Normalzustand: Ausnahme
Aktion Geflüchtete protestieren in Berlin gegen die miserablen Bedingungen
Von Carolin Wiedemann
»In diesen Hallen fühlt man sich lebendig begraben«, sagt Saeed Alhassan. Er ist einer von 40 Menschen, die aus Syrien, dem Irak und Afghanistan geflohen sind, und nun vor dem Internationalen Congresszentrum (ICC) in Berlin-Charlottenburg protestieren: Sie weigern sich, von einer Notunterkunft in die andere verlegt zu werden. »Es ist besser, hier auf der Straße zu schlafen, als in dem Bunker dort«, sagt Alhassan und zeigt auf das ICC, das einige Meter hinter den an Laternenmasten angebrachten Bettlaken des Protestcamps in die Höhe ragt. Die Laken dienen zum Schutz vor der Sonne, die an diesem Tag erneut von einem wolkenlosen Himmel strahlt und das Thermometer auf der betonierten Fläche vor dem Gebäude auf 30 Grad ansteigen lässt. Einer von Alhassans Mitstreitern ist gerade kollabiert. Zwei Männer helfen ihm wieder auf die Beine, flößen ihm Wasser ein. Wie auch andere hier hat er das Essen, das Unterstützer_innen von den Initiativen Moabit hilft und Willkommen im Westend seit Tagen immer wieder vorbeibringen, als Zeichen ihrer Notlage abgelehnt. Seit fast einer Woche sind sie auf der Straße, Zelte sind verboten. »Doch die Polizisten selbst haben uns gezeigt, wie wir die Bettlaken spannen können«, sagt Saeed, »als hätten sie Verständnis, dass wir da nicht rein wollen«. Im ICC gibt es in den Räumen, in die er mit seiner Familie ziehen sollte, keine Fenster; es gibt weder Tageslicht noch frische Luft. Die nächsten Toiletten, die sie sich mit etlichen anderen fremden Menschen teilen müssten, liegen vier Stockwerke weiter unten.
Kämpfe für geltendes Recht
Alhassan ist 29 Jahre alt. Er hat in Beirut englische Literatur studiert. Als seine Eltern und die jüngeren Geschwister vergangenes Jahr aus Alkamishli, ihrer Heimatstadt im Nordosten Syriens, fliehen mussten, brach er aus dem Libanon auf, um gemeinsam mit ihnen nach Deutschland zu gelangen. In Berlin wurden sie zunächst in einem Sportzentrum untergebracht, wo über 1.000 Menschen in zwei großen Hallen ohne jeden Sichtschutz lebten. Diese Hallen waren im Mai die ersten, die der Senat räumen ließ, um die Menschen angeblich ordnungsgemäß unterzubringen. Doch Familie Alhassan wurde, wie alle anderen aus dem Sportzentrum, nur in eine Messehalle verlegt. Als im Juli schließlich die Planung der nächsten Messe begann, sollten die Bewohner_innen erneut auf Notunterkünfte in der ganzen Stadt verteilt werden: hier eine Turnhalle, dort ein umfunktioniertes Bürogebäude, und für die meisten blieben nur die Hangars am Tempelhof, wo Familien und Freund_innen getrennt werden, je nachdem, wo gerade ein Bett frei ist. Doch das machten die Alhassans und ihre Mitbewohner_innen aus der Messehalle nicht mehr mit.
Sie sind nicht die ersten, die sich das Rumgeschiebe und das ewige Warten in Provisorien nicht länger gefallen lassen: Bereits zwei Wochen zuvor hatten 25 Menschen, hauptsächlich junge Männer aus Syrien, die seit September in der überfüllten, maroden Jahnsporthalle in Neukölln geschlafen hatten, ein Protestlager errichtet: Auch sie wollten auf keinen Fall in die Hangars am Tempelhof ziehen, auf das Abstellgleis, das wohl als letzte Notunterkunft deutschlandweit geräumt werden wird.
Und sie demonstrieren nur dafür, dass deutsches Recht eingehalten wird: Schließlich steht ihnen laut Asylbewerberleistungsgesetz unabhängig vom Status spätestens nach sechs Monaten zu, in eine Wohnung oder Gemeinschaftsunterkunft ziehen zu können. Der Ablauf sollte ordnungsgemäß folgender sein: Menschen, die in Deutschland Asyl beantragen wollen, gehen zur Registrierung in die nächstgelegene Erstaufnahmestelle. Die Übernachtung dort ist ursprünglich für den Fall vorgesehen, dass die Registrierung nicht mehr am selben Tag stattfindet. Mit deren Abschluss wird den Menschen ein Platz in einer Folge-, also einer Gemeinschaftsunterkunft oder eine eigene Wohnung zugewiesen. Der Asylantrag wird in einem zweiten Schritt, nach der Registrierung, entweder noch in der Erstaufnahme oder bereits in der Folgeunterkunft gestellt. Die Folgeunterkunft muss Standards erfüllen, die zulassen, dass Menschen dort einige Monate verbringen können, bis sie den Bescheid über ihren Antrag erhalten. So muss die Unterkunft etwa Privatsphäre beim Schlafen und Duschen bieten und auch die Möglichkeit, selbst für sich zu kochen, statt ewig für Essen Schlange stehen zu müssen.
Doch allein schon die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften war stets umstritten. Als Asylsuchende 2012 mit einem Marsch von Bayern nach Berlin protestierten, standen Abschiebungen, das Arbeitsverbot sowie die Residenzpflicht im Zentrum ihrer Kritik - und die Unterbringung in eben jenen Gemeinschaftsunterkünften. Die Menschen hatten genug davon, in Lager in der deutschen Pampa gesperrt zu werden, in denen es viel zu wenig Intimsphäre gibt. Der Protestzug und die anschließende Besetzung des Oranienplatzes in Berlin-Kreuzberg wurden zum Symbol dafür, dass Menschen, die als Flüchtlinge ausgegrenzt werden, sich gemeinsam Raum und Gehör verschaffen können. Gerade die Zustände in Sammelunterkünften wurden in Folge in den Medien skandalisiert und Kommunen gelobt, in denen die Menschen gleich nach der Registrierung dezentral in Wohnungen unterkommen.
Die Situation hat sich seit 2012 verschlimmert
2016 scheinen die Diskussionen von vor drei Jahren fast schon utopisch. Das, was seit letztem Sommer deutschlandweit passiert, hat die Errungenschaften des Refugee-Protests bezüglich der Unterbringung nicht nur obsolet gemacht, sondern die Situation für die meisten Asylsuchenden im Verhältnis zur Lage von 2012 verschlimmert: »Als Bund und Länder letztes Jahr zunehmend überfordert waren, wurden in Hinterzimmern Verträge mit Privatunternehmen geschlossen«, sagt Bernd Mesovic, stellvertretender Geschäftsführer von Pro Asyl. So kam es dazu, dass deutschlandweit manche Erstaufnahmestellen dauerhaft belegt und parallel dazu sogenannte Notunterkünfte errichtet wurden, deren Strukturen sich zunehmend vermischten. Und nun werden jene prekären ad-hoc-Lösungen zur Notversorgung verstetigt: »Zum Teil werden Notunterkünfte in den letzten Monaten einfach in Gemeinschaftsunterkünfte umbenannt, womit die Möglichkeit geschaffen wird, die Menschen legal länger darin hausen zu lassen«, sagt René Kreichauf, Soziologe an der FU Berlin, der seit 2012 zu Unterbringungspraktiken forscht. Er hält die allgegenwärtige Exklusion für strategisch: »Die räumlichen und sozialen Strukturen behindern den Integrationsprozess der Geflüchteten nicht nur, sie sollen weitere Migranten abschrecken, auch zu kommen.« Obwohl kaum mehr neue Fliehende ankämen, habe man es gerade in Berlin nicht geschafft, menschenwürdige Unterkünfte zu entwickeln.
»Am meisten leider darunter Frauen und Kinder«, sagt Elisabeth Ngari von Women in Exile, einer Selbstorganisation, die 2002 in Brandenburg gegründet wurde und gegen die Unterbringung in Lagern kämpft. Women in Exile hatten in der Vergangenheit bereits erreicht, dass das Sozialministerium dem Heimpersonal in Brandenburg verbot, ohne Klopfen die Zimmer der Geflüchteten zu betreten, und dass in den meisten Heimen Frauentoiletten eingerichtet wurde. Ein Zustand, der selbstverständlich sein sollte - der nun jedoch erneut nicht mehr garantiert ist.
Eine Notunterkunft bleibt eine Notunterkunft
Gemeinsam mit ihren Mitstreiterinnen reist Ngari in diesen Tagen durch ganz Deutschland, um mit den Frauen in den verschiedenen Unterkünften zu sprechen und sich ein Bild zu machen. Gerade waren sie in Nürnberg und wollten ein Lager direkt beim BAMF besuchen. »Doch wir wurden nicht reingelassen, die Sicherheitsleute haben uns bedroht, und die Männer, die dort untergebracht sind, haben uns im Angesicht des Sicherheitsdienstes sexuell belästigt«, erzählt Ngari am Telefon. Die Situation sei angespannter als je zuvor: »Immer noch sind schwer traumatisierte Menschen auf engstem Raum zusammengesperrt, der Stress führt zu Gewalt, und die äußert sich Frauen gegenüber in sexuellen Übergriffen.« Vergangenes Jahr erschien eine Studie des Deutschen Instituts für Menschenrechte, die den mangelhaften Schutz von geflüchteten Frauen hierzulande anprangert, und verschiedene Organisationen, so auch Amnesty und UNICEF, berichteten von sexuellen Übergriffen auf Frauen und Kinder in Erstaufnahmestellen und Notunterkünften. Jene Organisationen betonen ausdrücklich die strukturellen Gründe für die Gewalt. Zu gut wissen sie mittlerweile, wie schnell sich die Thematisierung von sexuellen Übergriffen unter Geflüchteten für rassistische Denkweisen instrumentalisieren ließe.
»Bei uns kann so etwas nicht passieren«, meint Michael Elias, der mit seinem Unternehmen Tamaja die Riesenunterkunft im ehemaligen Flughafen Tempelhof betreibt, »bei uns wären sofort alle Sozialarbeiter alarmiert«. Dass die Sozialarbeiter_innen hier sehr engagiert sind, mag man gar nicht bezweifeln, wenn man an Elias' Seite auf dem Hauptgang durch die Hangars läuft und die Interaktion zwischen den Mitarbeiter_innen und den Bewohner_innen erlebt. Doch der respektvolle Umgangston kann den Mangel an Schutz und Privatsphäre nicht ausgleichen. Zwischenzeitlich waren 3.000 Menschen in den Hangars untergebracht. Jetzt sind es zwar nur noch 1.400, doch es kommen wieder mehr dazu, je mehr Turnhallen geräumt werden. Tempelhof wird die größte Flüchtlingsunterkunft Deutschlands, hieß es im Tagesspiegel im Januar. Hunderte Bewohner schlafen zum Teil seit der Eröffnung Ende Oktober 2015 in den riesigen Hallen, in denen jeweils sechs Stockbetten zu einer Zelle zusammengestellt sind. Zwölf Menschen müssen sich also 25 Quadratmeter teilen, Schränke oder Ablagen gibt es nicht, die Zellen sind oben offen, Kindergeschrei und Stimmengewirr hallen permanent durch die Beton-Gemäuer, Licht und Temperatur kann niemand selbst beeinflussen. »600 Menschen hier hätten das Recht darauf, in eine Gemeinschaftsunterkunft oder in eigene Wohnungen zu ziehen«, sagt Maria Kipp, Elias' Kollegin bei Tamaja. »Wir begehen alle miteinander einen Rechtsbruch«, pflichtet ihr Elias bei. Kipp und Elias versuchen zwar, den Menschen das Leben in den Hangars zu erleichtern, sie haben etwa Child Friendly Spaces nach dem Vorbild solcher Projekte in Krisen- und Kriegsgebieten eingerichtet, und auch die medizinische Versorgung wird erweitert. »Aber eine Notunterkunft bleibt eine Notunterkunft«, sagt Elias selbst.
Unter Architekt_innen hätte es letztes Jahr einen Hype rund um den Bau von alternativen Unterbringungen gegeben, erzählt Ruth Berktold von yes architecture aus München. Sie selbst hat im Rahmen ihrer Initiative Wohnraum für alle - y.escape ein Konzept vorgelegt, das Schiffscontainer zu einer Gemeinschaftssiedlung mit Dorfcharakter umgestaltet. Das Konzept soll nicht nur Geflüchteten dauerhaft günstigen und attraktiven Wohnraum mit Freiflächen und Gärten bieten, sondern etwa auch Studierenden und älteren Menschen. Der Entwurf erhielt viel Aufmerksamkeit. »Doch die Politiker haben dann nur gelabert und getan hat sich nichts.« Auch das Interesse der Öffentlichkeit ließ nach dem schönen Sommer der Solidarität doch schnell nach.
Damit hat auch Turgay Utlu seit Jahren zu kämpfen. Er ist einer der Wortführer des Refugee-Protest, der zusammen mit anderen Aktivist_innen auch nach der Räumung des Oranienplatzes weiter gegen die Entrechtung von Asylsuchenden kämpft und versucht, Neuankömmlinge zu mobilisieren. »Wir verstehen nicht, warum sich keine größere Widerstandsbewegung gegen diesen Umgang entwickelt«, sagt er.
In der Zwischenzeit ist Michael Elias mit Großraumtaxen vor das ICC vorgefahren. Zusammen mit zwei Übersetzern aus seiner Unterkunft tritt er an die protestierenden Menschen heran, spricht mit ihnen, diskutiert. »Das hat er die letzten Tage auch schon gemacht«, erzählt Saeed Alhassan. Er sagt, Elias würde ihre Anliegen ernst nehmen. Er käme ihnen entgegen, mache einzelnen besondere Zugeständnisse, verspreche, dass sie schneller wieder aus Tempelhof rauskämen als andere. Die Frage, ob er dafür vom Senat geschickt wird, beantwortet Elias nicht. Am Ende des Tages steigen immer mehr Menschen in die Taxen. Vom Protestcamp vor dem ICC bleibt nichts mehr übrig.
Carolin Wiedemann ist freie Journalistin und schrieb in ak 616 über die Zusammenarbeit der EU mit der Diktatur im Sudan.