Familiennachzug? Abgeschafft!
Deutschland Wie Geflüchteten das Recht auf Familienleben verweigert wird
Von Miriam Gutekunst und Sebastian Muy
Etwa 30 Geflüchtete aus Syrien hielten in diesem Sommer eine zehntägige Mahnwache vor dem Auswärtigen Amt in Berlin ab. Ihr Protest richtete sich gegen die zahlreichen bürokratischen Hürden beim Nachzug ihrer Familienangehörigen aus dem syrischen Kriegsgebiet.
Nach den Familiennachzugsregelungen des Aufenthaltsgesetzes haben anerkannte Flüchtlinge einen Rechtsanspruch auf Nachzug ihrer sogenannten Kernfamilie, sofern sie den Familiennachzug innerhalb von drei Monaten nach Erhalt des Anerkennungsbescheides beantragen. Bei der Verwirklichung dieses Rechts gibt es jedoch eine Reihe von Hindernissen. Um ein Visum zum Familiennachzug zu erhalten, ist eine persönliche Vorsprache bei einer deutschen Auslandsvertretung unumgänglich. Zuständig für die Anträge der syrischen Familien sind einige wenige deutsche Auslandsvertretungen in der Region - im Libanon, der Türkei, Jordanien, Nordirak und Ägypten.
Spätestens seit Anfang 2016 die Türkei die Visumspflicht für Syrer_innen eingeführt hat, ist der Libanon für viele betroffene Familien das einzige Land, zu dem sie realistisch Zugang finden können, um einen Visumsantrag bei der deutschen Botschaft zu stellen. Dort haben sich die Warte- und Bearbeitungszeiten in den letzten Monaten deutlich verlängert: Wer per E-Mail einen Termin beantragt, muss vier bis sechs Monate auf eine Terminmitteilung warten; der vergebene Vorsprachetermin liegt dann 15 Monate in der Zukunft; und nach der Vorsprache ist noch einmal mit einer Bearbeitungszeit von sechs Monaten zu rechnen.
Auch wenn die Unterlagen ohne jede Verzögerung vollständig eingereicht werden, beträgt die Zeit zwischen Terminantrag und Visumserteilung in Beirut also bereits 22 bis 24 Monate (Stand August 2016). Zählt man die Zeit der Flucht und des Asylverfahrens hinzu, wird deutlich, dass eine mehrjährige Familientrennung für die Betroffenen derzeit eher die Regel als die Ausnahme darstellt.
Nur noch subsidiärer Schutz
Seit März 2016 wird immer mehr Geflüchteten aus Syrien jedoch selbst der formale Rechtsanspruch auf Familiennachzug verwehrt. Im Herbst 2015 brachen Unionspolitiker_innen eine Debatte um die Aussetzung des Familiennachzugs vom Zaun. Hans-Peter Uhl (CSU) warnte im Zusammenhang mit dem Familiennachzug vor einer »ungeheuren Menge an Einwanderern«. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) verkündete am 6. November 2015, syrischen Geflüchteten werde in Zukunft Folgendes gesagt: »Ihr bekommt Schutz, aber den sogenannten subsidiären Schutz - das heißt zeitlich begrenzt und ohne Familiennachzug.« Trotz des Aufschreis des Koalitionspartners SPD und der Opposition wurde die zweijährige Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte im Februar 2016 mit dem Asylpaket II beschlossen.
Im Jahr 2015 wurde 101.137 Geflüchteten aus Syrien der Flüchtlingsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und nur 61 der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt. Hätte sich an der Entscheidungspraxis des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nichts geändert, hätte das Gesetz zur Aussetzung des Familiennachzugs also nur geringen Schaden angerichtet. Jedoch versandte das BAMF just am 17. März 2016, am Tag des Inkrafttretens des Asylpakets II, eine Weisung an seine Entscheider_innen, nach der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nun nicht mehr die Regelentscheidung für Asylsuchende aus Syrien sei. Nunmehr sei im Rahmen der Einzelfallprüfung festzustellen, ob Verfolgung im Sinne der GFK-Definition drohe oder lediglich eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts.
In den kommenden Monaten stieg der Anteil an Asylsuchenden aus Syrien, denen der Flüchtlingsstatus vorenthalten wurde, kontinuierlich an. Im Juli wurde erstmals mehr Antragsteller_innen aus Syrien der subsidiäre Schutz zuerkannt (13.288) als Flüchtlingsschutz (10.152). Pro Asyl kritisierte, die Schlechterstellung syrischer Asylsuchender beim gewährten Schutzsstatus entbehre jeglicher rechtlicher Grundlage und sei das Resultat politischer Einflussnahme auf das BAMF. An der katastrophalen Situation der Zivilbevölkerung und der Verfolgungsgefahr habe sich nichts geändert, so dass den Asylsuchenden weiterhin der Flüchtlingsstatus nach der GFK zustehe.
Familiennachzug und Migrationskontrolle
Beim Ehegatten-/Familiennachzug handelt es sich um einen der wenigen legalen Wege aus visumspflichtigen »Drittstaaten« in die Europäische Union. Die Beanspruchung des individuellen Rechts auf Schutz von Ehe und Familie war immer auch eine Reaktion auf restriktive Migrationspolitiken und Grenzschließungen. Schon in den 1970er Jahren nahmen Menschen, die als »Gastarbeiter« nach Deutschland gekommen waren, ihr Recht auf Familienzusammenführung in Anspruch - eine Reaktion auf den Anwerbestopp sowie Einschränkungen in den Einreisebestimmungen, wodurch es plötzlich nicht mehr möglich war, zwischen Deutschland und dem Herkunftsland hin und her zu reisen.
Als der Familiennachzug zunahm, reagierte die Regierung mit Restriktionen: Migrant_innen mussten nun mindestens acht Jahre in Deutschland gelebt haben und seit drei Jahren verheiratet sein, um ihren Partner oder ihre Partnerin in die Bundesrepublik nachzuholen. 1987 griff schließlich das Bundesverfassungsgericht ein und erklärte, dass diese Wartezeiten bis zu drei Jahren verfassungswidrig seien, nicht vereinbar mit Artikel 6 des Grundgesetzes. Erst vor wenigen Jahren stand der Ehegatten-/Familiennachzug bereits im Fokus restriktiver Maßnahmen. 2007 führte die Bundesregierung eine Sprachnachweispflicht für Ehepartner_innen aus »Drittstaaten« ein. Seitdem müssen Menschen aus bestimmten Ländern, die über den Ehegattennachzug zu ihrem Partner oder ihrer Partnerin nach Deutschland einreisen möchten, bei der Beantragung des Visums Deutschkenntnisse auf A1-Niveau nachweisen.
Die Entwicklungen um den Familiennachzug nach Deutschland spiegeln das Spannungsfeld wider, in dem diese Migrationspraxis stattfindet. Sie bewegt sich zwischen dem individuellen Recht auf Schutz von Ehe und Familie, der (vermeintlichen) Förderung von Integration und dem ordnungspolitischen Interesse, Migration zu kontrollieren und zu begrenzen.
Entsprechend sind die Familiennachzugsregelungen des Aufenthaltsgesetzes geprägt von einem engen, konservativen und realitätsfernen Familienkonzept. Der Anspruch auf Familienzusammenführung gilt nur für die sogenannte »Kernfamilie«, das heißt für Ehepartner und Ehepartnerin sowie für Eltern und ihre minderjährigen Kinder. Mit Erreichung der Volljährigkeit verliert etwa eine jugendliche Geflüchtete über Nacht den Anspruch auf Nachzug ihrer Eltern, da ihre familiäre Lebensgemeinschaft dann nicht mehr als durch Artikel 6 Grundgesetz geschützt angesehen wird. Nicht-eheliche Partnerschaften sind vom Rechtsanspruch auf Familiennachzug ausgeschlossen. Das trifft auch schwule und lesbische Partner_innen aus Ländern, in denen Homosexualität kriminalisiert wird und die deswegen überhaupt keine Möglichkeit haben, ihre Partnerschaft zu formalisieren.
Eine Frage des politischen Willens
Das Recht auf Familiennachzug ist fast der einzige legale Zugangsweg nach Deutschland, der Angehörigen von Geflüchteten aus Syrien überhaupt offen steht. Der Kreis der Anspruchsberechtigten wird durch die Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte bis März 2018 im Zusammenspiel mit der zunehmend restriktiven BAMF-Entscheidungspraxis immer weiter eingeschränkt. Jene, die als Kernfamilienangehörige anerkannter Flüchtlinge einen Rechtsanspruch auf Visumserteilung haben, müssen ein Antragsverfahren bewältigen, das sich gegenwärtig ungefähr zwei Jahre in die Länge zieht. So geraten Grund- und Menschenrechte von Geflüchteten und ihren Familien unter die Räder der deutschen Bürokratie.
Miriam Gutekunst ist Kulturanthropologin. Sebastian Muy ist Sozialarbeiter im Beratungs- und Betreuungszentrum für junge Flüchtlinge und Migrant_innen (BBZ).