Titelseite ak
ak Newsletter
ak bei Diaspora *
ak bei facebookak bei Facebook
Twitter Logoak bei Twitter
Linksnet.de
Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 618 / 16.8.2016

Zwei Formen des Imperialismus prallen aufeinander

International Warum weite Teile der Arbeiterklasse für den Brexit stimmten

Von Zak Cope

Am 23. Juni 2016 stimmten die Bürger_innen Großbritanniens mehrheitlich für den Austritt des Landes aus der EU. Die regierenden Tories wollten mit dem Referendum Konflikte in den eigenen Reihen beschwichtigen. Ein rechter Flügel befürwortete den Austritt, der Rest der Partei war dagegen. Mit dem Zugeständnis an die Befürworter_innen sollte auch die Wählerflucht in Richtung der EU-kritischen United Kingdom Independence Party (UKIP) eingedämmt werden. Doch das Kalkül von Premierminister David Cameron ging nicht auf. Um das Ergebnis des Referendums verstehen zu können, ist eine Klassenanalyse der britischen Gesellschaft auf dem Hintergrund der politischen Entwicklungen in Europa notwendig.

Die 1993 gegründete EU sollte die politische Einheit der Mitgliedsländer der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) stärken. Die EWG war 1957 mit dem Ziel gegründet worden, die Ressourcen der führenden europäischen Wirtschaftsmächte zu bündeln, um europäische Banken und Unternehmen auf dem globalen Markt konkurrenzfähig zu machen, vor allem in Anbetracht der US-amerikanischen Dominanz.

Großbritannien zwischen Europa und den USA

Die kapitalistischen Eliten Großbritanniens standen dem Einfluss europäischer Regelungen auf die eigene Wirtschaftspolitik lange skeptisch gegenüber. London sollte als führendes globales Finanzzentrum unabhängig bleiben.Einflussreiche Kreise des britischen Establishments sahen Großbritannien in erster Linie als Verbündeten der USA. Erst als der Zugang zu einem ständig wachsenden europäischen Markt zu reizvoll wurde, trat das Land 1973 der EWG bei. Doch mit dem 2008 einsetzenden Konjunkturrückgang, steigender Arbeitslosigkeit, einer immer höheren Verschuldungsquote und der Schwäche der europäischen Banken kehrten die Vorbehalte Europa gegenüber zurück. Viele wirtschaftliche und finanzielle Führungskräfte Großbritanniens sind seither überzeugt, dass es dem Land besser ginge, wenn es über Anlagen, Investitionen und Handelsabkommen selbst bestimmen könnte.

Trotz dessen sprachen sich die meisten britischen Großunternehmen, die Bank von England, die Mehrheit der Minister_innen, die BBC, die Zeitschrift The Economist und die Tageszeitung Financial Times, kurz, alle führenden Organe des britischen Imperialismus, für einen Verbleib in der EU aus. Auch die US-Regierung, das NATO-Generalsekretariat, die Weltbank, der Internationale Währungsfonds und die EU selbst unterstützten die Remain-Kampagne der EU-Befürworter_innen. Die herrschende Klasse ist heute im Wesentlichen kosmopolitisch und einer internationalen bourgeois-imperialistischen Polyarchie verpflichtet. Wie konnte es nun dazu kommen, dass die mächtigsten politischen, militärischen und ökonomischen Organisationen des Planeten nicht imstande waren, den Ausgang des britischen Referendums in ihrem Sinne sicherzustellen? Das kann nur ein Blick auf jene Menschen erklären, die für den Austritt aus der EU stimmten.

Die Remain-Stimmen kamen vor allem aus der Oberschicht und der oberen Mittelschicht (Manager_innen, Ärzt_innen, Jurist_innen, Fachkräfte) sowie aus der unteren Mittelschicht (Ladenbesitzer_innen, Kaufleute, Bankangestellte). Die Leave-Stimmen kamen in erster Linie von Arbeiter_innen, und zwar von ungelernten (Reinigungskräften, Portier_innen) und angelernten (Chauffeur_innen, Call-Center-Personal) ebenso wie von gelernten (Elektriker_innen, Mechaniker_innen). Die Tatsache, dass so viele Arbeiter_innen für den EU-Austritt stimmten, scheint die Befürwortung des Austritts durch die marxistischen Parteien Großbritanniens, etwa der Socialist Party oder der Socialist Workers Party, zu rechtfertigen.

Neoliberale Gewinner_innen und Verlierer_innen

Das Ja für den Austritt war jedoch eher ein Protest gegen die neoliberale Globalisierung als gegen den Kapitalismus als solchen. Zwar hat die neoliberale Globalisierung die Kaufkraft der Arbeiter_innen des globalen Nordens aufgrund der Superausbeutung der Arbeitskräfte des globalen Südens gestärkt, doch war sie nicht in der Lage, die langfristige Tendenz des Kapitalismus zur Stagnation aufzuhalten. Die jüngste Krise des Kapitalismus wirkte sich auch in den reichen Ländern auf Löhne, Mieten und Sozialbeiträge aus. Für den EU-Austritt stimmten jene Teile der britischen Bevölkerung, die von der europäischer Integration am wenigsten profitieren: Kleinunternehmer_innen und Bauern und Bäuerinnen, die auf den europäischen Märkten nicht konkurrieren können; »einheimische« Arbeitskräfte, die migrantische Arbeiter_innen als Konkurrenz sehen, und ländliche Grundbesitzer_innen, die sich von den Steuerregelungen der EU benachteiligt fühlen. Gegen den EU-Austritt stimmten die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter_innen (nicht zuletzt jene, die für den europäischen Export produzieren - eine Minderheit), Akademiker_innen, Migrant_innen, Angehörige ethnischer Minderheiten, Beamte und die städtische Elite.

Das EU-Referendum offenbarte eine tiefe Spaltung zwischen den Gewinner_innen und Verlierer_innen des Neoliberalismus. Diese drückt sich in unterschiedlichen Vorstellungen davon aus, wie der britische Imperialismus am besten weiterzuführen sei. Der Neoliberalismus führt zu einer enormen Konzentration von Reichtum, innerhalb von Nationalstaaten ebenso wie global. In Krisenperioden kommt es zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit, der Kürzung von Sozialleistungen, stärkerer Polizeirepression sowie Militarisierung und Krieg. Die Ursachen dieser Probleme liegen in enormen internationalen Lohnunterschieden, Produktionsverlagerungen, Sparkursen und einer Kriegswirtschaft, die verzweifelt versucht, den Fall der Profitraten aufzuhalten. Einer breiten Öffentlichkeit wurde jedoch das krude Bild vermittelt, dass die Probleme das Resultat unkontrollierter Einwanderung seien. Für eine Arbeiterklasse, die den britischen Imperialismus nie in Frage gestellt hat, wurde Migration somit zum Grundübel neoliberaler Verhältnisse.

Die unterschiedliche Deutung der Globalisierung ist für die Differenzen zwischen EU-Befürworter_innen und EU-Gegner_innen wesentlich. Ist es für die britische Nation am besten, im Rahmen eines großen imperialistischen Blocks mit militarisierten Grenzen zu operieren? Oder sollte sie eine unabhängige Ausbeutung der Dritten Welt in Kollaboration mit dem US-Imperialismus betreiben? Diese Spannung prägt auch die herrschende Klasse. Ausschlaggebend für den Sieg des Leave-Lagers waren jedoch nationalchauvinistische Haltungen, die nicht zwangsläufig mit den Interessen der Bourgeoisie übereinstimmen.

Manche Linke sehen in der Unterstützung der Arbeiterklasse für die Leave-Kampagne den Versuch, die Kapitalistenklasse zu einer Umverteilung zu zwingen: Anstatt Gelder an Brüssel zu überweisen, sollten diese in den eigenen Wohlfahrtsstaat investiert werden. So ließen sich zweifelsohne viele Wähler_innen von dem absurden Versprechen beeindrucken, dass im Falle eines EU-Ausstiegs 350 Millionen Pfund mehr pro Woche in die Kassen des staatlichen Gesundheitssystems fließen würden. Dies mag schlicht als Ausdruck sozialdemokratischer Nostalgie erscheinen, doch ist es von nationalchauvinistischen Einstellungen nicht zu trennen.

Britischer und europäischer Chauvinismus

Der britische Wohlfahrtsstaat ist das Resultat eines Sozialvertrags zwischen dem britischen Kapital und der Arbeiterklasse, zu dem es nach dem Zweiten Weltkrieg kam. Zweck war die Festigung und der Ausbau des britischen Imperialismus. Der britische Wohlfahrtsstaat stärkte die Loyalität der britischen Arbeiter_innen, die den Wohlfahrtsstaat als Belohnung für die Treue ansahen, die sie dem imperialistischen Staat so lange gehalten hatten. Wie in anderen Ländern der Ersten Welt ist es in Großbritannien nicht einfach, Sozialdemokratie von Rassismus und Imperialismus zu trennen.

Doch auch die EU betreibt eine chauvinistische Politik. Dies wird deutlich in den militarisierten Grenzen, den Flüchtlingslagern und den Kriegsflotten, die Hunderttausende von Migrant_innen davon abhalten sollen, in die EU zu gelangen. Viele dieser Menschen fliehen vor offenen oder verschleierten imperialistischen Kriegen in Syrien, Afghanistan und anderen Ländern. Die dortigen Konflikte werden von den EU-Mitgliedsstaaten Großbritannien und Frankreich sowie von der USA und ihren Verbündeten im Nahen Osten geschürt. Andere Migrant_innen versuchen, den Menschenrechtsverletzungen zu entkommen, die unweigerlich mit der Ausbeutung durch westliche Banken und Unternehmen verbunden sind. Doch selbst die augenscheinlichsten Ungerechtigkeiten reichen nicht aus, um nationalistische Gefühle zu zügeln. In der Tat beruhigt die Abschottung der Festung Europas die Anhänger_innen des Brexit nicht. Sie wollen auch der innereuropäischen Migration ein Ende setzen.

Das Resultat des EU-Referendums bezeugt den Willen einen großen Teils der britischen Arbeiterklasse, mit der Finanz-, Wirtschafts- und Einwanderungspolitik zu brechen, die von der Mehrheit der Kapitalistenklasse des Landes betrieben wird. Letztere ist von Handelsbeziehungen mit und Investitionen in europäischen Ländern abhängig. Die Arbeiterklasse, genauso wie die traditionelle Mittelschicht, will stattdessen eine stärkere Kontrolle des Monopolkapitals zugunsten von kleinen, lokalen Unternehmen sowie einer »einheimischen« Arbeiterschaft. Für sie steht die nationale Hegemonie Großbritanniens an erster Stelle - im Lande selbst wie in den Märkten des Commonwealth. Hinter der rassistischen Rhetorik und den gewaltsamen Übergriffen, die die Leave-Kampagne in den letzten Wochen des Wahlkampfs prägten, kam der kaum verschleierte Wunsch zum Ausdruck, zu den guten alten Tagen des britischen Imperiums zurückzukehren.

Die verunsicherte Mittelschicht der imperialistischen Länder (der eine beträchtliche Arbeiteraristokratie angehört), reagiert gegen die Aushöhlung ihrer nationalen Privilegien. Sie wehrt sich gegen die neoliberalen Imperative der imperialistischen Klasse und bedient sich parlamentarischer Methoden, um ihr exklusives Recht auf die Gewinne der Ausbeutung des globalen Südens zu sichern. Aber in einer Zeit, die von unsicheren Märkten, der zunehmenden Frustration marginalisierter Jugendlicher und verschärfter Konkurrenz aus dem globalen Süden geprägt ist, verschwinden in den imperialistischen Ländern die Grenzen zwischen den herrschenden Klassen und populistischen Bewegungen. Das EU-Referendum hat gezeigt, wozu Kriegstreiberei und rassistische Hetze führen können.

Kurzfristig ist anzunehmen, dass die britischen Austrittsbestrebungen den (britischen, europäischen und US-amerikanischen) Imperialismus schwächen werden. Dies wird jedoch nicht von Dauer sein. Die Leave-Kampagne war sehr erfolgreich darin, die Interessen des nationalistischen Flügels der britischen Bourgeoisie mit dem Chauvinismus weiter Teile der britischen Arbeiterklasse zu vereinen. Sie offenbarte faschistische Tendenzen. Für die Länder des globalen Südens, vor allem für die schwächsten, bedeutet dies eine zusätzliche militärische Bedrohung. Für ethnische Minderheiten in den imperialistischen Ländern bedeutet es eine Bedrohung durch die gestärkte extreme Rechte. Gleichzeitig scheint die Implosion der EU nahe und unausweichlich. Theoretisch ist das auch eine Chance für den proletarischen Internationalismus. Ob es jedoch sozialistische Kräfte gibt, die diese Chance zu nutzen imstande sind, ist eine andere Frage.

Zak Cope ist der Autor von Divided World Divided Class (Kersplebedeb 2012) und lebt in Belfast.

Übersetzung: Gabriel Kuhn