im Bereich der internen Logistik und des Verkaufs. Bereits 2012 kaufte Amazon für 775 Millionen US-Dollar die Firma Kiva Systems, die sich auf die Versandbearbeitung mit Robotern spezialisiert hat. Die Roboter können einfache Aufgaben wie die der Picker weitgehend automatisiert ausführen. Ende 2013 hatte Amazon bereits 18.000 solcher Roboter für seine weltweiten Lager im Einsatz. Mit ihrer Hilfe kann ein_e Lagerarbeiter_in bis zu dreimal so viele Bestellungen abfertigen. Mit der Amazon Picking Challenge 2015 lobte Amazon hohe Preisgelder im offenen Forschungswettbewerb für das beste Konzept von Roboter-Hard- und Software zum Heraussuchen der Pakete aus dem Lager aus. Mit einer neu entwickelten Roboterhand gewann ein Forschungsteam der TU Berlin.
Entscheidend für diesen Vorstoß dürfte sein, dass Roboter keine Lohnerhöhungen verlangen und nicht auf die Idee kommen zu streiken. Sie erfüllen die Effizienzanforderungen, solange der Akku reicht, und fügen sich widerstandslos dem ungebrochenen Wachstumsstreben des Unternehmens. Dieser Vorgang vollzieht sich langsam, da er nicht nur mit hohen Kosten zur Umstellung verbunden, sondern aufgrund der besonderen Anforderungen nicht überall realisierbar ist.
Digitale Arbeitsnomad_innen
Niedrigstlöhner_innen, aber auch Fachkräfte im Bereich digitale Dienstleistungen können sich auf Amazons Plattform Mechanical Turk verdingen. Hierbei gibt es keine Branchengrenzen. Unternehmer_innen suchen sich dann die billigsten und talentiertesten »Crowdworker« aus.
Den Startschuss zur Nutzung des Schwarms von »Clickworkern« und digitalen Freelancern gab Amazon schon 2006, als das Unternehmen mit dem Vertrieb von CDs begann. Hunderttausende von CD-Covern mussten auf sexuelle Inhalte überprüft werden, bevor sie in die digitale Verkaufsplattform eingestellt werden konnten. Eine Arbeit, die aufgrund uneindeutig formulierter Kriterien wenig geeignet war, von einem Großrechner bewältigt zu werden. Amazon erfand daraufhin in Anlehnung an dezentral verteilte Rechner in der Cloud die sogenannte Crowd - eine Art »massiv parallelen« menschlichen Rechner. Auf einer digitalen Plattform konnte man sich anmelden, um für ein paar Dollar die Stunde CD-Cover durchzusehen.
Über diese Aufgabe hinaus hat Amazon die Plattform verstetigt und ausgebaut. Amazon stellt dem/der »Arbeitgeber_in« für die Vermittlung der Tätigkeit zehn Prozent des Betrags in Rechnung, der für die Erledigung des Mikro-Jobs bezahlt wird. Was gezahlt wird, bleibt dem/der Arbeitgeber_in selbst überlassen.
Der Status der Mikroarbeiter_innen, die einen solchen Job über Amazon vermittelt annehmen, entspricht dem moderner Tagelöhner_innen. Die Frage nach Arbeitsvertrag und sozialer Absicherung erübrigt sich. Gezahlt wird mit erheblicher Verzögerung nach Erledigung eines Jobs - manchmal aber auch gar nicht. Wie die Kräfteverhältnisse aussehen, verdeutlicht Amazon auf seiner Webseite: »Falls die Arbeitsleistung nicht Ihren Standards entspricht, lehnen Sie die Arbeit einfach ab und bezahlen den Arbeiter nicht.«
Das Prinzip Amazon beeinflusst nicht nur unsere zukünftigen Arbeitsbedingungen, sondern unser gesamtes Leben. Ähnlich wie der Fordismus nicht nur die Arbeit am Fließband in Einzelprozesse zerhackt und unter den Gesichtspunkten der Optimierung neu zusammengesetzt hat, findet wieder eine Arbeitsreorganisation statt, die sich auf die Produktion und Zirkulation bis hin zu einer menschenfeindlichen Neugestaltung von Lebensweisen und des Konsum- und Freizeitverhaltens auswirkt. Amazon will unsere Lebensgewohnheiten in Gänze umstrukturieren. Der Mensch wird zur umfänglich verwert- und stimulierbaren Ressource: Kund_in, Arbeitnehmer_in und Datenspender_in.
Das Prinzip Amazon
Die ökonomische Durchdringung findet durch die vollständige Vernetzung und Auswertung der Daten statt. Ein Beispiel ist der E-Book-Reader von Amazon, der laufend Daten ermittelt über Auswahl der Bücher, Lesetempo, gelesene Seiten, aber auch Leseorte und -positionen. Wollen sich Kund_innen dieser Kontrolle entziehen, verschwinden die gekauften Bücher vom Gerät, und der Amazon-Account wird gekündigt.
Die »smarte« Umgebung, in der zukünftig alle uns umgebenden Geräte vernetzt sein werden, stellt unsere unauflösliche Verbindung zu den Datenzombies sicher. Es gibt kein Leben außerhalb dieses Netzes, so die Vorstellung von Amazon und Co. Amazon belauscht uns zukünftig permanent mit seinem Raumlautsprecher »Echo«. Seit 2014 bietet Amazon dieses selbstentwickelte intelligente Abhörsystem an: Ein mit hochempfindlichen Mikrofonen bestückter Zylinder steht irgendwo zentral in der Wohnung und lauscht ständig in Erwartung des Codeworts »Alexa«, mit dem Assistentin Alexa dann auf Zuruf für uns auf Suche ins Internet geht, online einkauft oder andere Dinge für uns regelt. Die erfolgreichen Vorbilder in Form von Smartphone-Apps sind Apples »Siri« oder Googles »Now«.
Wer Amazons Entwicklung verfolgt, kommt kaum hinterher: Das Unternehmen wächst schnell, aggressiv und in unerwartete Richtungen. Deutlich wird, dass die Vision des »Allesverkäufers« (so der US-amerikanische Journalist Brad Stone) sich nicht nur auf die Umwälzung des Buch- oder Einzel- und Versandhandels bezieht. Amazons Plattform zeigt ähnlich wie die Share-Economy-Protagonisten AirBnB (Übernachtungen) oder Uber (Taxifahrten) die Gesetzmäßigkeit der radikalen Machtkonzentration im Netz: »The winner takes it all.« Der größte Anbieter der Branche macht das Geschäft allein. Hierfür wirkt der Netzwerkeffekt, bei dem ein großes Angebot und eine große Nutzerschaft für eine weiter steigende Attraktivität der Internetplattform sorgen - scheinbar ungebremst, da Dienstleistungen im Netz ohne Zusatzkosten quasi ortsunabhängig organisiert werden können. Ein Phänomen mit dramatischen Konsequenzen für die Arbeitswelt. Im Einzelhandel fallen durch die erdrückende Dominanz von Amazon allein in Deutschland Zehntausende Jobs weg - wahrscheinlich ein Vielfaches der bei Amazon neu geschaffenen Stellen.
Der verdrängende und zerstörende Charakter von Amazons Marktstrategie wird am Beispiel des Buchhandels und des Verlagswesens besonders deutlich. Durch einen erbarmungslosen Preiskampf insbesondere in Ländern ohne Buchpreisbindung und die bequeme und schnelle Zustellung hat Amazon reihenweise Buchhandlungen aus dem Geschäft gekickt. Jetzt beginnt Amazon mit eigenen, in der realen Welt begehbaren Book Stores, den so »bereinigten« Offlinemarkt für Bücher zu erobern.
In der Phase der Koexistenz werden der Konkurrenz zerstörerische Bedingungen für eine gute Platzierung ihrer Angebote auf Amazons Webseite aufgenötigt. Das funktioniert deshalb so problemlos, weil für viele Amazon der Quasi-Standard für ihre Shoppingsuchmaschine ist. Als Verleger bietet Amazon Autor_innen an, ihre Werke zu derzeit günstigen Konditionen im Self-publishing-Verfahren bei Amazon direkt zu verlegen. Ob diese Konditionen bleiben, wenn Amazon auch diesen Markt »gesäubert« hat, darf bezweifelt werden.
Widerstand gegen das Prinzip und die Vision Amazon!
Die Fragen, die wir in diesem Artikel aufgeworfen haben, sind weder neu, noch werden sie von uns als erste gestellt: Seit mittlerweile fast zehn Jahren kämpft ein leider noch zu kleiner Teil der Arbeiter_innen an deutschen Amazon-Standorten darum, nicht als Teil der Maschine angesehen und behandelt zu werden, sondern angemessene Arbeitsbedingungen und Entlohnung zu erhalten. Diese Aktiven organisieren sich mehrheitlich in der Gewerkschaft und vernetzen sich - auch völlig autonom - international mit Kolleg_innen aus Frankreich, Italien, Spanien und Polen. In verschiedenen deutschen Städten wie Kassel, Leipzig und Berlin haben sich zur Unterstützung dieser Kämpfe Solidaritätsbündnisse gebildet, die die Vernetzungsbemühungen unterstützen und zeitgleich zu Streiks Öffentlichkeit herstellen. Im Sommer 2014 unterschrieben 1.500 deutschsprachige Schriftsteller_innen, darunter Juli Zeh, einen Protestbrief an Amazon, in dem sie dem Konzern Erpressung vorwarfen. Gleichzeitig riefen sie die Verlage auf, sich nicht dem Monopolstreben zu unterwerfen. Parallel dazu wurde ein Protestbrief in den USA von 909 Schriftsteller_innen publiziert, den auch der Bestsellerautor Stephen King unterschrieben hat. Clickworker_innen auf Mechanical Turk und Co. haben mittlerweile eigene Plattformen zur Vernetzung und Bewertung von Auftraggeber_innen gegründet.
Wir begrüßen all diese Initiativen und wünschen uns mehr davon. Amazon bietet sich hierfür besonders an. Zugleich ist auch klar, dass es nicht nur um eine Kritik an einem Unternehmen geht. Denn in Zeiten, in denen mit den Hartz-Reformen Deregulierung und Druck auf Arbeitnehmer_innen und Erwerbslose enorm gestiegen sind, in denen seit Jahren der Arbeitsschutz gelockert wird, wo die staatliche und privatwirtschaftliche Überwachung weit fortgeschritten ist, ist Amazon eine Art Prototyp: Es verstärkt ohnehin vorhandene Tendenzen spürbar und präsentiert diese in Reinform.
Jede Innovation von Amazon bringt auch Ansatzpunkte für die Intervention: Stellt euch vor, die streikenden Kolleg_innen erhalten im Vorweihnachtsgeschäft massive Unterstützung von »draußen«. Stellt euch vor, an einem der Amazon-Standorte - jetzt auch in diversen Innenstädten wie München, Berlin und demnächst wohl auch Dortmund - ist für einen Tag lang keine Auslieferung möglich, weil die Zufahrt verstopft ist. Stellt euch vor, das Kaufportal der Amazon-Webseite liegt lahm. Stellt euch vor, es gibt ein kollektiv formuliertes NEIN, das sich dem Prinzip Amazon entgegenstellt - deutlich wahrnehmbar für Amazon-Chef Jeff Bezos und all seine Nachahmer_innen - das wäre eine antikapitalistische (Weihnachts-)Überraschung!
Die AG Amazon Attack beschäftigt sich seit zwei Jahren mit Amazon. Einige haben in dieser Zeit die Streiks ganz praktisch unterstützt, anderen liegt es näher, den Konzern in allen Facetten innerhalb der Radikalen Linken zum Thema zu machen.
Anmerkungen:
1) Jörn Boewe und Johannes Schulten: Der lange Kampf der Amazon-Beschäftigten. Berlin 2015.
2) Diana Löbl und Peter Onneken: Ausgeliefert - Leiharbeit bei Amazon.