Was ist das für 1 Arbeiterklasse?
International Wer den Brexit eine »Revolte der Arbeiter« nennt, meint die weiße britische Arbeiterklasse. Aber was sagen Großbritanniens Migrant_innen?
Von Hsiao-Hung Pai
Ein paar Tage vor dem britischen Referendum über den Verbleib in der EU reiste ich zum Yarl's-Wood-Abschiebezentrum nach Bedfordshire. Ich wollte eine Freundin besuchen, die dort seit fünf Monaten in Abschiebehaft saß. Sie stammt aus einer südchinesischen Arbeiterfamilie und lebte hier bis Anfang des Jahres als Sprachstudentin. Im Zuge der von Innenministerin Theresa May angeordneten verschärften Razzien gegen Migrant_innen ohne Papiere wurde sie verhaftet. Damals jobbte sie gerade in einem China-Imbiss in Manchester.
Die Bedingungen in der Abschiebehaft verängstigten sie zusehends. Sie fragte mich, wie sich das Referendum wohl auf diejenigen auswirken werde, die nicht aus Großbritannien kommen.
Britannien beherbergt so viele Parallelgesellschaften. Während ich langsam die Hoffnung aufgab, meiner verhafteten Freundin helfen zu können, wurde das Leave-Ergebnis bekanntgegeben. Wähler_innen sangen, sie hätten sich »ihr Land zurückgeholt«. Politik und Medien erklären uns, dass dies eine »Revolte der Arbeiterklasse« sei, was mich irritiert. Wenn dem so ist, wer ist dann meine verhaftete Freundin, wer sind die Zehntausenden wie sie, die ihre Ersparnisse zusammenkratzen, um hierher zu reisen und den Lebensunterhalt ihrer Familien aufzubessern? Wer sind die Zehntausende Menschen, die sich entschieden haben, dieses Land zu ihrer Heimat zu machen? Und wer sind ihre Nachkommen, die als Brit_innen geboren und aufgewachsen sind und sich nun jeden Tag abmühen, um über die Runden zu kommen?
Offensichtlich meinen diejenigen, die »Arbeiterklasse« sagen, die weiße britische Arbeiterklasse. Kein Zweifel, dies war eine Anti-Establishment-Wahl. Ökonomische Unsicherheit und Entrechtung bildeten einen sehr realen Hintergrund für das Leave-Votum von vielen aus der weißen britischen Arbeiterklasse. Doch die Leave-Wahl ist zugleich eine fehlgeleitete Anti-Establishment-Wahl, die sich gegen vermeintliche »Außenseiter« in Großbritannien richtet: EU-Gastarbeiter_innen, Muslime und andere Minderheiten, Flüchtlinge und Asylsuchende. Viele weiße britische Arbeiter_innen wählten Leave, weil sie meinen, dass Arbeitsmigrant_innen - oder alle anderen, die »nicht dazugehören« - von der Entrechtung der weißen britischen Arbeiterklasse profitiert hätten.
Die Wahl hat die Arbeiterklasse entlang ethnischer Herkunft gespalten und unterschiedliche Gruppen von Arbeiter_innen gegeneinander in Stellung gebracht. Die Realität, die die Brexit-Befürworter_innen präsentieren, ist falsch. Viele ethnische Minderheiten und Arbeitsmigrant_innen sind ebenfalls ökonomisch unsicher und entrechtet. Zudem müssen sie täglich mit Rassismus und den Folgen der britischen Anti-Einwanderungspolitik fertig werden.
Was sagen die Arbeiter_innen in Londons Chinatown?
Ich begebe mich nach Londons Chinatown, um mit den Arbeiter_innen dort zu sprechen. So wie ihr Schicksal von der Einwanderungspolitik bestimmt wird, so ist es auch ihre Sicht auf den Brexit. Die chinesischen Arbeiter_innen, die sich hier niedergelassen haben und einen offiziellen Einwanderungsstatus besitzen, haben alle für »Remain« gestimmt. Eine chinesische Supermarktarbeiterin aus der Lisle Street erzählt mir, dass sie Angst davor habe, was der Brexit für »Leute wie sie« (Nichteinheimische) bringen werde. Für die, die keinen offiziellen Einwanderungsstatus haben, die Asylsuchenden, die auf eine Entscheidung über ihren Status warten und von denen die meisten in Restaurant- und Imbissküchen arbeiten, bedeutet der Brexit hingegen sehr wenig. Ein Mann, der als Küchenhilfe sein Geld verdient, sagt mir während seiner Pause vor der Restauranttür: »Wir haben hier keine Rechte, also macht Leave oder Remain keinen Unterschied für uns. Wir leben und arbeiten sowieso in getrennten Welten.«
Ein paar Schritte weiter sehe ich ein Dutzend ungarische Arbeiter eines chinesischen Supermarktes, angestellt für Verladearbeiten, sechs Tage die Woche. Die Jobs in Chinatown waren ihre ersten in Großbritannien. Weil sich Razzien und Kontrollen häuften und aus Angst vor hohen Strafen haben Arbeitgeber_innen papierlose Chines_innen schon vor Jahren durch EU-Arbeiter_innen ersetzt. Die nehmen die körperlich anstrengende Arbeit nur deshalb an, weil die Löhne zu Hause unerträglich niedrig sind. Ein Wochenlohn in London entspricht einem Monatslohn in Ungarn.
Doch jetzt sind sogar die Chinatownlöhne bedroht. Es sieht so aus, als ob den ungarischen Arbeiter_innen nun das blüht, was den Chines_innen widerfahren ist, die vor ihnen hier beschäftigt waren: Schon bald werden sie mit Aufenthaltskontrollen zu tun haben; die Jobunsicherheit wird noch zunehmen, falls es ihnen überhaupt gelingt zu bleiben. Sie sind sehr verunsichert angesichts der ungewissen Zukunft: »Wir haben Angst, dass wir zurückgeschickt werden«, sagt einer. »Wir wissen einfach nicht, was mit uns passieren wird. Alles kann passieren.«
Aber wenn man mit den Geschäftsleuten hier spricht, sind die Gefühle zum Brexit ganz andere. Eine Chinesin mittleren Alters, in erster Generation britisch, die ein großes Restaurant in der Gerrard Street betreibt, bezeichnet Großbritannien als »unser Land«. Sie berichtet: »Die Abstimmung fiel zufällig auf den Geburtstag meines Sohnes. Ich sagte ihm, dass er sich immer an diesen historischen Tag erinnern wird. Aber ich bin nicht wählen gegangen, weil es für mich keinen Unterschied macht. Mein Sohn und seine Generation denken anders. Sie stimmten Remain.«
Ich gehe in ein anderes Restaurant, Golden Phoenix, in derselben Straße. Der Manager Kenny Li ist für den Brexit. Er ist Brite, malaysisch-chinesische Herkunft, in zweiter Generation und managt dieses Restaurant seit drei Jahren. »Ich wollte, dass Großbritannien die EU verlässt, weil es gut fürs Geschäft ist«, erklärt er. »Ich habe auch aus persönlichen Gründen Leave gewählt - für die nächste Generation, für meine Kinder. Ich will, dass sie weniger Konkurrenz auf dem Arbeitsmark haben.«
Motivationsschub für Rassist_innen
Während Teile der chinesischen Händlercommunity den Brexit aus Geschäftsinteresse befürworten, sind andere britische Chines_innen besorgt um ihren Platz in der britischen Gesellschaft: ihre Rechte, ihre Sicherheit, ihr Wohlergehen. Sie haben den Eindruck, dass der Rassismus, den sie seit ihrer Ankunft hier erleben, durch das Referendum neuen Auftrieb bekommen hat.
Der in Hackney lebende Aktivist Jabez Lam hat als Mitarbeiter des Wohnungsamts seit über zwei Jahrzehnten mit Fällen rassistischer Angriffe auf britische Chines_innen zu tun: »In den Wochen vor dem Referendum haben wir gesehen, wie die Leave-Kampagne mit Plakaten und Fernsehspots ihre Botschaft zur Immigration verbreitete. Das unzureichende Gesundheits- und Bildungswesen, die schlechte Wohnungsversorgung, die hohe Arbeitslosenquote - an allem soll die Migration Schuld sein.« Lam denkt, dass Dekaden harter Integrationsarbeit und multikultureller Öffnung durch Hass und Intoleranz abgelöst wurden. »In den nächsten Monaten und Jahren werden ethnische Minderheiten mit mehr Feindseligkeiten und Hass rechnen müssen. Attacken und Übergriffe auf ethnische Einrichtungen wie Geschäfte und religiöse Stätten werden zunehmen.«
Viele Minderheiten- und Migrantencommunities sind bereit jetzt mit wachsendem Rassismus und Hassverbrechen konfrontiert. In Huntington in der Grafschaft Cambridgeshire wurden am Tag des Referendums Nachrichten mit der Aufschrift »Raus aus der EU, kein polnisches Ungeziefer mehr« in die Briefkästen polnischer Familien geworfen. Karten mit rassistischen Botschaften wurden in der Nähe von Grundschulen verteilt. Die Polish and Social Cultural Association im Westen Londons wurde mit rassistischen Schmierereien beschädigt.
Barbara Drozdowicz, Direktorin des Eastern European Advice Centre mit Sitz in London, erzählt mir: »Dass Rassismus salonfähig geworden ist, ist das größte Problem, mit dem wir seit der Leave-Wahl konfrontiert sind.« Der Brexit verstärke die erlebten Vorurteile, die fester Bestandteil des Arbeitslebens vieler Osteuropäer_innen in Großbritannien seien. »Wir erleben Rassismus am Arbeitsplatz, unsere Kinder werden in der Schule schikaniert - nur Wochen vor dem Referendum beging ein polnischer Teenager wegen rassistischer Schikanen an einer Schule in Cornwall Selbstmord.«
Drozdowicz sagt: »Weil Rassismus die alltägliche Erfahrung ist, sehen ihn viele Osteuropäer als Preis an, den du zahlen musst, um in Großbritannien zu arbeiten. Sie sehen es als die Norm in diesem Land. Deshalb zeigen sie rassistische Vorfälle kaum an und unternehmen auch nur selten etwas dagegen.«
Miqdaad Versi vom Muslim Council of Britain hat Berichte über mehr als 100 rassistische Vorfällen seit der Leave-Wahl gesammelt. »Früher waren die Täter meist Hassmailschreiber, die ihre ausländerfeindlichen Schlachten online austrugen, jetzt tauchen immer mehr Berichte über körperliche und verbale Angriffe im echten Leben auf«, heißt es in dem Bericht. Es ist klar, dass die rassistischen Vorfälle nicht allein gegen Menschen aus der EU gerichtet sind, sondern gegen alle, die als anders und »fremd« wahrgenommen werden, selbst wenn sie in Großbritannien geboren und aufgewachsen sind. Die Brexit-Kampagne versuchte, auch die Communities von Migrant_innen und ethnischen Minderheiten zu spalten und die Leute gegeneinander aufzuhetzen (Arbeiter_innen aus der EU gegen Arbeiter_innen aus Commonwealth-Ländern zum Beispiel). In Wahrheit teilen wir alle die Erfahrung des wachsenden Rassismus nach dem Referendum.
Nationalismus und Niederlage der Arbeiterklasse
Der Brexit ist keine »Arbeiterklassenrevolte«, aber er reflektiert sehr wohl die Geschichte der Niederlagen und der Entfremdung der britischen Arbeiterklasse. Zentral für diese Niederlagen war der Verfall der Organisationen der Arbeiterklasse. Der Nationalismus in den Gewerkschaften - wie er in der Idee »Britische Jobs für britische Arbeiter« zum Ausdruck kommt - scheint ein Symptom für diese Niederlage zu sein. Flexible und unsichere Beschäftigung ist die Norm für große Teile der weißen Arbeiterklasse, genauso wie für die Arbeiter_innen, die ethnischen Minderheiten angehören. Aber letztere sind oft zusätzlich mit rassistischer Diskriminierung am Arbeitsplatz und in Institutionen belastet. Für sie ist Imperialismus-Nostalgie keine Option.
Darren Carroll, ein Maler und Dekorateur aus Luton (Grafschaft Bedfordshire), den ich traf, als ich für mein Buch »Angry White People« recherchierte, war immer stolz darauf, zur Arbeiterklasse zu gehören. Er versteht sehr gut, wie die Abstimmung die Communities gespalten hat. »Wenn ich mit Leuten rede, dann weiß ich genau, dass es bei der Leave-Wahl vor allem um Immigration ging, nicht so sehr um die EU«, sagt er.
Darren hält das Anti-Einwanderer-Klima, das die Leave-Wahl erzeugt hat, für Gift. Es betrifft ihn auch ganz persönlich. »Die Verlobte meines jüngeren Sohnes kommt aus Litauen. Wegen des Referendums bewirbt sie sich jetzt um einen Job in Litauen. Das heißt, mein Sohn muss auch nach Litauen ziehen. Die Politiker erzählen uns gern, dass EU-Arbeiter in den nächsten zwei Jahren nichts zu befürchten haben. Es bedeutet nur, dass die Leute ihr Leben nicht mehr planen können«, sagt er. »Innerlich hat sie die Koffer längst gepackt, sie ist bereit für die Abreise. Und solange sie noch hier ist, muss sie mit der Angst vor den Feindseligkeiten leben und mit dem Gefühl, dass sie nicht willkommen ist.«
Hsiao-Hung Pai ist Journalistin und Autorin. Sie hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt »Angry White People: Coming Face-to-face with the British Far Right«. Ihre Website: hsiaohung.squarespace.com
Übersetzung: Renate Möller. Der Text ist eine leicht gekürzte Fassung des Artikels »When they call Brexit a working-class revolt, they mean the white british working class«, der am 11. Juli auf opendemocracy.net erschien. Wir danken opendemocracy.net für die Erlaubnis zum Nachdruck.