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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 618 / 16.8.2016

Vom Bogensee in den Trikont

Kultur Eine Doku über die Suche nach Kommiliton_innen einer FDJ-Jugendhochschule

Von Gaston Kirsche

Die Kamera schwenkt über ein der Natur und dem Verfall überlassenes Gelände. Auf einem Balkon wächst ein kleiner Baum. Bereits vor Gründung der Deutschen Demokratischen Republik wurden ab 1946 in der FDJ-Jugendhochschule Wilhelm Pieck am Bogensee bei Wandlitz Jahr für Jahr Hunderte staatsnahe Jugendliche für die Übernahme von Funktionen in der Freien Deutschen Jugend ausgebildet. Dazu kamen - aus dem internationalistischen Anspruch der DDR heraus - aber auch aktive Jugendliche aus über 80 Ländern, deren Organisationen so und in anderer Form vom Staatenverbund RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) rund um die Sowjetunion unterstützt wurden. Tausende absolvierten einjährige Lehrgänge in Marxismus-Leninismus.

Die Regisseurin Kirsi Marie Liimatainen kommt aus einer finnischen Arbeiterfamilie, sie selbst war Mitglied der KP-nahen Kinderorganisation Junge Pioniere, ihre Oma Mitglied der KP Finnlands, die bei den Wahlen 1958 mitten im kalten Krieg auch schon mal die meistgewählte Partei war. Kirsi Marie Liimatainen entschied sich als 20-Jährige, für den einjährigen Lehrgang in die DDR zu gehen. Ihr Ausbildungsjahr war das letzte, dass vollendet werden konnte. Nach dem Zusammenbruch der Staatsmacht der DDR wurde Anfang 1990 die FDJ-Jugendhochschule Wilhelm Pieck komplett geschlossen. Für »Comrade, where are you today?« hat sich Kirsi Marie Liimatainen 24 Jahre nach ihrem Lehrgang mit einem kleinen Filmteam auf die Suche gemacht nach ehemaligen Kommiliton_innen, die sie im Lehrgang 1988/89 kennengelernt hatte - in Bolivien, Chile, Südafrika und dem Libanon.

Mit ihrer Kritik, ihren Zweifeln und ihren Vorstellungen sind die vorgestellten Kommiliton_innen gegenüber der Regisseurin sehr offen. Sie nimmt die Vertrautheit durch das gemeinsame Studienjahr behutsam als Grundlage für die Wiederannäherung an ihre Protagonist_innen. Es sind Begegnungen auf Augenhöhe, fern einer denunziatorischen Sicht. So sind Momente einer Auseinandersetzung mit der marxistisch-lenistischen Doktrin zu sehen, in denen es um Überlegungen für eine neue Verortung als aktive oder passive Linke nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus geht.

Siegreicher Neoliberalismus und soziale Ungerechtigkeit

Esteban heißt eigentlich Marcelino; als er nach Chile zurückkehrte, herrschte noch die Pinochet-Diktatur. Der Film begleitet ihn und seine Genossen beim nächtlichen wilden Plakatieren an Barackenwände in dem Arbeiterstadtteil, der Población, in der er mit seiner Familie immer noch lebt. Er ringt um eine Abgrenzung, der Sozialismus kann nicht totalitär sein, aber total in dem Sinne, dass er alle Lebensbereiche umfasst. Denn in Chile ist zwar seit 1990 die Diktatur in eine Demokratie transformiert worden - aber an der sozialen Ungleichheit und Ungerechtigkeit hat sich wenig geändert, trotz einer sozialdemokratischen Präsidentin.

Auch in Südafrika, wo die Regisseurin mit zwei alten Fotos aus dem Lehrgang nach dem ANC-Kämpfer Duma sucht, ist die Apartheid als staatliche Ordnung abgelöst von einer Demokratie. Die soziale Ungleichheit ist enorm; und die Armut schwarz, so die Regisseurin in ihrem Kommentar. Nach dem Ende der Apartheid 1994 bauten sich Duma und seine Frau eine Baracke in der Armensiedlung Soweto aus. Dort sieht es ganz anders aus als in dem Palast, den sich der ANC-Vorsitzende und Präsident Jacob Zuma mit Geld aus dubiosen Quellen bauen ließ.

Der Neoliberalismus ist siegreich, soziale Ungerechtigkeit überall. Gegen diese Zustände bräuchte es eine linke Bewegung, sagt Kirsi Marie Liimatainen im Kommentar. Dies sehen die von ihr Porträtierten mit einer Ausnahme auch so. Und Ghazwan aus dem Libanon bezeichnet sich selbst als suspendierten Kommunisten - ihm fehlt die Partei.

Gaston Kirsche schrieb zuletzt in ak 608 über den rassistischen Mord an Mehmet Kaymakc? in Hamburg-Langenhorn.

Kirsi Marie Liimatainen: Comrade, where are you today? BRD/Finnland 2016, 110 Minuten.

Kinostart: 18. August 2016