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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 619 / 20.9.2016

Aufgeblättert

Lateinamerikas Linke

Die Amtsenthebung von Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff besiegelte das Schicksal einer weiteren (tendenziell) linken Regierung in Lateinamerika. Der »progressive Zyklus«, der seit Ende der 1990er Jahre in mehreren Ländern des Kontinents eingesetzt hatte, scheint zu Ende zu gehen. Wie es dazu kommen konnte, ist das Thema der von Ulrich Brand herausgegebenen Flugschrift. Sie versammelt Interviews mit in sozialen Bewegungen verankerten Expert_innen aus Argentinien, Bolivien, Brasilien, Ecuador, Nicaragua und Venezuela. Einleitend gibt Brand einen Überblick über länderübergreifende Ursachen für die aktuelle Krise und die Kritik von links. Die Perspektiven für eine transformatorische Politik schätzt er dabei als schwierig ein. Diese Ansicht teilen auch seine Gesprächspartner_innen. In den Interviews wird deutlich, dass neben globalen Entwicklungen - wie dem Einbruch der Ressourcenpreise - vor allem auch »hausgemachte« Probleme für den Niedergang der linken Regierungen in Lateinamerika verantwortlich sind. Angesichts der reaktionären Alternativen stehen außerparlamentarische und radikalere Linke daher oft vor dem Problem, Regierungsprojekte verteidigen zu müssen, die nur noch das kleinere von mehreren Übeln darstellen. Ein abschließender Text diskutiert, inwiefern sich zur Frage eines linken Populismus in Europa vor allem aus den Fehlern der lateinamerikanischen Linken lernen lässt. Der schmale Band liefert einen anregenden Beitrag zu einer hochaktuellen Debatte.

Sarah Lempp

Ulrich Brand (Hg.): Lateinamerikas Linke. Ende des progressiven Zyklus? VSA Verlag, Hamburg 2016. 120 Seiten, 11 EUR.

Streik selbst gemacht

In den letzten Jahren hat sich eine lebhafte Diskussion über die Ausbreitung prekärer Arbeitsverhältnisse und die Notwendigkeit neuer Organisationsansätze und Instrumente des Arbeitskampfes entwickelt. Peter Nowak legt nun ein Sammelbändchen vor, das als Beitrag zu dieser Debatte aus aktivistischer Sicht gelten kann. Viele der hier versammelten Texte behandeln Beispiele aus Bereichen, die meist nicht mit Streiks in Verbindung gebracht werden. So geht es um Arbeitskämpfe von Sexarbeiterinnen, in einem Berliner Spätkauf, im Theater oder im Gefängnis. Die Autor_innen sind zumeist selbst Protagonist_innen dieser Kämpfe oder in Unterstützungsaktionen aktiv. Deutlich wird dabei, wie wichtig ein solidarisches Umfeld und die Auseinandersetzungen in der Gesellschaft sind. Daher geht es in dem Buch auch um die Verbindung von Arbeitskämpfen und sozialen Bewegungen in der jüngsten Zeit. Zu loben ist, dass die Beiträge sich nicht auf Deutschland beschränken, sondern sich, durch Beispiele aus Frankreich und Italien, in einen internationalen Kontext einordnen lassen. Es bleibt den Leser_innen allerdings selbst überlassen, die teils recht unterschiedlichen Beispiele miteinander in Beziehung zu setzen und Parallelen und Verbindungen herauszuarbeiten; die Einleitung des Herausgebers leistet dies nicht. Dennoch dürfte das Buch für all jene eine anregende Lektüre bieten, die sich aus erster Hand über neuere und teils ungewöhnliche Arbeitskämpfe informieren wollen.

Dietmar Lange

Peter Nowak (Hg.): Ein Streik steht, wenn mensch ihn selber macht. Arbeitskämpfe nach dem Ende der großen Fabriken. edition assemblage, Münster 2015, 112 Seiten, 7,80 EUR.

Eine Entdeckerin

Gerade wurde sie 87 Jahre alt: Luciana Castellina, italienische Kommunistin, Journalistin, von 1979 bis 1999 Abgeordnete im Europäischen Parlament, veröffentlicht auch im hohen Alter immer noch lesenswerte Kommentare zum Zeitgeschehen, vorzugsweise in der 1969 von ihr mitgegründeten Zeitung Il Manifesto. Ihre Erinnerungen »Die Entdeckung der Welt« beschränken sich auf die Zeit ihres Erwachsenwerdens, die sie anhand alter Tagebücher rekonstruiert. Die Rückschau beginnt an einem historischen Tag, dem 25. Juli 1943: Luciana ist 15 und spielt gerade mit Mussolinis Tochter Anna Maria Tennis, als die Nachricht vom Sturz des Duce ihren Ferienort Riccione erreicht. Der Krieg geht dennoch weiter, auch der Faschismus organisiert sich, gestützt auf die deutsche Besatzungsmacht, noch einmal neu. Was vorgeht, ist schwer zu verstehen für eine Tochter aus gutem Hause, die patriotisch fühlt und bislang linientreue Schulaufsätze geschrieben hat. Nur langsam und mit innerem Widerstand nähert sie sich der Linken. Im Oktober 1947 tritt sie in die Kommunistische Partei ein und wird für lange Zeit »ein unkritisches Parteimitglied«. Ihre »Ketzerei« beginnt erst später, unter dem Eindruck der 1968er Revolte und des Prager Frühlings. Die jetzt vorliegenden Jugenderinnerungen zeigen die Ernsthaftigkeit ihrer politischen Lebensentscheidungen. »Die Entdeckung der Welt« ist ein »antiheroischer Bericht« (La Repubblica), erzählt von einer ebenso mutigen wie selbstkritischen Protagonistin.

Jens Renner

Luciana Castellina: Die Entdeckung der Welt. Mit einem Vorwort von Lucrezia Reichlin. Laika Verlag. Hamburg 2016. 192 Seiten mit 20 Fotos. 21 EUR.

Moskau brutal

»Zähne, Hautfetzen, Blut fliegen in alle Richtungen. Ich bin ein Fünferkandidat aus der letzten Reihe, meine Klassenkameraden verachten mich, ich saufe und wichse.« Willkommen in der Welt von »Exodus«, dem Debütroman von DJ Stalingrad alias Piotr Silaev. Gewalt und Wut bestimmen den Alltag, die Protagonisten sind Skinheads, Hooligans, Punks und Anarchisten der Moskauer Szene. Sie gehören zu einer frustrierten Generation, die sich in Hinterhöfen und verdreckten Konzertkellern schlägt und durchschlägt, die alles aufs Spiel setzt, weil sie nichts zu verlieren hat: »Das Leben ist eine Pokerrunde und du hast ein totales Scheißblatt. In dieser Situation ist es richtig, vabanque zu spielen, alles zu setzen.« Das sind die Worte des namenlosen Protagonisten und Ich-Erzählers, Hardcore-Fan, Antifaschist, »Bullen«-Hasser und Ex-Straßenkämpfer, der als Mittzwanziger rückblickend seine Erinnerungen aufschreibt »um zu vergessen« - und dabei von einem Gewaltexzess zum nächsten springt. Dass das deutlich autobiographisch inspiriert ist, legt der Klappentext nahe, in dem von »etlichen militanten antifaschistischen Aktionen« Silaevs die Rede ist, der 2010 »auf einer landesweiten Fahndungsliste« landete und gegenwärtig in Spanien lebt. »Exodus« hat der 1985 geborene Autor 2011 unter einem Pseudonym veröffentlicht, das man programmatisch verstehen darf: Mit einer Rohheit, die ebenso fasziniert wie abstößt, mixt und montiert DJ Stalingrad die Fragmente einer postsowjetischen Jugend voller Selbst- und Welthass.

Stephanie Bremerich

DJ Stalingrad: Exodus. Aus dem Russischen von Friederike Meltendorf. Matthes & Seitz, Berlin 2013, 136 Seiten, 14,90 EUR.