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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 618 / 16.8.2016

»Was soll der Käse«

Diskussion Die Attentäter von München, Ansbach & Co. als »Rechte« oder »Islamisten« zu charakterisieren, bringt überhaupt nichts, sagt Klaus Theweleit

Interview: Jan Ole Arps

Nizza, Würzburg, München, Ansbach, Saint-Étienne-du-Rouvray - in den letzten Wochen gab es in kurzer Abfolge eine Reihe von Attentaten oder Attentatsversuchen. Was treibt die Attentäter an? Klaus Theweleit beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit mordenden Männern und den körperlichen Zuständen, aus denen heraus sie ihre Taten begehen.

Nach den Attentaten von München, Würzburg, Ansbach wird viel darüber diskutiert, wie diese Taten einzuordnen sind: als - islamistische oder rechte - Terrorakte oder als Amokläufe bzw. Massaker mit Selbstmord wie die an der Columbine High School, in Erfurt oder Winnenden. Wie würden Sie die Attentäter und ihre Taten charakterisieren?

Klaus Theweleit: Was hilft die Einordnung? Sie führt weder zur »Früherkennung« zukünftiger Attentate, noch trägt sie zur Aufklärung des jeweiligen Gewaltvorgangs bei. Selbstbefriedigung also für sogenannte Experten, die uns nicht schlauer macht. Der Einordnungswahn muss in diesen Fällen wohl unbefriedigt bleiben.

Was bringt es, von rechtem oder islamistischem Terrorismus zu sprechen?

Nicht viel. Selbst wo eindeutig islamistischer Terror vorliegt, sagt uns das nicht mehr als was wir längst wissen oder zu wissen glauben: Beliebigkeit der Opfer, möglichst viele, möglichst spektakulär; und weiter, dass Allah der Größte ist und den Killer das 144-füßige Paradies erwartet. Na und? Und »rechts«? Jede Sorte von Terror gegen »Jedermann« ist politisch rechts. »Linker« Terror à la RAF hat, in aller Regel, genau ausgesuchte und bezeichnete Opfer. Sie werden vom Terroristen einzeln und begründet »zum Tode verurteilt« und umgebracht (Buback, Schleyer und andere); so dachte man. Der Linksterror in Kambodscha und China wütete dann aber auch unterschiedslos. Das alles sind Unterscheidungen, die nur den Einordnungswütigen etwas bringen. Aber was?

Versteht man mehr, wenn man die Biografien der jungen Männer in den Blick nimmt?

Man begreift sehr viel mehr von möglichen Mordmotiven, je mehr man über das Leben der Killer weiß. Das Bündel der erfahrenen Verletzungen und Traumata ist in allen Fällen erheblich. Ebenso erheblich ist es aber bei Hunderttausenden anderer jugendlicher oder auch etwas älterer Männer auf der Welt, die dann doch nicht zu Attentätern werden. Wer letztendlich den Entschluss zum Morden und zur Selbstauslöschung fasst, ist durch biografische Details nicht schlüssig erklärbar.

Sie sprechen an anderer Stelle im Zusammenhang mit den Tätern von »Grundstörungen«. Was bedeutet das?

Was ich eben andeutete: das Bündel von Verletzungen und Traumata. Der Begriff der Grundstörung stammt aus der psychoanalytischen Schule des Ehepaars Balint in Budapest (1), entwickelt in den 1930er, 1940er Jahren, aufgenommen und weiterentwickelt von der Kinderanalytikerin Margaret Mahler (ursprünglich ebenfalls aus Budapest) in den 1950er und 1960er Jahren in New York: Die Grundstörung besteht in der nicht gelungenen Loslösung aus - negativ erfahrenen - Symbiosen mit dem Mutterkörper, der das Kleinkind mit dem Gefühl unsicherer oder nicht vorhandener Körpergrenzen in das eigene Leben in der Außenwelt entläßt. Dieser Körper lebt - jetzt sehr zugespitzt und verkürzt gesprochen - in der ständigen Angst vorm Verschlungenwerden von Einwirkungen der Außenwelt: Er entwickelt nicht das, was wir ein »Ich« nennen, nämlich die Instanz des von Freud sogenannten »Realitätsprinzips«, das die körperlichen Emotionen zwischen Triebanspruch und Anspruch der Außenwelt dynamisch ausgleicht. Die Wunschwelt dieser Körper verläuft zwischen überwältigenden Ängsten und hochgestochenen völlig »illusionären« Erlösungsphantasien. Ohne die Verbindung mit irgendeiner Art Über-Gott geht dann in ihren Verwirklichungsaktionen gar nichts. Wo sie an reale Hindernisse in der Außenwelt stoßen, bleibt ihnen als Weg der Durchsetzung nur deren gewaltsame Beseitigung: die Zerstörung dieser Hindernisse; praktisch die Zerstörung anderer menschlicher Körper.

Unter welchen Bedingungen wird aus einer labilen Person mit einer »Grundstörung« ein Mörder?

Mahler umschreibt die zwei dominanten Verhaltensweisen von schwer gestörten Kindern und dann auch Erwachsenen mit den Begriffen »Entdifferenzierung« und »Entlebendigung«. In der »halluzinatorischen Wahrnehmungsidentität« Entdifferenzierung verschwimmt die gesamte Außenwelt zu einem bedrohlichen Matsch, der die eigene Person zu verschlingen droht. Dies setzt die Praxis der halluzinatorischen Beseitigung dieses Matsches in Gang, die Entlebendigung: »Das alles hier muss weg.« Dieser Körperzustand steuert letztlich auf die Vernichtung alles Lebendigen zu, einschließlich der eigenen Körperlichkeit.

An welcher Stelle und durch welche Umstände aus einer solchen Person (oder besser: Nicht-Person) der zu allem entschlossene Mörder wird, lässt sich nicht sagen; von niemandem. Um so etwas zu erfahren, müssten Täter sich jahrelang auf einer analytischen Couch äußern. Mahler sagt in ihren Lebenserinnerungen, die schwer geschädigten Kinder, die sie behandelt hat, wären in den Analysestunden zu ihr gekommen »wie die Enten zum Wasser«, mit dem absolut sicheren Gefühl, bei ihr genau richtig zu sein. Diese Art »Wasser« hat bisher keiner der Täter aufgesucht oder gefunden. Insofern ist auch die Beschreibung einer bestimmten »Körpertypologie«, wie ich sie hier umreiße, zu nichts nütze in puncto Täterfrüherkennung. Es ist praxisloses und folgenloses, also auch hilfloses Wissen. Wann wer und wie losschlägt, weiß niemand. Die Forderung nach Aufstockung der Polizeien, Geheimdienste und die Forderung nach dem Einsatz der Bundeswehr im Inneren, bedient ganz andere (überwiegend kriminelle) Motive.

Alle Täter haben Zeit in die Vorbereitung ihrer Morde investiert, sie wollten also etwas erreichen. Was ist es, das sie erreichen wollen?

Größtmögliche mediale Wahrnehmung ihrer Tat; erreichbar durch größtmögliche Opferanzahl und damit größtmöglichen Horroreffekt: Auch »dich« (und mich) kann es jederzeit treffen. So soll es sein. »Gut so, ihr Arschlöcher«. Kaschiert mit »Tod allen Ungläubigen«. Wie einsam sie damit sind, konnten sie sehen bei der Übertragung des Einzugs der »Nationen« ins Olympiastadion in Rio: Fast keine der muslimischen Frauen aus 100 muslimischen Ländern zeigte sich mit Kopftuch, außer den Frauen aus Iran.

Was fasziniert den einen am IS, warum nimmt der andere sich den norwegischen Massenmörder Anders Breivik zum Vorbild?

Völlig egal. Eins ist so gut (oder schlecht) wie das andere als Begründungsmodell. »Begründen« lässt sich, rational argumentierend, buchstäblich alles - jede Scheiße, jeder noch so bescheuerte Akt. Wer alles immer (rational) »begründen« kann, grenzt ans Faschistische. Vernünftige Menschen haben keine rationalen »Begründungen« für viele Erscheinungen der sogenannten Realität.

Im Fall des Münchener Attentäters David S., der Breivik als Vorbild nannte, ist viel von Mobbing, Ablehnung und Demütigung zu hören gewesen, die der junge Mann erfahren habe. Wieso sucht so jemand seine Opfer nach rassistischen Kriterien aus?

Ist schon beantwortet bei den vorhergehenden Fragen. Ob es allerdings »rassistisch« genannt werden kann, wenn dieser Mensch sich etwa gleichaltrige Jugendliche mit ebenfalls »migrantischer« Herkunftsgeschichte als zu Tötende ausgesucht hat, ist sehr die Frage. Sind 17-jährige Migrantenkinder eine spezielle »Rasse«? Was soll der Käse.

Der Philosoph Franco »Bifo« Berardi spricht von »nihilistischen Amokläufern«, »suizidalen Kriminellen« und von Verzweiflungstaten, geboren aus einem Elend, das das Ergebnis von 40 Jahren neoliberaler Erniedrigung sei.

Alles richtig. Bloß sind Kolonialismus und Imperialismus keine Produkte der letzten 40 Jahre. Als wäre die Erde vor dem Neoliberalismus ein paradiesischer Kindergarten der Gleichheit gewesen. Bullshit! Besonders schlimm in diesem Zusammenhang ist die Formel von der »plötzlichen Radikalisierung«, die gern in Politiker- und Journalistenmündern auftaucht. Ich höre da »Radikalinskis« durch: die Formel, die die BILD und andere Mordinstanzen für die 68er in Anschlag brachten. In welcher Hinsicht sollen die heutigen Täter sich plötzlich »radikalisiert« haben: Leute, die ihre Taten langfristig planen und vorbereiten. Es ist eben nicht die »Radikalisierung« irgendeiner Idee, die sie zu Attentätern macht. Es ist der klar gefasste Entschluss zum Töten.

Die Figur des männlichen Einzelkämpfers, wie sie auch im Kino omnipräsent ist, scheint große Attraktivität für die Attentäter zu besitzen bzw. ihnen sehr einzuleuchten.

Das ist nun wirklich »One of the Oldest«, von Homer bis zum Western, »omnipräsent«, wie Sie sagen. Für meine Generation: Burt Lancaster, Kirk Douglas, Gary Cooper, John Wayne, Gregory Peck. Und was sind wir geworden? Aktive Pazifisten (von Gunslingers wie Joschka Fischer mal abgesehen).

Wieso eigentlich? Oder vielmehr: Was ist mit der Nachkriegsgeneration, der Sie angehören? Abwesende Väter, Traumata, massive Gewalterfahrungen, und die breite Verdrängung all dessen - warum haben diese kaputten Familien nicht mehr Massenmörder hervorgebracht?

Weil wir in den Nachkriegsjahren Bedingungen vorfanden, die ein Leben außerhalb der schlimmsten Zwänge ermöglichten. Die Nazi-Ideologie konnte von der Kriegsgeneration nicht bruchlos fortgesetzt werden; uns - deren Kindern - halfen in der BRD die Alliierten aus der kulturellen Isolation. Vor allem deren Radiostationen, die uns mit Blues, Jazz und Rock versorgten, sowie das amerikanische Kino mit den Bildern anderer Lebensformen. Dann folgten die sexuellen Aufbrüche, ermöglicht durch die Pille und die politischen Aufbrüche der 1960er Jahre, in denen die ältere Generation durch die Nachkriegskinder mit ihren Verbrechen in der Nazizeit konfrontiert wurde. Das Gewaltpotenzial unserer Generation wurde also auf verschiedenen Feldern bearbeitet, nicht zuletzt auch mit Hilfe der Psychoanalyse, die durch die Nazis aus Deutschland verbannt worden war. Und: Waffen und Mord waren, bedingt durch die Mordgeschichte der Alten, für die meisten von uns einfach unmöglich. Was die RAF machte, war so etwas wie ein Tabubruch, eine ungeheure Dämlichkeit, nämlich den Waffengebrauch zu enttabuisieren.

Als Reaktion auf die Anschläge werden mehr Polizeistellen eingerichtet und Abschiebungen erleichtert. Was wäre aus Ihrer Sicht eine sinnvolle Antwort?

Polizei aufstocken dauert. Abschiebungen gehen schneller und werden auch betrieben, andauernd; bei »Nacht und Nebel«. Vielleicht könnte man den Polizisten Alain Resnais' gleichnamigen Film zum Frühstück, also nachts um drei, vorführen. Dann wüssten sie wenigstens, dass sie ihre Abschiebungen auf Führerbefehl durchführen. Nützt aber wahrscheinlich auch nichts. Ich weiß nicht, was nützt. Sinnvoll? Was die vielen Flüchtlingshelfer tun. Und: freundlich Menschen begegnen, nachbarschaftlich freundlich, wenn einem die geballte Fremdheit oder auch die vereinzelte über den eigenen Weg läuft.

Anmerkung:

1) Das Ehepaar Balint war dem ungarischen Psychoanalytiker Sándor Ferenczy verbunden, einem Schüler Freuds.

Klaus Theweleit

ist Literaturwissenschaftler und erforscht den Zusammenhang von Gewalt und Männlichkeit. Sein Buch »Männerphantasien« (1977) rekonstruierte anhand der Briefe deutscher Freikorpssoldaten die psychische und körperliche Verfasstheit der faschistischen Männer, die den Nationalsozialismus prägten. Sein aktuelles Buch »Das Lachen der Täter« (2015) knüpft daran an. Es versammelt Berichte über Anders Breivik, antikommunistische Killer in Indonesien und deutsche Dschihadisten. Über männliche Tötungslust und die Körper, die sie hervorbringt, sprach Klaus Theweleit in ak 609.