Forschung und Legende
Geschichte Mit seinem neuen Buch will Markus Mohr die mit den Ereignissen von Entebbe im Juli 1976 verbundenen Erzählungen erschüttern
Von Jens Renner
Jitzhak Rabin (1922-1995), der damalige israelische Ministerpräsident, hat recht behalten: Die dramatischen Ereignisse von Entebbe würden Gegenstand von »Forschung, Dichtung und Legende« werden. Das sagte er Anfang Juli 1976, kurz nachdem auf dem Flughafen der ugandischen Hauptstadt mindestens 30 Menschen gewaltsam ums Leben gekommen waren. 40 Jahre später hat Markus Mohr ein Buch herausgegeben, das die mit Entebbe verbundenen Erzählungen erschüttern soll. Zusammen mit seinen Mitautor_innen - Freia Anders, Gerhard Hanloser, Vanessa Höse, Alexander Sedlmaier und Moshe Zuckermann - will er zeigen, »dass die als Tatsache erhobene Behauptung, es sei auf dem Flughafen von Entebbe zu einer Selektion zwischen Juden und Nichtjuden gekommen, Unfug ist.«
Damit entfiele der seit Jahrzehnten immer wieder erhobene Vorwurf gegen radikale westdeutsche Linke, sie hätten - in einer Art Wiederholungszwang - Ähnliches getan wie die Nazimörder an der Rampe von Auschwitz: Jüdinnen und Juden zu selektieren und zum Tode zu verurteilen. Dieser Vorwurf richtete sich nicht nur gegen die beiden in Entebbe beteiligten Mitglieder der Revolutionären Zellen (RZ), sondern gegen die antizionistische Linke insgesamt - weil linksradikaler Antizionismus und eliminatorischer Antisemitismus letztlich das Gleiche seien.
Zunächst die Fakten. Am 27. Juni 1976 entführte ein palästinensisch-westdeutsches Kommando die Air-France-Maschine auf der Route Tel Aviv-Paris. Zu den Entführern gehörten neben Kadern der Volksfront zur Befreiung Palästinas/Spezialkommando (PFLP-SC) auch Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann, Mitglieder der Revolutionären Zellen. Ziel der Aktion war die Freilassung politischer Gefangener: 40 in Israel, 13 in Frankreich, der Schweiz, Kenia und der BRD; zu letzteren zählten mehrere Militante der RAF und der Bewegung 2. Juni. Beim Einsatz einer israelischen Spezialeinheit auf dem Flughafen von Entebbe wurden am 4. Juli alle sieben Entführer_innen, drei Geiseln und mindestens 20 ugandische Soldaten getötet. Auch der Kommandeur der Israelis, Yonatan Netanyahu (der Bruder des amtierenden israelischen Ministerpräsidenten), kam ums Leben.
Uneindeutiger Befund
An den Anfang seiner Beweisführung stellt Markus Mohr einen Aufsatz der Historiker_innen Freia Anders und Alexander Sedlmaier, der schon 2013 im Jahrbuch für Antisemitismusforschung erschienen ist. (ak 591) Dieser Text, so Mohr, habe sein Buch »inspiriert« und fasse den Forschungsstand zu Entebbe zusammen. Dieser aber, schreiben Anders und Sedlmaier in ihrer Schlussbemerkung, sei »uneindeutig: Es ist möglich, dass einzelne Geiseln ohne israelischen Pass über die Freilassung der übrigen Geiseln hinaus gegen ihren Willen festgehalten wurden, und es ist wahrscheinlich, dass es auch zu Übergriffen gegen orthodox gekleidete Juden kam. Unzweifelhaft ist, dass israelische Staatsbürger, und damit auch Juden, festgehalten und mit dem Tode bedroht wurden. Zahlreiche Juden unter den übrigen Passagieren wurden jedoch freigelassen.«
So weit der mit der gebotenen Vorsicht formulierte Stand der zeithistorischen Forschung. Markus Mohr nennt als Antrieb für seine Fleißarbeit »emanzipatorisches Erkenntnisinteresse« - das natürlich politisch motiviert ist. Dagegen ist nichts einzuwenden - wenn denn die Fakten nicht zurechtgebogen werden. Allem Anschein nach lässt sich das keinem der Beteiligten vorwerfen - im Gegensatz zu vermeintlichen Koryphäen der linken Geschichtsschreibung wie dem Historiker Wolfgang Kraushaar vom Hamburger Institut für Sozialforschung. Der hatte noch 2007 den Schauplatz der angeblichen Selektion in das Innere des gekaperten Flugzeugs verlegt. In Wahrheit wurden die Geiseln im Flughafengebäude festgehalten. Unterteilt wurden sie nach ihren jeweiligen Ausweispapieren: Mit den festgehaltenen israelischen Staatsbürger_innen wollten die Entführer_innen den israelischen Staat erpressen und zur Erfüllung ihrer Forderungen zwingen.
Während die Regierung in Tel Aviv Verhandlungsbereitschaft signalisierte, bereitete sie insgeheim die gewaltsame Befreiung der Geiseln vor - mit dem bekannten Ergebnis. Gleichwohl wurde die Militäroperation nicht nur in Israel als Heldentat gefeiert. Heroisierende Bücher und Filme entstanden. Die einflussreichste Darstellung ist William Stevensons in viele Sprachen übersetztes Buch »90 minutes at Entebbe« - gemeint sind die 90 Minuten, die das israelische Kommando für seine Operation benötigte. Stevenson prägte das später dominierende Selektionsnarrativ, auch wenn einzelne der von ihm zitierten Zeugenaussagen dem widersprechen.
Linke Rückzüge
Über die Befunde von Anders und Sedlmaier hinaus gelingt es Mohr insbesondere, die lange Zeit kolportierte Version über die in Entebbe ermordete 75-jährige Geisel Dora Bloch zu erschüttern: Sie sei eine Holocaust-Überlebende und belgische Staatsbürgerin gewesen. Tatsächlich besaß sie die britische und die israelische Staatsbürgerschaft. Während der Nazi-Herrschaft lebte sie in Palästina. Ihre Mörder waren Soldaten im Auftrag des ugandischen Diktators Idi Amin.
Mit besonderer Verve widmet sich Mohr den Erzählungen des einstigen linksradikalen Streetfighters und späteren grünen Außenministers Joschka Fischer. Der hatte - mit einigem Abstand zu den Ereignissen - Entebbe zu seinem »Damaskuserlebnis« erklärt: Danach habe er »der Gewalt« abgeschworen. Mohr zeigt überzeugend, wie hier ein politischer Karrierist seine Biografie den Anforderungen des Machterwerbs angepasst hat.
Wichtiger als die Abrechnung mit dem grünen »Verräter« ist der Rückblick auf die innerlinken Debatten um Entebbe, wie sie vor allem 1991/92 geführt wurden. Ende Dezember 1991 veröffentlichten Mitglieder der Revolutionären Zellen eine Erklärung, beginnend mit den Worten »Gerd Albartus ist tot«. Albartus, RZ-Genosse, sei schon 1987 von einer palästinensischen Gruppe ermordet worden. In einem selbstkritischen Rückblick auf die eigene antiimperialistische Praxis sprechen die RZ in Bezug auf Entebbe von einer »Selektion entlang völkischer Linien«. Das und die RZ-Erklärung insgesamt wurde in der deutschen Linken zwar kontrovers diskutiert, ausführlich in den ak-Ausgaben 338 bis 345. Aber trotz gewichtiger Einwände setzte sich das Selektionsnarrativ weitgehend durch: Offensichtlich deckte es den Bedarf großer Teile der deutschen Linken an einer moralisch sauberen Begründung für den Bruch mit dem Antiimperialismus, wenn nicht mit gesellschaftsverändernder Politik überhaupt.
Eine lesenswerte Einordnung der zeitgenössischen innerlinken Positionen und Debatten liefert Gerhard Hanloser in seinem Beitrag »Der linke Antizionismus in Westdeutschland und Westberlin«. Über Entebbe schreibt er: »Eine Selektion im Sinne von Auswahl und Trennung hat es in Entebbbe sicherlich gegeben, und Opfer waren jüdische Passagiere, die kollektiv unter Todesdrohung standen. Gleichwohl ruft Selektion natürlich Assoziationen zu Auschwitz hervor. Und eben das bedeutet eine maßlose Enthistorisierung von Entebbe wie von Auschwitz, was den Anklägern des angeblich linken Antisemitismus, der sich lediglich als Antizionismus tarne, offensichtlich gar kein Problem zu sein scheint.« Bemerkenswert ist, dass Hanloser in einem früheren Aufsatz zum gleichen Thema noch recht unbekümmert von einer »Selektion von Juden und Nicht-Juden« geschrieben und darüber hinaus auch Mitglieder der Bewegung 2. Juni zu Mittätern gemacht hatte. (1) Dieser fehlerhafte Text ist aber nach wie vor der wichtigste »Beleg« für das auf Wikipedia kolportierte Selektionsnarrativ.
Wer künftig über »Entebbe« öffentlich reden oder schreiben will, wird um das Buch nicht herumkommen. Leider offenbart der Herausgeber in seinen eigenen Beiträgen, die etwa zwei Drittel des Gesamtumfangs einnehmen, einen Hang zu umständlichen Formulierungen; viele Rechtschreib- und Grammatikfehler in seinen offenbar unredigierten Texten stören den Lesefluss. Schade auch, dass er auf ein Fazit verzichtet. Ein solches findet sich am ehesten in dem Beitrag von Freia Anders und Alexander Sedlmaier. Völlig zu Recht stellen sie dem subjektiven Empfinden der Opfer die strengen Kriterien der Wissenschaft gegenüber: »Während die Erfahrungen, Assoziationen und Ängste der Opfer der Kritik enthoben sind, muss die politische Instrumentalisierung der Opferperspektive stets quellenkritisch hinterfragt werden.«
Anmerkung:
1) Bundesrepublikanischer Linksradikalismus und Israel - Antifaschismus und Revolutionismus als Tragödie und als Farce. In Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXXIII (2005): Antisemitismus - Antizionismus - Israelkritik.
Markus Mohr
ist ein linker Aktivist und Autor. Für sein Buch »Legenden um Entebbe. Ein Akt der Luftpiraterie und seine Dimensionen in der politischen Diskussion« hat er mehrere namhafte Co-Autor_innen gewinnen können: Freia Anders, Gerhard Hanloser, Vanessa Höse, Alexander Sedlmaier und Moshe Zuckermann. Erschienen ist das Buch im Juni 2016 im Unrast Verlag, Münster. Es hat 396 Seiten und kostet 19,80 EUR.