Meinung
Die Verunsicherung der Herrschenden
Burkaverbot, schnellere Abschiebungen, Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft. Das sind einige der »neuen« Vorschläge aus Reihen der AfD-panischen Union in der Sicherheitsfrage. Der Fall eines christlichen, in einer Militärfamilie sozialisierten 24-jährigen Kanadiers, der zum dschihadistischen Salafismus konvertierte und am 10. August von der Polizei erschossen wurde, zeigt einmal mehr, wie hilflos die im »Westen« vorherrschende Politik ist. Sie gaukelt Sicherheit vor, aber provoziert in Wirklichkeit durch Diskriminierung und Repression noch mehr Rassismus, Polarisierung und Entfremdung breiterer (muslimischer) Bevölkerungsteile.
Ein großer Teil der IS-Sympathisant_innen und Attentäter_innen waren und sind im Westen geborene Konvertit_innen zum dschihadistischen Salafismus. Mehr noch: Viele sind christlich sozialisiert worden. Das unterstreicht: Der Salafismus - sowohl in seiner dschihadistischen als auch in seiner nicht-dschihadistischen Variante - ist längst zu einer zentralen Gegenkultur und Oppositionsideologie in den »westlichen« Gesellschaften geworden: für die Perspektivlosen und Abgehängten im neoliberalen Kapitalismus, die über die Selbstunterwerfung unter die strenge, autoritäre, religiöse Doktrin ihrem Leben einen Halt geben wollen, weshalb gerade die von den Konservativen so geliebten Knäste zu einer Brutstätte des Salafismus unter Kleinkriminellen geworden sind; für diejenigen, die ihrem Hass auf die sie verachtende Mehrheitsgesellschaft und ihrer (selbst-)mörderischen Rachenahme eine ideologische Rechtfertigung verleihen wollen; und für die von der »Leistungsgesellschaft« nicht zuletzt sexuell überforderten und entfremdeten Männer in den abstiegsgefährdeten Mittelklassen.
Das zeigt: Die Terrorgefahr kommt keineswegs »von außen«, wie AfD und Co. uns weismachen wollen, sondern hat ihre Wurzeln in den Gesellschaften, in denen die IS-ler radikalisiert worden sind. Das heißt auch: Das Terrorismusproblem wird sich weder durch die kostspielige Illusion nationaler Abschottung noch durch stärkere, autoritäre Repression beheben lassen. Nicht »die Religion« oder gar »Zuwanderung« sind das Problem. Die »Religion« ist bloß ein ideologischer Behälter. Das Problem bei der Wurzel zu packen, hieße, die sozialen und politischen Ursachen anzugehen: die Perspektivlosigkeit in der unteren Arbeiterklasse, die Erosion der Mittelklassen, die allgemeine Ökonomisierung, Entsolidarisierung, soziale Entfremdung und den westlichen Imperialismus und seine Kriegspolitik. Kurzum, wir brauchen eine Debatte über die sozialen Bedingungen, die Menschen dazu bringen, sich von der bürgerlich-liberalen Gesellschaft ab- und dem Salafismus zuzuwenden.
So aber bekommen wir von Bundesinnenminister Thomas de Maizière und Co. eine Innen- und Sicherheitspolitik aufgetischt, die zum einen Ressourcen verschlingt, die anders, nämlich präventiv, besser einzusetzen wären, und die zum anderen die Probleme verschärft, die sie zu bekämpfen vorgibt. So werden härtere Gefängnisstrafen Kleinkriminelle erst recht in die Arme der Salafist_innen treiben und schnellere Abschiebungen in Folter und Tod die Ohnmacht und den Hass auf die deutsche Gesellschaft noch verstärken, denn vergessen wir nicht, dass auch der Ansbach-Mörder wenige Tage vor der Tat seinen Abschiebebescheid erhalten hatte. Das alles, was gerade in der Debatte diskutiert wird, hat nichts mit Sicherheitspolitik zu tun. Es ist Unsicherheits- und Verunsicherungspolitik.
Nun gibt es viele Menschen, die Politik nicht im Zusammenhang von Interessen, Macht und Herrschaft, sondern nur als Ideologie und Diskurs begreifen. Diese Menschen könnten nun meinen, die (konservativen) Bürgerlichen seien schlicht zu doof, um Einfühlungsvermögen und Perspektivübernahme walten zu lassen.
Aber de Maizière und Co. sind nicht doof. Das ist die herrschende Klasse, von der wir hier reden. Sie sind wahrscheinlich nicht einmal aus purer Angst vor dem Machtverlust opportunistisch, um kurzfristig-wahltaktisch vor der Bundestagswahl 2017 noch einige der AfD-Stimmen zur CDU/CSU zurückzuholen. Entscheidend ist: Es gibt unter den herrschenden Eliten einen breiten Konsens, dass es keine Alternative zu Marktorientierung, Austeritätspolitik und »marktkonformer Demokratie« geben darf. Deshalb bekommen wir eben diese hilflose Feuerlöschpolitik. Sie ist billig - und möglich, ohne an den herrschenden Machtverhältnissen zu rütteln.
Die Verunsicherungspolitik der Bundesregierung macht unser Leben nicht sicherer. Hierfür brauchen wir einen neuen Entwurf einer solidarischen und inklusiven Gesellschaft - einer, die die Menschen nicht zunehmend ihrem eigenen Marktschicksal überlässt, einer Gesellschaft, in der alle Menschen ein Recht auf Arbeit und soziale, politische und kulturelle Teilhabe haben.
Ingar Solty