Der Führer, sein Volk und die Anderen
International Warum die Türkei eine antifaschistische Einheitsfront braucht
Von Peter Schaber
Anders als der Tourismussektor brummt das Business türkischer Flaggenproduzenten. Bereits kurz nach dem Putschversuch vom 15. Juli vermeldeten türkische Medien, dass die Hersteller von Nationalfahnen einem kaum je dagewesenen Boom entgegensehen. Spätestens seit dem 7. August nun dürften die Produzent_innen des roten Tuches mit Halbmond ausgesorgt haben: 2,5 Millionen Fahnen wurden an die etwa drei Millionen Teilnehmer_innen einer von der AKP organisierten Kundgebung in Istanbul-Yenikap? ausgegeben.
Die Massendemonstration gegen den Putschversuch war historisch. Nicht nur wegen ihrer Teilnehmerzahl, sondern auch ob der Ausfall der Redner: Das Vorprogramm zum Star des Abends, Recep Tayyip Erdogan, durften die Chefs der beiden Oppositionsparteien CHP und MHP bespielen. »Der 15. Juli hat die Türen zu einem Konsens für die Türkei geöffnet«, rief Kemal K?l?çdaroglu, der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP) der Masse zu. »Ich bin froh, dass ich die Türkei erwachen sehen darf«, ergänzte Devlet Bahçeli von der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP).
Bereits in den vorangegangenen Tagen hatte sich angekündigt, dass Erdogan den gescheiterten Staatsstreich von Teilen des Militärs politisch klug nutzen würde: Der vaterländische Furor neutralisierte in der CHP den linken Flügen und polte die Partei wieder ganz auf Nationalismus. Die MHP war schon zuvor tendenziell zum verlängerten Arm der Regierungspartei geworden. Der neue Vater der Türken brauchte nur die Hand zu reichen, und die beiden Oppositionsparteien unterwarfen sich freiwillig. Halb zog er sie, halb sanken sie hin.
Das Bild, das die Demonstration vermitteln sollte, ist klar: Es gibt eine Nation, eine Fahne und einen vom Volk (und ein bisschen vielleicht sogar von Gott) bestimmten Führer dieser Nation. Dieses Narrativ war ohnehin das, was Erdogan unter dem Titel »Präsidialsystem« zu erzeugen versuchte. Jenes hatte der Berater des Führers, Yigit Bulut, schon vor einigen Monaten so beschrieben: »Es gibt schon einen Führer in unserem Land, und er kümmert sich um die Politik. Niemand sonst muss sich um Politik kümmern. Er macht das, innenpolitisch wie außenpolitisch. Unsere Pflicht ist es nur, unseren Führer dabei zu unterstützen.« Die große Einigkeit unter den Fittichen des neuen Vaters der Türken geht weit über die nationalistisch-sozialdemokratische CHP und die offen faschistische MHP hinaus. Sie erreicht Kreise wie ultranationalistische Militärs, Unternehmer_innen und Journalist_innen, die bis vor Kurzem noch im Knast saßen unter dem Vorwurf, die AKP-Regierung stürzen zu wollen.
Und sie schließt jene mit ein, die früher noch für die faschistischen Grauen Wölfe und die Konterguerilla des »tiefen Staats« mordeten: Eine Vorabend-Veranstaltung zur großen Einigkeitsdemonstration versammelte Sedat Peker, Mehmet Ali Agca und Mehmet Agar. Der erste ist ein Mafia-Chef, der immer wieder vom Staat gegen Linke eingesetzt wurde und vor Kurzem öffentlich erklärte, er und seine Anhänger_innen wollten »im Blut« von Oppositionellen »baden«. Der zweite ist ein Faschist, der einen Journalisten ermordete und versuchte, den Papst zu töten. Der dritte hat Tausende Linke und Kurd_innen auf dem Gewissen, die er in den 1990er-Jahren »verschwinden« ließ.
Erfreut über die Einheitsstimmung zeigt sich auch das Großkapital. Microsoft-Türkei-Chef Murat Kansu etwa meldete sich mit dem Statement zu Wort, dass die nach dem Putschversuch entstandene Konsenssuche auf parteipolitischer Ebene sehr wertvoll sei: »Das wird die türkische Wirtschaft sehr stärken, indem es zur politischen Stabilität beiträgt.«
Millionen »Verräter«
Zu welchem Zweck ziehen jetzt »alle« an einem Strang, was ist das Ziel? Das lässt sich nicht leicht beantworten. Denn das einzige, was diese Koalition zusammenhält, ist die Beschwörung der »heiligen Nation«. Wie die aber aussehen soll, da divergieren die Wünsche. Die CHP will die Prinzipien Atatürks hochhalten, Sedat Peker träumt von einer »Großtürkei«, in der man Linke einfach ausrotten darf, die aus den Moscheen zum Dschihad gerufenen Kämpfer gegen den Coup wollen die Einführung der Scharia. Erdogan wird versuchen, diese auseinanderdriftenden Interessen in der Vision seiner »Neuen Türkei« zu integrieren. Diese hat vier Grundpfeiler: ein neoliberales, kapitalfreundliches Akkumulationsregime; ein autoritäres, auf Erdogan selbst zugeschnittenes Präsidialsystem; eine schleichende Rücknahme der säkularen Traditionen des Landes und die Islamisierung der Gesellschaft durch staatlichen wie sozialen Druck; und eine selbstbewusstere außenpolitische Rolle als regionaler imperialistischer Staat mit eigenen Einflusssphären.
Der Staatspräsident und die AKP-Führung werden hier an der einen oder anderen Stelle Zugeständnisse machen müssen, je nachdem, mit wem sie nun enger zusammenarbeiten wollen. Etwas Fortschrittliches in irgendeinem relevanten Sinne wird dabei sicher nicht herauskommen.
Abgesehen davon, dass diese Vorhaben auch den objektiven Interessen von Millionen ärmeren CHP-, AKP- und MHP-Wähler_innen widersprechen, gibt es eine ganze Reihe von Menschen, die in diesem »Volk« ohnehin nicht vorgesehen sind. Entgegen dem Mythos, es sei »das ganze Volk« auf der Straße, um Erdogans »Demokratie« zu retten, war es ein bestimmter Teil der Bevölkerung, der den Kern des Protestes gegen die Putschist_innen und der »Mahnwachen für die Demokratie« stellte, die seitdem auf belebten Plätzen und Straßen in der Türkei stattfinden.
Ein anderer, großer Teil der Bevölkerung steht abseits und lehnt zwar den Coup ebenso ehrlich ab, fürchtet sich aber auch vor den durch Erdogans Machtfülle entstehenden Veränderungen in der Gesellschaft. Dass nicht »alle« in die »Große Einigkeit« eingebunden sind, zeigt ein simpler und unübersehbarer Fakt: Die drittgrößte Partei der Türkei, die linkskurdische Halklarin Demokratik Partisi (HDP), ist zu keiner der »Allparteien«-Veranstaltungen eingeladen worden. Im Gegenteil: Die Repression gegen sie geht unvermindert weiter. Übergriffe seitens der marodierenden islamistischen und nationalistischen Banden werden auch auf andere vermeldet: Frauen, die »zu leicht bekleidet« sind, wurden beschimpft und geschlagen; Jugendliche, die Alkohol trinken, wurden bedroht; Stadtteile, in denen vorwiegend Angehörige der alevitischen Religionsgemeinschaft leben, wurden angegriffen.
Es ist, wie der Kovorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas, bereits im Februar formulierte: Die »Brüderlichkeit« der AKP besteht darin, dass du die Wahl hast, dich zu entscheiden: Bist du für die AKP, wird dir der Kopf gestreichelt, bist du gegen sie, wirst du zum Feind erklärt und gnadenlos verfolgt. Mit dem Putschversuch hat sich diese Form der »Brüderlichkeit« noch ausgedehnt. Im Rahmen der großangelegten Jagd auf Anhänger_innen des im US-Exil lebenden Imam Fethullah Gülen, der hinter dem versuchten Staatsstreich vom 15. Juli vermutet wird, ist eine Stimmung entstanden, in der auch all jene als »Verräter« gebrandmarkt werden können, die den »Helden der Nation« aus ganz anderen Gründen im Weg stehen.
Zu gewinnen haben von der Hegemonie reaktionärer Kräfte eine ganze Reihe gesellschaftlicher Gruppen nichts: die türkische Linke, die Gewerkschaftsbewegung, die LGBT-Initiativen, die Alevit_innen und viele mehr.
Noch Anfang des Jahres hatte die Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK), eine Dachorganisation der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die Idee ins Spiel gebracht, ein Bündnis aller demokratischen Parteien anzustreben, das von CHP bis HDP reicht. Nach dem Putsch und der Versöhnung zwischen CHP und AKP schätzte Demirtas diese Option als unrealistisch ein: »Wir sind auch dafür, dass man sich zusammenschließt. Aber die Grundlage für einen solchen Zusammenschluss ist wichtig. Ein Bund, welcher auf Rückwärtsgewandtheit, Nationalismus und Faschismus aufbaut, hilft niemandem. Die AKP, CHP und MHP wollen einen solchen Zusammenschluss bilden.«
Bündnisse zur Selbstverteidigung
Was die großen bürgerlich-demokratischen Parteien angeht, dürfte Demirtas recht haben. Momentan weist alles auf die Herausbildung eines nationalistischen, faschistischen Zusammenschlusses - wenn auch die Widersprüche innerhalb der Eliten zwar derzeit durch Nationalismus kaschiert werden, keineswegs aber verschwunden sind.
Was aber möglich bleibt, ist eine antifaschistische Einheitsfront aller Gruppen, die gegen die AKP sind und ein einigermaßen fortschrittliches Gesellschaftsprojekt verfolgen. Ein solches müsste sich zum einen als zivilgesellschaftlicher Zusammenschluss aufstellen, zum anderen - getrennt davon - über bewaffnete Kräfte zum Selbstschutz verfügen. Auch für dieses Bündnis müssten sehr unterschiedliche Kräfte sich zusammenfinden. So ist es noch nicht gelungen, die kurdische Bewegung mit den Organisationen der cayanistischen Sozialismustradition auszusöhnen. (1) Auch gegenüber der LGTB-Community gibt es in so manch anderer Organisation noch Vorbehalte. Und viele der kleineren linken Gruppen müssten althergebrachte Konflikte mit anderen überwinden. Die während der Zeit der Gezi-Proteste politisierte urbane Jugend müsste ihre Angst überwinden und wieder sichtbarer werden.
Und dennoch: Ohne einen solchen Zusammenschluss bleibt ein großer Teil der türkischen Gesellschaft unsichtbar. Die Erzählung, es gebe nur zwei Fronten - hier die Gülen-Putschist_innen, dort das Lager der vereinigten Nationalist_innen - beschreibt die Situation im Land nicht zutreffend. Aber der dritte Pol muss sich erst als politische Kraft konstituieren und einen gemeinsamen Ausdruck finden.
Peter Schaber ist Redakteur beim Lower Class Magazine. Er schrieb in ak 614 über den Krieg in Kurdistan.
Anmerkung:
1) Mahir Çayan war ein Revolutionär und Mitbegründer der Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (THKP-C).