Auf dem Weg zur Vertreibung
International Eine »Pufferzone« in Syrien hat die Zwangsumsiedlung von Kurd_innen zum Ziel
Von Songül Karabulut
Am 24. August 2016 marschierten türkische Streitkräfte gemeinsam mit islamistischen Einheiten der Freien Syrischen Armee (FSA) in die nordsyrische Grenzstadt Jarablus ein. Der offizielle Vorwand lautete, die Stadt vom sogenannten Islamischen Staat (IS) befreien zu wollen. Doch die Übernahme erfolgte kampflos: Der IS hat Jarablus freiwillig der Türkei und der FSA überlassen. Diese Offensive kam zu einer Zeit, zu der die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) die strategisch bedeutende Stadt Manbij nach 73 Tagen anhaltenden schweren Auseinandersetzungen eingenommen und die Vorbereitungen zur Befreiung von Jarablus aufgenommen hatten.
Ziel der SDF und der Administration Rojavas war und ist es, den IS komplett aus dem Norden Syriens zu vertreiben, ein zusammenhängendes Gebiet bis zum Kanton Efrîn im Nordwesten des Landes zu befreien und gemeinsam mit den Bewohner_innen der Region eine Selbstverwaltung innerhalb einer Demokratischen Föderation Nordsyriens aufzubauen. Vor diesem Hintergrund war für die Bevölkerung Rojavas von Anfang an klar, dass sich die Militäroffensive »Schutzschild Euphrat« nicht, wie behauptet, gegen den IS richtet, sondern gegen die Kurd_innen und gegen das Modell einer Demokratischen Föderation Nordsyriens.
Das von den Kurd_innen in Rojava begonnene Gesellschaftsprojekt ist kein »kurdisches« Projekt. Die Stärke Rojavas besteht nämlich gerade darin, dass es alle Volksgruppen der Region in die Selbstverwaltung einzubeziehen versucht. Jede gesellschaftliche Gruppe kann sich autonom in den Rätestrukturen organisieren und jede dieser autonomen Strukturen findet sich zugleich in den gemischten Administrationsstrukturen wieder. So soll gewährleistet werden, dass die Interessen aller Volksgruppen, Religionsgemeinschaften und weiterer gesellschaftlicher Gruppen in der Selbstverwaltung artikuliert und umgesetzt werden können.
Die Pufferzone zielt auf eine veränderte Demografie ab
Doch gerade dieses Modell, das für sich den Anspruch erhebt, als Leitbild eines zukünftigen Syriens zu dienen, ist der Türkei ein Dorn im Auge. Seit 2011 versucht die Regierung in Ankara mit allen Mitteln die Umsetzung und Ausbreitung dieses Gesellschaftskonzepts entlang ihrer Grenzen im Norden Syriens zu unterbinden. Die zur Verfügung stehenden Mittel sind vielfältig: Die Durchsetzung eines wirtschaftlichen Embargos, die Unterstützung dschihadistischer Gruppen im Kampf gegen Rojava, der direkte Einsatz des eigenen Militärs im Norden Syriens, Instrumentalisierung der Flüchtlinge im Kampf gegen die Selbstverwaltung und jedweder diplomatischer Verkehr, um Bündnisse gegen Rojava zu schmieden, gehören zu den Methoden, deren Anwendung wir in den letzten Jahren beobachten konnten. Als eine neue Methode kann eine zu erwartende Umsiedlungspolitik seitens der Türkei und ihrer FSA-Bündnispartner gelten.
Auf die Frage, ob die Türkei im Norden Syriens eine Pufferzone errichten möchte, erklärte der Co-Vorsitzende der syrischen Partei der Demokratischen Union (PYD), Salih Muslim, jüngst in einem Interview: »Ja, natürlich, darauf zielt sie ab. Aber es gibt keine Aussicht auf Erfolg. Denn das Ziel dieser Pufferzone ist es, die Demografie in dieser Region zu verändern. Die Kurden sollen dort vertrieben und anstatt ihrer andere Gruppen dort angesiedelt werden.« Ist diese Behauptung haltbar oder fehlt ihr die Grundlage?
Seit dem Abkommen von Sykes-Picot vor hundert Jahren setzen sowohl die arabischen Besatzungsmächte im Irak und in Syrien als auch die Türkei den Eingriff in die Demografie als Waffe gegen das kurdische Volk ein. Die veränderte Demografie war stets zentraler Bestandteil der Zwangsarabisierung beziehungsweise Zwangstürkisierung der kurdischen »Minderheit« im Lande. Kurdische Mehrheiten in Teilen des Staatsterritoriums sollten in Minderheiten verwandelt und durch die Ansiedlung von Araber_innen beziehungsweise Türk_innen die übrige kurdische Bevölkerung unter Kontrolle gehalten werden. Als Mittel zur Umsetzung dienten sowohl die Zwangsvertreibung von Kurd_innen als auch eine strukturelle Vernachlässigung der Regionen, die zur freiwilligen Binnenmigration der Kurd_innen in arabische oder türkische Metropolen führen sollte. Neu wäre nun, dass eine Besatzungsmacht, die Türkei, im Territorium einer anderen Besatzungsmacht, Syrien, diese Politik aktiv umsetzt.
Historische Kontinuitäten
Für die Umsiedlungspolitik der Besatzermächte im geografischen Raum Kurdistan gibt es zahlreiche geschichtliche Beispiele. Im Irak setzte das Baath-Regime die Arabisierungspolitik gegen die Kurd_innen vor allem in den erdölreichen kurdischen Gebieten um. Mehr als eine Million Kurdinnen und Kurden wurden zwischen 1976 und 1987 aus etwa 2.500 Dörfer zwangsumgesiedelt. An ihrer Stelle wurden Araber_innen aus anderen Teilen des Iraks angesiedelt. So wurden Gebiete, die ursprünglich kurdisch waren, durch die Arabisierungspolitik demografisch nachhaltig verändert. Nach dem Sturz des Baath-Regimes durch die US-amerikanische Intervention kam es zu Streitigkeiten zwischen der Zentralregion von Bagdad und der kurdischen Autonomieregion im Norden des Iraks, welche Gebiete nun kurdisch sind und welche nicht. Die Frage ist noch immer nicht gelöst, denn wer die strittigen Gebiete kontrolliert, kontrolliert wie in Kirkuk oder der Umgebung von Mossul auch große Erdölreserven. Dass zwischenzeitlich der IS weite Teile der umstrittenen Gebiete unter seine Kontrolle gebracht hat, ändert nichts an der Tatsache, dass sich Bagdad und Erbil, die Hauptstadt der kurdischen Autonomieregion im Norden des Iraks, weiterhin in dieser Frage im Clinch befinden.
In Syrien haben wir heute eine Landkarte vor uns, in welcher sich im Norden des Landes kurdische und arabische Gebiete abwechseln. Die Geschichte der syrischen Kurd_innen ist stark durch die Auflösung des Osmanischen Reiches geprägt. Sie besiedelten hauptsächlich das Grenzgebiet zur Türkei. 1965 entwarf das syrische Baath-Regime die Politik des »arabischen Gürtels«, die ab 1973 entlang der türkischen Grenze umgesetzt wurde. Der Gürtel war 350 Kilometer lang und zehn bis 15 Kilometer breit und hatte den Zweck, das zusammenhängende Kurdengebiet im Norden des Landes aufzulösen. Beduinische Araber_innen wurden in die kurdischen Gebiete umgesiedelt, alle Ortsnamen wurden arabisiert und große Teile der kurdischen Bevölkerung enteignet. Durch den Entzug der Staatsangehörigkeit für viele Kurdinnen und Kurden in Syrien konnten diese auch kein neues Grundeigentum erwerben. Aufgrund dessen und des allgemeinen ökonomischen Drucks emigrierten Hunderttausende Kurd_innen in den Folgejahren nach Aleppo oder Damaskus.
Siedlungspolitiken sind Assimilationspolitiken
Auch in der Türkei gehörten Deportation und Umsiedlung zu den Grundpfeilern der Assimilationspolitik. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden den Kurd_innen jegliche Rechte abgesprochen und zwischen 1925 und 1938 kam es allein im Staatsgebiet der Türkei zu etwa 20 kurdischen Aufständen, die allesamt blutig niedergeschlagen wurden. Infolge der Zerschlagung des Aufstandes 1925 wurde am 24. September desselben Jahres im türkischen Parlament ein Reformplan für die Osttürkei, der »Sark Islahat Plan«, als Gesetz verabschiedet. Dieser Plan umfasste 25 Artikel, welche die Bekämpfung der Kurd_innen und Zwangsumsiedlungen in großem Umfang vorsah. Die darauf aufbauende Assimilationspolitik wird von kurdischer Seite auch als »weißer Genozid« bezeichnet; nach dem letzten gescheiterten kurdischen Aufstand 1938 in Dersim verstärkte die Türkei diese Politik.
So wurden beispielsweise türkische Nachnamen eingeführt. Vielerorts entschied der Staatsbeamte in den kurdischen Siedlungsgebieten selbst, welche Familie welchen Nachnamen erhalten sollte. So kamen viele kurdische Familien zu Nachnamen wie Öztürk (wahrer Türke), Türkoglu (Sohn eines Türken) oder Bozkurt (mythischer Wolf in türkischer Nationalmythologie und Namensgeber der Grauen Wölfe). Kurdische Ortsbezeichnungen wurden durch türkische Namen ersetzt; und es kam zu Umsiedlungen und Deportationen.
Die historische Erfahrung zeigt, dass hinter der seit Jahren geforderten Pufferzone in Nordsyrien tatsächlich eine den aktuellen Umständen angepasste Umsiedlungspolitik gegen die Kurd_innen steckt, mit der verhindert werden soll, dass in Nordsyrien ein zusammenhängendes Verwaltungsgebiet entsteht. Mit Beginn des syrischen Bürgerkriegs erklärte Erdogan immer wieder, man werde nicht den gleichen Fehler wie im Irak wiederholen, und meinte wörtlich: »Wir werden nicht zulassen, dass Syrien ohne uns umgestaltet wird und die Kurden im Norden ihre Autonomie ausrufen.« Schon im März 2012 sprach sich die Türkei für eine Pufferzone auf syrischem Territorium aus. Die Rechnung der Türkei ging nicht auf; ihre aggressive Politik führte dazu, dass sie mehr und mehr ihren anfänglichen Einfluss in der arabischen Welt und in der Region einbüßte. Vor allem ihre antikurdische Politik in Syrien und die daraus entstandene Zusammenarbeit mit dem IS trug dazu bei, dass sich die Beziehungen zu den traditionellen türkischen Bündnispartner immer schwieriger gestalteten. Ein Höhepunkt war erreicht, als im November 2015 die Türkei einen russischen Kampfjet abschoss. Nachdem die Türkei erkennen musste, dass ihre Hegemonialbestrebungen gescheitert waren, vollzog sie in ihrer Außenpolitik eine Wende um 180 Grad.
Vor allem nach dem gescheiterten Militärputsch vom Juli ist ihr wichtigstes Ziel, mit allen Mitteln zu verhindern, dass die Kurd_innen in Syrien und in der Türkei weitere Erfolge verzeichnen. So hat sie ihre Beziehungen zu Russland, Israel und dem Iran verbessert und hierfür im Gegenzug von ihrer ursprünglichen Forderung, Assad müsse in Syrien in jedem Falle gehen, Abstand genommen. Ihr geht es darum, ein internationales antikurdisches Bündnis auf die Beine zu stellen. Sowohl die jüngsten Angriffe des Assad-Regimes auf die Kurd_innen in der Stadt Hesekê, die im Übrigen von der türkischen Regierung ausdrücklich begrüßt worden sind, als auch die aktuelle Intervention der Türkei im Norden Syriens sind in diesem Kontext zu sehen.
Die Türkei benutzt die 3,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien, um ihr Vorhaben dem Westen gegenüber zu verkaufen. Sie erklärt, dass die Pufferzone dafür benötigt werde, die Flüchtlinge dort unterzubringen und sie daran zu hindern, weiter Richtung Westen zu fliehen. So seien die Flüchtlinge »sicher« in Syrien untergebracht. Gleichzeitig wäre eben dadurch langfristig im geographischen und im übertragenen Sinne ein Keil in das Projekt Rojava eingeschlagen worden, und das mit internationaler Unterstützung. Auch innenpolitisch versucht Erdogan mit dem Plan mehr als 300.000 Syrer_innen einzubürgern, insbesondere die Demografie in der kurdischen Region zu verändern und seine AKP so zu stärken. Zugleich mussten mehr als 500.000 kurdische Binnenflüchtlinge die Region aufgrund der Zerstörung ihrer Städte durch türkische staatliche Kräfte verlassen.
Songül Karabulut ist Exekutivratsmitglied und eine der Sprecher_innen der Kommission für Auswärtige Angelegenheiten des Kurdischen Nationalkongresses (KNK). Im KNK sind mehr als 50 kurdische Parteien und Institutionen organisiert.