Wenn »Selbstbestimmung« nicht mehr weiterhilft
Gender Feministische Slogans sind keine Wunderwaffe gegen die Methoden der Pränataldiagnostik
Von Kirsten Achtelik
Am 17. September war es wieder soweit: Der »Marsch für das Leben« zog durch Berlin. Mehrere Tausend »Lebensschützer« demonstrierten mit einem Schweigemarsch gegen Abtreibung. Die Proteste gegen diese Märsche erfreuen sich in linken und (queer)feministischen Kreisen zunehmender Beliebtheit. Den radikalen Abtreibungsgegner_innen hauptsächlich mit der Parole des »Rechts auf Selbstbestimmung« begegnen zu wollen, ist jedoch eine problematische Strategie.
Politisch aktive Abtreibungsgegner_innen rekrutieren sich aus einem konservativen bis rechten, christlichen Milieu. Die »Lebensschützer« als Bewegung eint die Annahme, dass »das Leben« mit der Vereinigung von Eizelle und Samenzelle beginnt und unbedingt schützenswert ist. Der Abbruch einer Schwangerschaft, die Verhinderung der Einnistung der befruchteten Eizelle zum Beispiel durch die »Pille danach« oder auch die Nichteinpflanzung oder Zerstörung eines Embryos im Labor gelten ihnen als inakzeptable Tötungsvorgänge.
Seit 2002 findet der »Marsch für das Leben« in Berlin unter dem Motto »Ja zum Leben - für ein Europa ohne Abtreibung und Euthanasie!« statt. Bei der als Schweigemarsch durchgeführten Demonstration werden ein Meter hohe weiße Holzkreuze und vom organisierenden Bundesverband Lebensrecht (BVL) vorgefertigte Schilder im einheitlichen Design mitgeführt. Auf letzteren wird zunehmend nicht mehr nur Abtreibung, sondern ein breiteres biopolitisches Themenfeld bespielt: Kritisiert werden die Selektion von als behindert diagnostizierten Föten und als »Euthanasie« bezeichnete Sterbehilfe. Radikale Abtreibungsgegner_innen versuchen, sich als wichtigste Kritiker_innen an Pränataldiagnostik darzustellen und diese Kritik im öffentlichen Bewusstsein möglichst untrennbar mit dem Konzept des »Lebensschutzes« zu verknüpfen: Bei dem letztjährigen Marsch wurde mit dem Spruch »Inklusion beginnt schon vor der Geburt« das vorrangige behindertenpolitische Ziel der gesellschaftlichen Inklusion behinderter Menschen mit einer Kritik an Abtreibung verbunden.
Die pränatale Diagnosespirale setzt vielen Frauen zu
Eine Schwangere, die nicht schwanger sein will und kein Kind bekommen will, kann heutzutage in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen zwar straffrei abtreiben. Bei der 1995 erfolgten letzten Reform des Abtreibungsparagraphen 218 stellte das Bundesverfassungsgericht allerdings fest, es gebe eine »grundsätzliche Pflicht zum Austragen des Kindes«, daher wäre auch eine grundsätzliche Strafbarkeit notwendig.
Eine Frau, die schwanger ist und das Kind bekommen möchte, ist hingegen ganz anderen Zumutungen unterworfen. Schwangere werden heutzutage in eine pränatale Diagnosespirale hineingezogen; das Angebot an Untersuchungen dient vermeintlich dem Wohl des späteren Kindes und wird nur von wenigen Schwangeren hinterfragt. Alle pränatalen Untersuchungen durchgeführt zu haben, gilt zunehmend als verantwortungsvoll; gemeint ist die Verantwortung, dem zukünftigen Kind optimale Startchancen bieten zu müssen. Damit wächst der Druck auf die werdende Mutter, alles richtig zu machen; damit verbunden sind oftmals Schuldgefühle. Sie erhofft sich von den pränatalen Untersuchungen die Bestätigung, dass das Kind nach der Geburt gesund sein wird, dass »alles in Ordnung« ist. Diese Sicherheit können die Untersuchungen de facto jedoch gar nicht liefern.
Die ärztliche Frage an die Untersuchungen ist zudem eine ganz andere: Was ist nicht in Ordnung, gibt es Auffälligkeiten oder Abweichungen von festgelegten Wachstumsparametern? Wenn es Hinweise auf eine Behinderung gibt, motiviert die Sorge um das werdende Kind dazu, weitere invasive Untersuchungsmethoden anzuwenden. Allerdings schließt sich einer ärztlichen Diagnose normalerweise ein Behandlungsvorschlag an. Eine pränatale Therapie des Fötus ist aber nur in äußerst seltenen Fällen möglich. Die Diagnose einer Behinderung führt daher in der Logik der pränatalen Untersuchungen zu der Frage, ob man das Kind unter diesen Voraussetzungen bekommen will. 1995 wurde die sogenannte embryopathische Indikation aufgrund der Intervention von Behindertenverbänden und Kirchen gestrichen. Die Indikation für einen Abbruch ist nun nicht mehr die erwartete Schwere der Behinderung des Fötus, sondern die Annahme einer dadurch ausgelösten Gefährdung der psychischen Gesundheit der Frau.
Die neuen nicht invasiven Pränataltests versprechen, mit aus dem Blut der Schwangeren gefilterter DNA des Fötus die Wahrscheinlichkeit einer Trisomie oder »Abweichung« der Geschlechterchromosomen bestimmen zu können. Wie so oft wird angeboten, was technisch möglich ist. Die Schwangere wiederum schließt aus dem Vorhandensein des Angebots, dass die Information für sie relevant ist. Zurzeit sind die Tests Selbstzahlerleistungen, seit August prüft aber der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), ob die Tests auf Trisomien regelhaft von den Krankenkassen übernommen werden sollen. Argumentiert wird mit der hohen Qualität der Testergebnisse im Vergleich zu den bisher verfügbaren Verfahren: Die Zahl der invasiven Fruchtwasseruntersuchungen, die mit einem Fehlgeburtsrisiko verbunden sind, würde mit einer breiten Inanspruchnahme deutlich sinken. Das Wissen um Abweichungen und Behinderungen ist dieser Logik zufolge per se gut, vermieden werden soll allerdings der »Kollateralschaden« der Fehlgeburten »gesunder Kinder«. Diese Tests können nicht kritisiert werden, ohne die gesamte Logik der pränatalen Diagnostik infrage zu stellen.
Selektive Abbrüche sind ein gesellschaftliches Problem
Für die Schwangeren, die dieses Wissen haben wollen, sind die Test wohl besser als die aktuelle Praxis, da sie genauer sind als die bisherigen Wahrscheinlichkeitsrechnungen und schonender als die invasiven Diagnosemöglichkeiten wie Fruchtwasseruntersuchungen. Es stellt sich also die Frage, ob die Krankenkassen für einen Test aufkommen sollen, der selektiv für bestimmte Behinderungen testet, wenn mit diesem Wissen nichts anderes anzufangen ist, als über einen Schwangerschaftsabbruch nachzudenken.
Bedeutet die Möglichkeit, eine solche Entscheidung treffen zu können, Selbstbestimmung über den eigenen Körper, wie sie als feministischer Begriff definiert wird? Was bedeutet es überhaupt, sich ein Leben mit einem behinderten Kind so konkret wie möglich vorstellen zu müssen, um dann zu entscheiden, ob man das wohl schaffen wird? Mit der Diagnose Behinderung scheint das ganze »Projekt Kind« nur noch auf diese Behinderung zusammenzuschrumpfen. Die werdende Mutter kann sich meist nur noch vorstellen, was ihr Kind alles nicht können und nicht machen wird. Eltern von Kindern mit einer Behinderung bekommen nach wie vor zu wenig gesellschaftliche Unterstützung. Der erwartete erhöhte Betreuungs- und Förderbedarf für das Kind führt nicht selten zu einer eingeschränkten Berufstätigkeit; angesichts des gesellschaftlichen Versagens, behinderten Menschen und ihren Eltern eine reale Teilhabe zu ermöglichen, entscheidet die Schwangere sich häufig dafür, die eigene gesellschaftliche Teilhabe nicht durch die Geburt eines behinderten Kindes zu verringern. Dies ist allerdings offensichtlich kein individuelles Problem, dem man medizinisch begegnen müsste oder könnte.
»Selbstbestimmung« ist kein eindeutiger Begriff
Der vermeintliche feministische Selbstbestimmungskonsens, der als Antwort auf solche Fragen nur ein »Mein Bauch gehört mir« anzubieten hat, greift deutlich zu kurz. In diesen Fällen geht es ja eben nicht um eine ungewollte oder ungeplante Schwangerschaft, in denen es das Recht einer Frau sein sollte, zu entscheiden, ob sie (noch) ein Kind haben will oder kann. Vielmehr geht es um eine bereits angenommene Schwangerschaft, um einen schon gedanklich zum Kind gewordenen Fötus, zu dessen angeblichem Wohl die Untersuchungen ursprünglich überhaupt erst vorgenommen wurden. Es ist ein Unterschied, ob eine Frau gar kein Kind haben will oder dieses Kind nicht mehr haben will. Die Entscheidung darüber einzufordern, »welche« Kinder Frauen bekomme wollen, mag im individuellen Fall verständlich sein, besonders emanzipatorisch ist sie jedoch nicht. »Selbstbestimmung« ist kein eindeutig emanzipatorischer, positiver Begriff, sondern ein ambivalenter, der in Richtung neoliberal optimierter Selbstverwertung und konsumistischer Wunscherfüllung offen ist. Diese individualistischen und neoliberalen Implikationen des Begriffs beeinträchtigen sein Potenzial, zur radikalen Veränderung gesellschaftlicher, sozialer und ökonomischer Machtverhältnisse beizutragen. Über dieses Problem gab es bereits in den 1980er Jahren breite Debatten zwischen der Behinderten- und der Frauenbewegung.
Diskussionen darum, wie der Instrumentalisierung behinderten- und biopolitischer Themen durch die radikalen Abtreibungsgegner_innen wirksam entgegengetreten werden kann, oder darüber, wie emanzipatorische feministische Positionen zu Behinderung, pränataler Diagnostik und selektiven Schwangerschaftsabbrüchen aussehen könnten, sind in den Mobilisierungen gegen die diversen »Märsche für das Leben« immer noch marginal. Durch die wachsende Mobilisierung wertkonservativer Kräfte - von den »besorgten Eltern«, »Demos für Alle«, den Wahlerfolgen der AfD bis hin zu den »Märschen für das Leben« - ist die Versuchung groß, alle linken, feministischen und emanzipatorischen Kräfte unter dem Label der Selbstbestimmung sammeln zu wollen, da es vermeintlich den größtmöglichen inhaltlichen Gegensatz zu diesen Zugriffen auf den (Frauen-)Körper bietet. Die Kritik an einer neoliberalen Biopolitik wird leichtfertig konservativen bis reaktionären Kräften überlassen, Verbindungen mit der sich in den aktuellen Protesten gegen das Bundesteilhabegesetz neu formierenden Behindertenbewegung gibt es kaum. Die ambivalenten und problematischen Konnotationen des Selbstbestimmungskonzeptes sollten nicht zum vermeintlichen Wohl der gemeinsamen Sache und zugunsten des scheinbar größtmöglichen Bündnisses ausgeblendet werden.
Kirsten Achtelik ist Autorin des Buches »Selbstbestimmte Norm«, das 2015 im Verbrecher Verlag erschienen ist. Mehr unter www.kirsten-achtelik.net.